9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2021. Can Dündar porträtiert in einer neuen SZ-Serie nach Deutschland geflüchtete Türken der jüngeren Generation, heute den Journalisten Erk Acarer. Welt und SZ gucken entgeistert die Videos der coronaskeptischen Aktion #allesaufdenTisch. Wenig Effekt hat der "Google News Showcase" auf die digitale Reichweite der Zeitungen, konstatiert Netzpolitik - aber das Geld fließt weiter. Den Brexiteers fällt der Brexit gerade auf die Füße, konstatiert Ian Dunt in der Washington Post angesichts der anhalten britischen Benzinkrise. Unterdessen wartet der Berliner Bezirk Charlottenburg/Wilmersdorf, wo die Stimmen geschätzt wurden, auf die Wahlbeobachter*innen der OSZE, fürchten taz, RBB und andere Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.10.2021 finden Sie hier

Europa

Solche Schlagzeilen wie hier von der Website des RBB, produziert in Deutschland wohl nur das Land Berlin: "Das Wahlamt von Charlottenburg-Wilmersdorf hat für die Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung für mehrere Wahllokale identische Wahlergebnisse gemeldet. Der Bezirkswahlleiter räumt ein: Diese vorläufigen Zahlen sind geschätzt." Der RBB hat gleich drei Reporter auf das Thema angesetzt. Es ist möglich, dass "in einigen Stimmbezirken die Wahl wiederholt werden muss", berichtet Gareth Joswig in der taz. Und "Wahlbeobachter*innen der OSZE haben vom Chaos Notiz genommen".

Neuwahlen will Timm Beichelt, Professor für Europastudien, im Tagesspiegel auch nicht ganz ausschließen. Denn in einigen Wahlkreisen fiel der für die Direktmandate ausschlaggebende Vorsprung äußerst knapp aus: "Bei um die 30.000 Wahlberechtigten pro Wahlkreis braucht es nicht viel, um solche Abstände umzudrehen. Könnten es vielleicht überwiegend ältere oder schwächere Menschen gewesen sein, die keine lange Wartezeit in Kauf nehmen wollten? Bedingen andere Faktoren, dass sich die Störungen nicht zufällig verteilt haben, sondern auf bestimmte Gruppen oder Orte konzentriert waren? Verzerrungen sind in allen Wahlkreisen nicht auszuschließen, in denen die Ergebnisse sehr knapp waren, und es gibt einige davon."

Annalena Baerbock und die Grünen haben im Wahlkampf zwei Fehler gemacht, schreibt Jagoda Marinic in der SZ. Sie haben die Emanzipation und die Gleichstellung nicht mehr zum Thema gemacht und übersehen, "wie sehr sich durch Corona die Stimmung im Land verändert hatte. Der Aufbruch ins Neue, noch vor einem Jahr ein attraktives Versprechen, ist mit einer pandemiemüden Gesellschaft schwieriger. Nach vier Monaten Teil-Lockdown im Winter wünschten viele sich mehr Freiheit und nicht die nächste Phase der Regulierungen. Den Freiheitshunger wusste die FDP für sich zu nutzen, die Grünen und ihre Kanzlerkandidatin übersahen ihn."

Brexiteers versicherten im Jahr 2016, dass alles glatt gehen würde, dass Freihandel herrschen würde und an den Grenzen keine Reibung entstünde. Es war vorhersehbar, dass es anders kommt, schreibt der britische Journalist Ian Dunt in einem Überblick für die Washington Post. Aber der Brexit wurde von Brexiteers als ein Bekenntnis gesehen, von dem man sich nicht durch realistische Erwägungen ablenken lassen durfte: "Die Brexit-Befürworter hatten versprochen, dass Großbritannien durch den Austritt aus der EU 'die Kontrolle zurückbekommen' würde. Tatsächlich aber sind die Kontrollen bisher nur einseitig. Unter dem Druck des neuen Systems war das Vereinigte Königreich gezwungen, das Datum, ab dem es selber Einfuhrkontrollen für Waren aus Europa einführen würde, immer wieder zu verschieben. Zunächst wurde er auf April 2021 verschoben, dann um sechs Monate und schließlich erneut auf Januar 2022. Es ist gut möglich, dass sie nie eingeführt werden." Am gravierendsten aber, so Dunt, ist, dass viele EU-Ausländer Britannien wegen ihres neuen unklaren Status und auch wegen Corona verlassen haben - wofür das Land jetzt mit der Benzinkrise bezahle.

Zum 60-jährigen Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens stellt Can Dündar in einer neuen SZ-Serie nach Deutschland geflüchtete Türken der jüngeren Generation vor, heute den Journalisten Erk Acarer, der mit seiner Familie nach Berlin floh, weil ihm in der Türkei vorgeworfen wird, "dokumentiert zu haben, dass die türkische Regierung Materialien an die Dschihadisten in Syrien geliefert hatte, die sich zur Herstellung des Giftgases Sarin eignen." Aber Erdogans Arm reicht bis Berlin, schreibt Dündar: "Im vergangenen Juli saß er eines Abends mit seiner Frau im Hof ihres Wohnblocks, als drei stämmige Männer hereinkamen und auf ihn losstürmten. Noch ehe er begriff, was geschah, versetzte einer von ihnen Erk einen Fausthieb mit den Worten: 'Du sollst nicht mehr schreiben!' Erk ging zu Boden, seine Frau versuchte, die Angreifer aufzuhalten. Es hagelte Faustschläge und Fußtritte."

Außerdem: Die Publizistin Carolin Emcke und die Migrationswissenschaftlerin Manuela Bojadžijev haben zusammen mit einem Team das Oral-History-Projekt "Archiv der Flucht" entwickelt, in dem 41 Menschen in Videointerviews über ihre Flucht- und Migrationserfahrungen sprechen. Im Zeit-Online-Interview mit Johannes Schneider spricht Emcke über das Projekt.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Die Macher von #allesdichtmachen (Unsere Resümees) haben eine neue Aktion gestartet: Für #allesaufdenTisch wurden in 54 Dialogen überwiegend maßnahmenkritische Wissenschaftler wie Markus Gabriel, Gerd Antes, Ulrike Guerot oder Klaus Stöhr zur Coronakrise befragt, Gesprächspartner wie Mai Thi Nguyen-Kim, Richard David Precht oder Karl Lauterbach lehnten hingegen die Anfrage ab, meldet Jörg Phil Friedrich in der Welt. Auch diese Aktion wird der Debatte wenig "zuträglich" sein, glaubt er, denn: "Es fehlt die Kritik - obwohl doch soviel Kritik geäußert wird. Es fehlt die Kritik gegenüber den Kritikern."

Die Videoserie ist ein "Tiefpunkt der deutschen Coronadiskussion", schreibt Nils Minkmar in der SZ: "Auch die einst angesehene Politologin Ulrike Guérot wehrt sich gegen ein Klima der Ausgrenzung. So müsse sie, wenn sie sich in Berlin testen lassen wolle, in die hinterste Ecke einer Tiefgarage und komme sich vor wie ein Übeltäter. Man versteht: Kostenlose Coronatests für Impfverweigerer bitte nur noch im Foyer des Hotel Adlon - und keine schrägen Blicke, sonst ist das keine Demokratie mehr!"

"Epidemien enden nicht plötzlich, sie fasern aus", erklärt Andreas Ernst in der NZZ mit Blick in die Geschichte. Die Epidemie wird beherrschbar, die Gesellschaft lernt damit zu leben: "Der oft erbittert geführte Streit in unseren Gesellschaften über Covid-Maßnahmen, Impfungen, Statistiken und die Proteste von 'Covid-Skeptikern' - all das ist der Beginn eines Aushandlungsprozesses, den man als den Anfang vom Ende der Pandemie betrachten kann. Die medizinischen Fakten sind wichtig, doch entscheidend ist ihre Deutung: Jetzt legt die Gesellschaft fest, welche Todesraten akzeptabel sein sollen - als Teil einer neuen Normalität. Zu den Grippe- und Verkehrstoten kommen dann eben noch die Covid-19-Toten hinzu."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Amerika, "das einst Modernität, Freiheit und Prosperität verkörperte (…) ist tot, zerfressen von Nationalismus und Ideologie", schreibt Pascal Bruckner in der NZZ. Es sei an der Zeit, die transatlantischen Beziehungen auf das Nötigste zu reduzieren: "Business ohne Fanfaren, Kooperation ohne Pathos", fährt er fort - vor allem mit Blick auf Frankreich: "Aufgrund seiner Sitten und seiner strikt neutralen Haltung in religiösen Fragen liegt Frankreich zuweilen wie ein kleiner Kieselstein in Uncle Sams Schuh. Washington kann nichts anfangen mit dem republikanischen Modell der Laizität. Stattdessen finanziert und unterstützt Amerika durch seine Botschaft und seine Stiftungen französische Gruppierungen, Dekolonialisten zum Beispiel, die den amerikanischen Ideen nahestehen - eine Einmischung, die genauso inakzeptabel ist wie die Einflussnahme Moskaus oder Pekings in anderen Bereichen."

Mohib Ullah
, der der wichtigste Vertreter der Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch, wurde von islamistischen Terroristen ermordet, berichtet Sven Hansen in der taz. Ullah hatte sich mit friedlichen Mitteln für die Rückkehr der muslimischen Flüchtlinge nach Myanmar eingesetzt. "Die kleine islamistische Guerillatruppe Arsa hatte mit Überfällen auf Grenz- und Polizeistationen 2017 die Massenvertreibung der Rohingya aus Myanmar ausgelöst. Arsa diente dem Militär als willkommener Vorwand. Seitdem bedroht Arsa auch liberale Rohingya, die sich wie Ullah friedlich gegen Vertreibung und Diskriminierung wehren."

Im US-Kongress hat die "Squad" gegen amerikanische Finanzhilfe für Israel gestimmt, die den "Iron Dome" unterstützen soll, also jenes Raketenabwehrsystem, das Angriffe der Hamas aus dem Gaza-Streifen abwehrt. Die "Squad" sind bekanntlich "progressive" demokratische Abgeordnete um Alexandria Ocasio-Cortez und Ilhan Omar. Für Richard C. Schneider bei libmod.de belegt dieses Verhalten ein inzwischen komplett schematisches Verhältnis der neumodischen Linken gegenüber Israel: "Es geht um ein reines Abwehrsystem, das den Tod (israelischer) Zivilisten verhindert. Aber sind Zivilisten nicht Zivilisten? Egal, ob israelisch oder palästinensisch? Oder gibt es Zivilisten, die sterben 'dürfen', andere aber nicht? Ist das die neue 'woke' Moral dieser Kongressabgeordneten? Und es geht noch einen Schritt weiter. Anshel Pfeffer, Journalist bei der linksliberalen israelischen Tageszeitung Haaretz, machte darauf aufmerksam, dass 'Iron Dome' im Grunde noch viel mehr palästinensische Zivilisten schützt als israelische. Denn die Tatsache, dass in Kriegen oder militärischen Auseinandersetzungen so gut wie keine Israelis sterben, gibt der israelischen Regierung Raum zu manövrieren."
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Kulturpolitik

Auch als "Zeichen gegen die Geschichtsvergessenheit" in den Niederlanden begrüßt Thomas Kirchner in der SZ das jetzt eröffnete, von Daniel Libeskind im ehemaligen jüdischen Viertel Amsterdams gestaltete "Nationale Holocaust Namenmonument". Realisiert hat es der Überlebende Jacques Grishaver, gegen alle Widerstände, Anwohnerproteste, Brandbriefe und Klagen. Aber: "Grishaver gewann. Mit angeblich nicht nur lauteren Mitteln, wie zu lesen ist. Wie ein 'Straßenkämpfer' habe er agiert, allzu schnell die Antisemitismus-Keule geschwungen, solche Dinge. Freunde habe er sich jedenfalls keine gemacht mit seinem brachialen Vorgehen, heißt es von vielen Seiten. Aber eben auch, dass es ohne ihn wohl nicht zu diesem Mahnmal an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt gekommen wäre."
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Medien

Vor einem Jahr verkündete Google groß, die Kooperation mit den Zeitungen durch das "Google News Showcase" erheblich auszuweiten. Medien wie Spiegel, Zeit und Frankfurter Allgemeine Zeitung halten seitdem die Hand auf - hinzugekommen ist auch die Holding SWMH, der die bis dahin unbefleckte Süddeutsche Zeitung gehört. Hunderte von Millionen Euro regnen weltweit auf die Zeitungen herab, und Facebook hat mit einem ähnlichen Programm nachgezogen (von den schönen ganzseitigen Anzeigen der Plattformkonzerne in den Zeitungen mal ganz abgesehen). Dafür werden die Inhalte der Zeitungen bei Google-Suchen besser präsentiert. Aber einen Effekt hat das alles kaum, konstatieren Alexander Fanta und Ingo Dachwitz bei Netzpolitik: "Wenn es ihn gäbe, dann bekämen die Verlage davon wenig mit. Was wiederum daran liegen könnte, dass es für sie enorm schwer ist, den neuen Traffic überhaupt zu messen. Google selbst stellt den Verlagen kein Dashboard zur Echtzeit-Auswertung bereit, wie mehrere Manager:innen bemängeln, sondern schickt einmal im Monat eine CSV-Datei mit Zahlen für die vergangenen Wochen. 'Google kriegt hier leider kein richtiges Reporting auf die Kette', fasst ein Manager zusammen. 'Die Klick-Zahlen sind aber eh so bescheiden, dass das nicht wirklich ins Gewicht fällt', gibt sich ein anderer lakonisch."
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