9punkt - Die Debattenrundschau

Viele Kulturen, aber keine Welt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2021. Das Attentat in Idar-Oberstein beschäftigt heute alle Zeitungen. Und die Kommentatoren sind sich einig: Hier ging die Saat der Querdenker-Bewegung auf. In der Welt fordert Elfriede Jelinek bei der Verteilung des Corona-Impfstoffes mehr Solidarität der reichen Länder mit den ärmeren. Die FAZ vermisst Kontext in den Ausstellungen der außereuropäischen Sammlungen im Humboldt Forum. Warum die NZZ die in der Schweiz lebenden Albaner als "Impfmuffel" bezeichnet, wüsste Ukë Maxharraj ebendort gern. Der Guardian sagt leise zärtlich Servus zu Angela Merkel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.09.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Das Attentat in Idar-Oberstein, bei dem ein Mann in einer Tankstelle einen als Kassierer arbeitenden Studenten erschoss, weil der auf einer Maske im Laden bestanden hatte, ist für die meisten Kommentatoren ein politisch motiviertes Attentat, selbst wenn der Mann Alkokolprobleme hatte (mehr zum Tathergang hier). "Ein Mann erschießt einen anderen, weil der ihn dazu aufgefordert hatte, sich an die Maskenpflicht zu halten. Zwischen der Tat und der politischen Maßnahme besteht ein Zusammenhang, eindeutig", kommentiert Christian Vooren auf Zeit online. "Die wenigen semioffiziellen Vertreterinnen und Vertreter der selbsternannten Querdenken-Bewegung werden natürlich von sich weisen, dass sie durch ihr Handeln die Saat gelegt haben für das, was nun passiert ist, und für das, wovor Expertinnen, Politik und Verfassungsschützer seit Monaten warnen. ... Die Gewalttat von Idar-Oberstein ist extrem, doch es gab in der Vergangenheit Brandanschläge auf Impfzentren, es kam vermehrt zu Angriffen auf Kontrolleure im öffentlichen Nahverkehr, Journalistinnen wurden gezielt eingeschüchtert. All diese Vorfälle sind die Bindeglieder zwischen den Querdenker-Worten auf den Demos und in den Chatgruppen und der Tat von Idar-Oberstein."

Die Reichsbürgerideologie dominiert bei den Querdenkern mehr und mehr, schreibt Stefanie Galla bei den Ruhrbaronen. "Da sind viele keine harmlosen Spinner mehr. Da sind radikalisierte Gegner unseres System dabei, die nicht mehr davor zurück schrecken, Worten der Drohung dann auch Taten folgen zu lassen. Das wird nicht der letzte Mord dieser neu entstanden Terrorgruppierung gewesen sein."

"Es sagt alles", dass die Tat "in Teilen der Szene gefeiert wird", entsetzt sich Konrad Litschko in der taz. "Kein Mitleid. Selbst schuld, heißt es da. Menschenverachtend und entsetzlich. Es ist leider eine Tat, mit der früher oder später zu rechnen war. Denn das unheilvolle Brodeln in letzter Zeit wurde von niemandem gestoppt. Dass der Verfassungsschutz die Szene unter Beobachtung stellte, störte dort offenbar niemanden. Auch im Wahlkampf wurde der radikalisierte Protest nicht thematisiert - in den Wahlprogrammen allenfalls als Randnotiz. Wie sehr hier etwas wegrutscht, scheint in der Öffentlichkeit kaum anzukommen. Dabei ist es Teil einer Verrohung, die Politiker:innen im Wahlkampf erleben konnten, als ihnen dort wieder Hass entgegenschlug. Und an der Rechtsextreme mitwirken, die ungehindert auf Plakaten appellieren: 'Hängt die Grünen!' Oder die Leichenattrappen auf Kundgebungen auslegen."

Was macht eigentlich der Innenminister, fragt Nils Minkmar in der SZ. "Das sanftmütige Verständnis" für die Querdenker "dominiert nun schon viel zu lange. Man hat es hier nicht mit 'Sorgen der Menschen zu tun', sondern zum Teil mit organisierter Militanz. Es ist nicht zu akzeptieren, dass Wissenschaftler und Politikerinnen mittlerweile Polizeischutz gegen diese Szene brauchen. Gegenüber der Entschlossenheit von etlichen 'Querdenkern' herrscht ein gefährlicher Mix aus Ignoranz und Toleranz, der Wahnvorstellungen in dieser Bewegung nur inspiriert. ... In Fällen von migrantischer Kriminalität, von islamistischem Terrorismus oder linksextremer Gewalt markiert Innenminister Horst Seehofer gerne den harten Kämpfer, den Abschieber und moralischen Mahner. Doch im Kampf gegen diese rechte, radikale und gewaltbereite Bewegung ist nichts von ihm zu sehen oder zu hören."

Dass sich die Querdenker immer stärker radikalisiert haben, bestätigt auch die Sozialpsychologin Pia Lamberty im Interview mit der taz. "Das Maskentragen führt im Alltag aber immer wieder zu Auseinandersetzungen, in der Bahn, auf der Straße, im Supermarkt, auch mit körperlichen Übergriffen. ... Die Radikalisierung ist in der gesamten Bewegung gestiegen. Sie beeinflusst auch die Mitte der Gesellschaft. Die verschiedenen Verschwörungserzählungen werden weitergetragen. Das kennen alle, die sich kritisch zu der Bewegung äußern. Ich erlebe das auch."
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Ideen

In der Welt fordert Elfriede Jelinek mehr Solidarität der reichen Länder mit den ärmeren bei der Bekämpfung von Corona: "Der globale Impffortschritt muss mit anderen, ärmeren Ländern geteilt werden, nicht nur aus einem vage empfundenen Gerechtigkeitssinn, sondern auch, vielleicht sogar noch mehr, und da sind wir Spezialisten: aus Eigeninteresse. Der Erfolg unserer teuren Impfkampagnen wird nicht dadurch gesichert, dass sich hier jeder und jede impfen lassen kann, überall, sondern dass die Ressourcen für die Produktion global gleicher verteilt werden. Unsere Gesundheit, für die wir so viel Geld ausgegeben und großen Erfindergeist angestachelt haben, ist dadurch gefährdet, dass wir diese Impfstoffe für uns allein behalten wollen. Wir werden also gesünder, unsere Körper beflügeln die Forschung, an uns werden immer neue Daten erhoben, doch die fallen ins Leere, wenn der Covid-Impfstoff ganzen Ländern, ja Kontinenten versagt bleibt."
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Europa

Ziemlich unverschämt findet es der albanisch-schweizerische Publizist Ukë Maxharraj in der NZZ, dass dort Albaner als "Impfmuffel" bezeichnet wurden. Es gebe überhaupt keine Belege dafür, dass sich Albaner in der Schweiz seltener impfen lassen würden als andere Gruppen. "Es geht mir hier nicht darum, Impfunwillige zu verteidigen, sondern um eine korrekte und faktentreue Medienberichterstattung. Ohne offizielle Daten wird behauptet, dass die Albaner sich nicht impfen ließen, Spitäler füllten und das Coronavirus in der Schweiz verbreiteten. Durch diese Aussagen wird eine Minderheit wie die Albaner diskriminiert, als Sündenbock dargestellt und als Menschen gebrandmarkt, die keinen Respekt zeigen für die Probleme der Schweizer Gesellschaft, die mit der Pandemie konfrontiert ist. Der kritisierte Artikel ist tendenziös und könnte als Hetze gegenüber einer ethnischen Gruppierung verstanden werden, die in Harmonie und Frieden, hart arbeitend und Steuern bezahlend, hier in der Schweiz lebt."
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Stichwörter: Corona, Schweiz, Coronavirus, Impfen

Religion

In der nächsten Zeit nimmt Raoul Löbbe die katholischen Kirche aufs Korn, die Schmerzensgeld für Missbrauchsopfer nur in einem höchst intransparenten Verfahren bewilligt.. Der Text wurde vorab online gestellt. Bis zu  50.000 Euro sollen laut der Vollversammlung der katholischen Bischöfe in Fulda gezahlt werden. Inzwischen hat der Betroffenenbeirat gegen das abartigerweise "Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids" bezeichnete Verfahren protestiert, so Löbbe. "Begründungen sind nicht vorgesehen und werden deshalb den Betroffenen auch nicht gegeben. Zudem fehle 'dem gesamten Verfahren', wie der Betroffenenbeirat Bischof Bätzing am 19. August schreibt, 'eine Widerspruchsmöglichkeit'. So werde der Eindruck erweckt, die Entscheidungen der Unabhängigen Kommission für die Anerkennungsleistungen seien 'gottgegeben' und 'unfehlbar'. Die Folge: 'Durch die Bescheide der UKA wurde bereits eine erhebliche Zahl von Retraumatisierungen mit den entsprechenden Folgen bis hin zu stationären Unterbringungen in psychiatrischen Kliniken verursacht.' Wenn stimmt, was der Betroffenenbeirat schreibt, wer ist dafür verantwortlich?"
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Politik

Recht liebevoll verabschiedet sich Rafael Behr im Guardian von Angela Merkel, die für die britischen Remainer zur Ikone der europäischen Vernunft wurde und so herrlich unbeeindruckt von konservativen Premierministern blieb: "Sie verströmte Rationalität und Pragmatismus, was sie zur natürlichen Gegenspielerin von Demagogie und Populismus machte." Im Atlantic fürchtet Yasha Mounk, dass sich auch nach Merkels Abschied nicht viel in der deutschen Politik ändern wird.
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Stichwörter: Merkel, Angela, Populismus

Medien

Facebook will an seinem Image künftig aggressiver arbeiten, berichten Ryan Mac und Sheera Frenkel in der New York Times. Künftig wird es keine Entschuldigungen mehr geben: "Jahrelang begegnete Facebook einer Krise nach der anderen, zu Datenschutz, Falschinformationen und Hassreden auf seiner Plattform, indem es sich öffentlich entschuldigte. Mark Zuckerberg übernahm persönlich die Verantwortung für die russische Einmischung während der Präsidentschaftswahlen 2016 und setzte sich lautstark für die freie Meinungsäußerung im Internet ein. Außerdem versprach Facebook mehr Transparenz. Doch der Trommelwirbel der Kritik zu rassistischen Äußerungen oder Impfstoff-Falschinformationen ließ nicht nach. Verärgerte Facebook-Mitarbeiter haben die Wut noch verstärkt, indem sie sich gegen ihren Arbeitgeber aussprachen und interne Dokumente durchsickern ließen. Letzte Woche veröffentlichte das Wall Street Journal Artikel, die sich auf solche Dokumente stützten und zeigten, dass Facebook von vielen der Schäden wusste, die es verursachte... 'Sie haben erkannt, dass niemand sonst sie verteidigen wird, also müssen sie es selbst tun und sagen', sagte Katie Harbath, eine ehemalige Direktorin für öffentliche Ordnung bei Facebook."
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Kulturpolitik

Im Humboldt Forum, das heute Abend feierlich eröffnet wird, rächt sich, dass die Ethnologen sich selbst überlassen wurden, stellt Andreas Kilb in der FAZ fest, der in diesem Haus der Weltkulturen viele Kulturen, aber keine Welt erlebte. Den mitunter "pompös präsentierten" Sammlungen fehle der historische Rahmen, der über die postkoloniale Büßerposition hinausgeht, meint Kilb: "Die Kulturen stehen nebeneinander wie Berggipfel, hoch und einsam. Dass sie sich begegneten, bekriegten, durchdrangen und verschlangen, dass Austausch und Konflikt eher die Regel als die Ausnahme waren, geht in dieser Darstellung unter. Die Bamum von Kamerun hatten Verbindungen nach Nigeria. Der Handel von Europa ins alte China führte über die nördliche Seidenstraße. Die Stifter der Höhlenbilder von Kizil sprachen eine indogermanische Sprache. Die Kanonen der indischen Mogulkaiser wurden von türkischen Büchsenmachern gegossen. Aber um solche Zusammenhänge in museale Gestaltung zu überführen, müsste man einen Begriff von Kultur haben, der über die bloße Zurschaustellung von Objekten hinausgeht. Man müsste von Machtverhältnissen reden, wirtschaftlichen Interessen, Technologien, Imperien und Randzonen, Fetisch- und Buchreligionen, wandernden und sesshaften Völkern."

Die Objekte sind überwältigend, aber es gibt einfach zu wenig Informationen, klagt auch Swantje Karich in der Welt. In der SZ vermisst Jörg Häntzschel eine Haltung der Museen zu ihren Sammlungen: "Fast trotzig setzen die Museen auch ihre alte Politik der Vernebelung fort. In einem Wandtext heißt es etwa, die Objekte seien 'durch Kauf, Tausch, Schenkung und Gewalt' in deutsche Hände gekommen - man tut alles, um das Wort 'Raub' zu vermeiden. Besonders skandalös ist der Kamerun-Saal, wo Wilhelm Glaunig, ein Offizier der Schutztruppe, als 'begeisterter Amateur-Ethnologe' gefeiert wird."

Aber wer hat sich die Werbekampagne des Humboldt Forums ausgedacht?, fragen Priya Basil und Teresa Koloma Beck auf ZeitOnline, voller Empörung über das in ganz Berlin plakatierte "Menschheitsmosaik": "Wer kam auf den Gedanken, die karikatureske Montage eines 'Hyper-Eingeborenen' wäre ein Beitrag zum Dialog?"
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Humboldt Forum, Nigeria, Kamerun, Kanon