9punkt - Die Debattenrundschau

Schnitzwerk Menschenopferkult, vor 1890, Mitteleuropa

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2021. In der FAZ kritisiert Götz Aly die Angaben der Staatlichen Museen zu Berlin zu ihren Artefakten als inhaltsleer, irreführend oder unwahr. Linker müsst ihr werden, bescheinigt im Standard der Essayist Richard Schuberth Verfechtern der Identitätspolitik ebenso wie klassenbewussten Linken. In der FAS fragt Ronya Othmann die Mitte, ob erst das Haus brennen muss bevor sie sich mit Islamismus und Rechtsextremismus befasst. In Afghanistan gibt es jetzt statt eines Frauen- ein Tugendministerium, meldet der Guardian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.09.2021 finden Sie hier

Kulturpolitik

Nach Jahren des Hinhaltens haben jetzt auch die Staatlichen Museen zu Berlin angefangen, die Herkunft ihrer Bestände online verfügbar zu machen. Der Historiker Götz Aly hat für die FAZ einen Blick auf die ersten Einträge geworfen und ist äußerst unzufrieden mit den "häufig inhaltsleeren, irreführenden oder unwahren Angaben, mit denen die Staatlichen Museen das Publikum an der Nase herumführen". Vor allem das dokumentierte Nichtwissen über viele Artekfakte bezeugt ihm die Gier der Sammler, die oft genug schlicht Räuber waren. "Man stelle sich vor, der Fall läge umgekehrt. Von den Werken Tilman Riemenschneiders hätte sich lediglich ein einziges Altarfragment erhalten. Die fein geschnitzten, teilweise beschädigten Figuren zeigten die Kreuzigung Christi und stünden seltsam zusammengesetzt, eher an einen Wolpertinger als an Golgatha erinnernd im Museum von Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea, versehen mit dieser Beschriftung: "Schnitzwerk Menschenopferkult, vor 1890, Mitteleuropa, Lindenholz, Höhe x Breite x Tiefe: 174 x 113 x 47 cm, Gewicht: 94,3 kg."
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Ideen

Im Standard teilt der Essayist Richard Schuberth schön gleichmäßig aus gegen Verfechter einer Identitätspolitik, die auch sehr nützlich sei, um in Kultur und Akademia Posten zu besetzen. Denn über die Identitätsschiene könne der "migrantische Primarsohn der dritten Generation zur näselnd-wütenden Stimme der Romaputzfrau werden, deren gebeugter Rücken ihm als Trampolin in Feuilleton und Aufmerksamkeit dient". Und gegen ihre Gegner, die "identitärer sind als das Objekt ihrer Kritik selbst". Kann man alles machen, solange man Kommunist bleibt, denkt sich Schuberth: "Der richtige Vorwurf, dass die identitäre Anerkennungspolitik bloß die Kapitalmaschine bunter anmalen und per Affirmative Action diverser besetzen will, mag davon ablenken, dass die klassenbewusste Linke mit ihrer halbierten Sozialdemokratie die Maschine ebenso wenig infrage stellt, sondern sie durch zaghafte Bittgesuche um ein paar soziale Brosamen und ein bisschen mehr Kapitalbesteuerung bloß ölen will."

Warum eigentlich sind Islamismus und Rechtsextremismus im Wahlkampf kein Thema, fragt die Schriftstellerin Ronya Othmann in der FAS. "Die gute alte Islamisten-Nazi-Symbiose funktioniert wie eh und je, da können sich Ameise und Blattlaus noch was abschauen. ... Da treffen sich Shahak Shapira und Islamisten-Influencer Tarek Bae (ehemaliger Mitarbeiter der AKP-nahen Stiftung Seta) in einem Video-Podcast und rauchen Shisha. Da gehen Journalisten beim rechtsradikalen Powercouple Kubitschek & Kositza ein und aus (zuletzt Greta Taubert für eine lustige Doppelgänger-Geschichte im Zeit-Magazin). Da tritt der Journalist Emran Feroz bei Lanz auf, und niemand fragt, warum er seit Jahren für den Erdogan-Propaganda-Sender TRT schreibt. Rechtsextremismus und Islamismus kommen nicht mit großem Knall und Leuchtschrift daher, damit es auch der Letzte versteht. Es ist ein Schwelbrand: Eine Grenzüberschreitung folgt auf die nächste und geht einher mit schleichender Normalisierung.
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Gesellschaft

Die Autorin Grit Lemke erinnert sich mit Grauen an die rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991, wo sie aufgewachsen ist und damals noch lebte. Aber es hat sich inzwischen was verändert, meint sie im Gespräch mit Zeit online. "Es gibt immer noch Rechte, aber keine großen Netzwerke in der Stadt. Das ist schon einiges verhindert worden in den letzten Jahren. Trotzdem könnte so etwas auch wieder passieren. Aber ich denke, es käme nicht noch mal zu einem Pogrom. Es gibt hier Leute, die sind inzwischen vernetzt und aufmerksam, die würden sich wehren. In der Initiative Zivilcourage passiert zum Beispiel auch viel im Kleinen. Da wurde zum Beispiel der Stadtplan aufgeteilt, und in jeder Straße gibt es Leute, die aufpassen, dass keine rechten Aufkleber in der Stadt auftauchen, die werden abgekratzt."

In Leipzig gab es am Samstag eine linke Demonstration gegen rechts, die die Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel angemeldet hatte, berichtet Henrik Merker auf Zeit online. Der "Revolutionäre Block" nutzte die Gelegenheit zu zeigen, dass er spielend genauso bescheuert sein kann wie die Rechtsradikalen: Statt "Hängt die Grünen!" trug man hier ein Banner vor sich, das dem Leiter der Leiter der Soko Linx bescheinigte: "Dirk Münster, bald ist er aus dein Traum, dann liegst du im Kofferraum".
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Stichwörter: Zivilcourage, Linz

Politik

Joe Biden hat bei dem U-Boot-Pakt mit Australien (Aukus, unsere Resümees) mit bemerkenswerter Kaltschnäuzigkeit gezeigt, wie unwichtig für ihn Nato-Partner wie Frankreich sind. Aber er hat auch Europa gezeigt, wie unwichtig es ist, meint Stefan Kornelius in der SZ. Man betrachte nur die neue Indo-Pazifik-Strategie der EU: "Handelsbeziehungen, Multilateralismus, Infrastrukturhilfe, vielleicht ein paar Sanktionen. Für die harte Realität des strategischen Wettlaufs im Pazifik ist sie nicht geschaffen. Dort werden Einfluss, Gebietsansprüche, Machtprojektion mit harter militärischer Währung erkauft." Europa habe weder die Sprache, noch eine Strategie, um mitzuhalten. "Es ist, diese Wahrheit gehört eine Woche vor der Bundestagswahl dazu, vor allem Deutschland, das zu dieser Unentschlossenheit und Diffusität beiträgt."

"Es ist weiter unabdingbar, dass der Westen diplomatisch zu einer einheitlichen Stimme findet. In den USA gibt es gegenüber China einen parteiübergreifenden strategischen Konsens", warnt in der NZZ Junhua Zhang vom European Institute for Asian Studies (EIAS). "Europa dagegen zeigt sich unentschlossen und lässt sich bis zum internen Streit von China auseinanderdividieren. Zwischen dem EU-Parlament, das eine harte Haltung vertritt, und der äußerst vorsichtig agierenden EU-Kommission gibt es keine Übereinstimmung", schreibt Zhang und nennt als Beispiel die inoffiziellen Sanktionen, die China gegen Litauen verhängt hat, weil dieses ein Vertretungsbüro in Taiwan gründete - die Europäische Kommission, welche die Interessen aller EU-Mitgliedstaaten zu vertreten hätte, hielt sich bedeckt, als es darauf angekommen wäre, Stärke zu markieren."

Das Leben wurde letzte Woche etwas gefährlicher, fürchtet Simon Tisdall im Guardian. "Der Pakt spricht Bände über die westliche Heuchelei in Bezug auf die Verbreitung von Atomwaffen. Mit Hilfe der USA erhält Australien hochentwickelte Technologie, mit angereichertem Uran betriebene Reaktoren von der Stange und das neueste Know-how. ...  Was wird Teherans neu installierte Hardliner-Führung, die von Feinden umgeben ist, von diesem jüngsten Beweis für die Verachtung des Westens für die Nichtverbreitungsprinzipien halten, die er angeblich hochhält?"

Für die Chinesen muss Aukus ein Geschenk des Himmels sein, glaubt Urs Wälterlin in der taz. "Ohne einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben, hat Peking die erste Schlacht im Konflikt mit dem neuen Bündnis gewonnen. Es wird Jahre dauern, bis Canberra den Vertrauensverlust mit Frankreich wieder gutgemacht hat, wie auch mit pazifischen Kleinstaaten, die der australischen Regierung jetzt noch weniger trauen dürften".

In Afghanistan haben die Taliban das Frauenministerium aufgelöst und durch ein "Tugendministerium" ersetzt, berichtet unter anderen die Zeit. "Ein derartiges Tugendministerium war während der ersten Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001 unter anderem für Auspeitschungen von Frauen verantwortlich." Außerdem wurden Mädchen und Frauen von weiterführenden Schulen ausgeschlossen und weibliche Angestellte der Regierung von Kabuls Bürgermeister Hamdullah Namony aufgefordert, künftig zu Hause zu bleiben, meldet der Guardian. "Namony sagte, die weiblichen Beschäftigten seien angewiesen worden, bis zu einer weiteren Entscheidung zu Hause zu bleiben. Er sagte, es seien Ausnahmen für Frauen gemacht worden, die nicht durch Männer ersetzt werden konnten, darunter einige in den Abteilungen Design und Technik und die Aufseherinnen der öffentlichen Frauentoiletten."
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