9punkt - Die Debattenrundschau

Es bleibt halt auf dem Schreibtisch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2021. Christine Fischer, Leiterin des "Eclats"-Festivals, spricht im Van Magazin über ihre Versuche, von Angela Merkel oder Heiko Maas Gesten der Solidarität für Maria Kolesnikowa zu erhalten, die in Minsk gerade für elf Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde. Aber da passierte "null, gar nichts." Michael Wolffsohn wirft Max Czollek in der NZZ vor, unter falscher Flagge zu segeln.  Die SZ zitiert einen Artikel Jürgen Habermas' zum "Historikerstreit 2.0", den er wohl nicht so schlimm findet. Amerika hat sich bei den Versuchen, im Irak und Afghanistan einen funktionierenden Staat zu installieren, komplett überdehnt, fürchtet Francis Fukuyama in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.09.2021 finden Sie hier

Europa

Bevor Maria Kolesnikowa eine maßgebliche Kraft der belarussischen Opposition wurde, arbeitete sie als Social-Media-Managerin beim Stuttgarter Neue-Musik-Festival "Eclats". Hartmut Welscher vom Van Magazin spricht mit der Leiterin des Festivals, Christine Fischer, über ihre Zusammenarbeit. Und Fischer erzählt leider auch Deprimierendes über den Versuch, von der Bundesregierung eine mehr als proklamatorische Unterstützung für Kolesnikowa zu bekommen. Auf die Frage, welche Rückmeldung sie bekommen habe, als sie die Kanzlerin in einem offenen Brief aufforderte, sie persönlich zu unterstützen, antwortet Fischer: "Null, gar nichts. Ich habe dann mit dem Auswärtigen Amt telefoniert und leider Erfahrungen gemacht, die dazu geführt haben, dass ich mich über das, was jetzt in Afghanistan passiert ist, nicht wundere. Dort arbeiten sehr erfahrene Menschen, die immer genau wissen, was sie antworten sollen. Aber es bleibt halt auf dem Schreibtisch." Als Kolesnikowa den Menschenrechtspreis der Gerhart und Renate Baum-Stiftung bekam, hätte Gerhart Baum gern gehabt, dass Heiko Maas die Laudatio hält: "Da hätten zehn Minuten ausgereicht, man hätte sie vorher aufnehmen können, das wäre nicht viel Aufwand gewesen. Gerhart Baum hat mehrfach versucht, Heiko Maas zu erreichen, aber es kam nicht mal ein 'Es tut uns leid' oder so etwas zurück. Es ist einfach kein Instinkt da, wirklich etwas bewegen zu können und zu wollen."
Archiv: Europa

Religion

Oliver Rautenberg liest für sein Anthroposophie.blog eine Fibel des Anthroposophen Alfredo Agostini mit hübschen, aber schwer verständlichen Tafeln gegen die Corona-Impfung: "Für die Landesarbeitsgemeinschaft Freier Waldorfschulen in Niedersachsen und Bremen unterrichtet Herr Agostini angehende Lehrkräfte in Hellseherei und Aura-Lesen. In der Tradition des Anthroposophie-Gründers Steiner, der hunderte schwer verständlicher Tafelzeichnungen hinterließ, zeichnet und malt der Aura-Experte seine Eingebungen von den Auswirkungen der Corona-Impfung. Wenig überraschend muss nach okkulter Deutung das schlimmste, das überhaupt vorstellbar ist, auch geschehen: Die Reinkarnation wird verhindert."
Archiv: Religion

Gesellschaft

Wolf Biermann ist ein "Vaterjude", schreibt Michael Wolffsohn in der NZZ zum Streit, wer jüdisch ist, aber Biermann habe sich, ohne Leugnung seines jüdischen Anteils, nie als Jude aufgespielt, anders als der "Großvaterjude" Max Czollek, dessen Spiel mit Identität Wolffsohn als Symptom sieht: "Richtig ist auch, dass Czollek in der Öffentlichkeit 'unter falscher Flagge segelt' und sich von juden- und israelkritischen (-feindlichen?), linken und linksliberalen Milieus als Jude feiern lässt. Als deren 'Alibi-Jude' gibt er das Feuer für scheinkoschere Kanonen auf jüdische und israelische Mehrheitspositionen frei und macht sich damit letztlich zum 'nützlichen Idioten'. Merkt er es nicht? Manche würden Max Czollek einen 'falschen Fünfziger' nennen. Nein, er ist ein falscher Jude, weil er seine Familiengeschichte fälscht."

Nachdem der Komiker Jan Böhmermann, der sich nebenbei als moralische Instanz versteht, bei Markus Lanz eine andere Einladungspolitik forderte, die nur seiner Meinung nach qualifizierte Äußerungen zulässt, platzt Hilmar Klute in der SZ der Kragen: "Populär unter Fans von rechts über woke bis zu superlinks, allerdings offenbar nicht bei einer Mehrheit der Bevölkerung, wird gerade: Strammsteherei. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, klar. Aber die Leute sind etwas weniger ängstlich geworden, nicht weil sie die Lage verharmlosen, sondern weil sie sich Fertigkeiten erworben haben, in ihr zu leben. In der Medienöffentlichkeit dagegen macht sich ein neuer Hausmeistertyp bereit."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Die Literaturzeitschrift Form und Sinn hat in ihrer jüngsten Ausgabe einen Briefwechsel von Enzensberger und Adorno aus dem Jahr 1965 abgedruckt, in dem die beiden einen Essay Adornos für Enzensbergers Kursbuch diskutieren, erzählt Lothar Müller in der SZ. Adorno kommt schließlich auf die Idee einer Kritik des Godesberger Programms aus marxistischer Sicht, springt am Ende aber doch ab: "Die im Jahr 1964 gegründete NPD befand sich im Aufwind, und so machte er im Brief vom 18. April 1966 neue Skrupel gegen das Projekt geltend: 'Schließlich ist jener Plan ein Politicum, und dazu gehört, daß man auch die politische Wirkung mitreflektiert. Ich weiß aber nicht, ob gerade jetzt der beste Zeitpunkt zu einer Abrechnung mit dem SPD-Kurs ist.' Dafür sei die Gefahr des Neonazismus in Deutschland viel zu akut. Vergeblich versuchte Enzensberger, diese Skrupel zu zerstreuen."

Der Historikerstreit 2.0 reicht offenbar auch für Jürgen Habermas nicht an die Gefährlichkeit des ursprünglichen Historikerstreits heran, jedenfalls, wenn man in der SZ Jens-Christian Rabes Resümee von Habermas' Artikel zur Debatte im Philosophie Magazin liest: Beim ersten Historikerstreit habe Habermas gefürchtet, dass der Vergleich mit stalinistischen Verbrechen den Deutschen ein Gefühl der Entlastung geben könne. Diese Sorge habe Habermas bei A. Dirk Moses' Attacken auf den "Katechismus der Deutschen" nicht: "Die Frage sei, ob der Holocaust im politischen Selbstverständnis der Deutschen seinen Stellenwert als 'einzigartiger' Zivilisationsbruch verliere, wenn man ihn 'in die Perspektive einer Nachfolge der erst heute wieder in Erinnerung gerufenen Kolonialverbrechen' rücke. Direkt beantwortet der Philosoph diese Frage nicht, aus dem Zusammenhang lässt sich jedoch zweifelsfrei schließen, dass er nichts Derartiges befürchtet."
Archiv: Ideen

Politik

Die Taliban haben afghanische Journalisten, die eine Frauendemo filmten, gezwungen, sich auf den Boden zu legen, um sie mit Kabeln zu schlagen, bis sie bewusstlos waren, berichtet Stefanie Glinski in der FAZ. "Das neue Innenministerium des Islamischen Emirates hat nun verkündet, dass Proteste nur noch mit vorheriger Genehmigung stattfinden dürfen. Medien ist es fortan verboten, über 'illegale' Demonstrationen zu berichten und sie zu fotografieren. Trotzdem trauten sich auch am Donnerstag wieder einige Demonstranten auf die Straße."

Amerika hat sich bei den Versuchen, im Irak und Afghanistan einen funktionierenden Staat zu installieren, komplett überdehnt und zahlt jetzt den Preis für seine Arroganz, meint Francis Fukuyama in der FAZ: "Die langfristigen Folgen der amerikanischen Überreaktion auf die Anschläge vom 11. September sind fatal. Amerika hat Tausende Menschenleben geopfert und Abermilliarden Dollar aufgewendet, um sich vor einer überschaubaren Bedrohung zu schützen. Dass versucht wurde, die Irak-Invasion als Demokratisierung zu rechtfertigen, hat die Demokratie in den Augen vieler Menschen auf der ganzen Welt diskreditiert. Amerika hat die wachsende Bedrohung durch mächtigere Akteure wie Russland und China ebenso ignoriert wie die Probleme im eigenen Land, die sich in dieser Zeit verschärften."
Archiv: Politik