9punkt - Die Debattenrundschau

Das Licht sonniger Spätsommertage

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2021. Viele Artikel zu Nine-Eleven. Susanne Schröter insistiert in der Zeit, dass die Anschläge und vor allem die Attentäter sehr wohl etwas "mit dem Islam zu tun" haben. In der SZ sucht Thomas Steinfeld den "vernünftigen Kern" in Karlheinz Stockhausens Äußerung über die Attentate als Kunstwerk. In der FAZ zeigen Birte Förster und Armin Nassehi mit Kant, warum die Kritik der Impfgegner an Einschränkungen der Freiheit haltlos ist. Und sollte der Guardian Judith Butler zensiert haben?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.09.2021 finden Sie hier

Politik

Titelseite der taz heute. Nach dem neuen, von den Taliban auserkorenen Innenminister Afghanistans, Sirajuddin Haqqani wurde jahrelang wegen Terrorattentaten gefahndet.
Thomas Ruttig geht in der taz die Kabinettslisten der neuen Talibanregierung Afghanistans durch. Es könnte aber sein, das es sich nur um eine Interimsregierung handelt, meint er: "Dazu passt auch, dass die Taliban nach wie vor keine Staatsform bekanntgaben, also weder formal die bisherige Islamische Republik abschafften noch ein Islamisches Emirat oder ihren religiösen Führer Mullah Hebatullah Achundsada zum Staatschef ausriefen. Der soll sich nach Talibanangaben in Kandahar aufhalten, blieb bisher aber unsichtbar." In der Besetzung der Regierung zeichnet sich auch deutlich der pakistanische Einfluss auf die Taliban ab, so Ruttig.

Auf der "Glauben & Zweifeln"-Seite der Zeit fragen zwei Artikel, wie es um den Islam nach dem 11. September steht. Beide Artikel sind streng mit dem Islam. Der Völkerrechtler Ebrahim Afsah beklagt eine "eine dreistufige Geschichtsklitterung", mit der sich gerade Regimes muslimischer Länder, die mit dem Westen kooperieren, gegenüber einer radikalisierten Bevölkerung aus dem eigenen Versagen herauslügen: "Zuerst wird die Gleichwertigkeit aller Kulturen behauptet und auf den Beitrag arabisch-islamischen Denkens zum europäischen Erbe verwiesen. Dann wird behauptet, der Kern islamischer Kultur, also das islamische Recht, werde vom Westen diffamiert. Schließlich wird das eigene Scheitern als Beweis 'struktureller Gewalt' des Westens gedeutet - und so Gegengewalt legitimiert."

Die Ethnologin Susanne Schröter besteht darauf, dass der Dschihadismus sehr wohl "mit dem Islam zu tun" hat. Attentäter des 11. September wie Mohammed Atta waren religiös hochgebildet, legt sie dar. "Die Mitglieder der Hamburger Zelle waren allesamt fromm, kamen teilweise aus streng religiösen Familien und waren in Deutschland in eine bereits existierende islamistische Infrastruktur eingebunden. Diese Infrastruktur, bestehend aus Moscheen, Personen und islamischen Vereinigungen, war den Sicherheitsorganen der Bundesrepublik bekannt. Wenn es Lehren gibt, die aus den Anfängen des Dschihadismus in Deutschland gezogen werden können, dann ist es vor allem diese: Obwohl ökonomische und politische Momente relevant bleiben für das Verständnis des militanten Dschihadismus, ist er ein religiöses Phänomen."

Mit dem "Krieg gegen den Terror" bricht ausgerechnet der Westen seit dem 11. September vielfach das Völkerrecht, schreibt der New Yorker Anwalt Josef Alkatout in der taz: "Letztlich empfinden die knapp zwei Milliarden Muslime die großflächig ausgeführten Angriffe bewaffneter Drohnen als willkürlich. Die Geschosse aus den unbemannten Flugobjekten, für die seit diesem Jahr das Weiße Haus direkt verantwortlich zeichnet, stellen für die meisten Bewohner den einzigen Kontakt mit dem Abendland dar. Dies kann nicht in unserem Interesse sein."

Karlheinz Stochausen hatte das Attentat in einer unglücklichen Reaktion, die ihm nachgetragen wurde, als Kunstwerk beschrieben und dabei nebenbei doch auch etwas über die unbedingte Selbstbesessenheit künstlerischer Avantgarden verraten, die politischen wohl nicht immer so fern sind. Thomas Steinfeld sucht in der SZ nach dem "vernünftigen Kern" in Stockhausens Äußerung: "Die Attentäter waren sich über die symbolische Bedeutung der beiden Türme als Siegessäulen des Kapitals und dessen bevorzugter Nation im Klaren gewesen, sie hatten um die optische Wirkung von Feuer, Rauch und berstenden Wolkenkratzern gewusst - und, wer weiß, vielleicht hatten sie sogar an das Licht sonniger Spätsommertage gedacht."

Außerdem: Bis heute stehen Muslime in Amerika unter "Generalverdacht", schreibt Frauke Steffen in der FAZ. Ebenfalls in der FAZ stellt Nina Rehfeld die Doku "9/11: Ein Tag in Amerika" vor, die in diesem Tagen bei Sky läuft.
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Geschichte

Klaus Hillenbrand berichtet in der taz über den Prozess gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F., die im Alter von 96 Jahren nun wegen Beihilfe zum Mord in 11.430 Fällen vor Gericht steht. Immerhin erfährt man in dem Prozess noch einiges über Strukturen in KZs wie dem von Stutthof: "Irmgard F. zählte zum sogenannten SS-Gefolge. So nannte man die weiblichen Zivilangestellten der SS, die in Frontlazaretten, bei der Polizei oder eben in Konzentrationslagern tätig waren. Ihre genaue Zahl ist bis heute unbekannt, aber in dem für weibliche Häftlinge errichteten KZ Ravensbrück sind etwa 3.500 Aufseherinnen in Kurzlehrgängen ausgebildet worden, oft junge Fabrikarbeiterinnen, für die der Job einem sozialen Aufstieg gleichkam."
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Kulturpolitik

Die Zeit hat nun noch ein neues Ressort, "Umwelt". Man glaubt kaum, dass nach 59 Seiten überhaupt noch ein Feuilleton beginnt. Olaf Scholz und Carsten Brosda, Kultursenator in Hamburg, richten einen Brief an die Kulturschaffenden, die sie mit folgender Perspektive konfrontieren: "Die vor uns liegenden Aufgaben betreffen uns alle gleichermaßen und sind so groß, dass wir sie in ihrer Größe und Grundsätzlichkeit annehmen, diskutieren und bewältigen müssen. Wir können in anderen Ländern sehen, wie das gelingen kann, wenn zum Beispiel in den USA etliche Künstlerinnen und Künstler gemeinsam mit Michelle und Barack Obama kleine Clips produzieren, um unter dem Titel 'We the People' für die freiheitliche Demokratie zu werben." Auch um mehr Sozialstaat für die Künstler wollen sich die beiden kümmern.

Außerdem: Hubert Wetzel freut sich in der SZ über die Schleifung der monumentalen Robert-E.-Lee-Statue in Richmond, Virginia - ein Erfolg der "Black Lives Matter"-Bewegung.
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Internet

Peter Glaser, Mitbegründer des Chaos Computer Clubs, erzählt in der Zeit, wie er vor vierzig Jahren den Computer entdeckte: "Nun war da dieser kleine Fernseher in der Wohnung eines Bekannten, davor eine dicke, hässliche Tastatur. Ob ich auch mal was eingeben wolle. Ich tippte 'HALLO' - und das Wort war sofort im Fernsehen!" Und wie es war, als sie den CCC gründeten: "An einem Tag Ende August 1981 saßen die fünf in Büttners Wohnung um Schleisieks Osborne 1 herum, der elf Kilo wog und als erster tragbarer Computer der Welt beworben wurde. Das Gespräch drehte sich um Computer für jedermann, ihre Vernetzung und die sozialen Auswirkungen und führte schließlich zu der Frage, ob es nicht auch noch andere 'politisch wache Informatiker' in Deutschland gebe. Eine Kleinanzeige wurde formuliert, die in der taz erschien und heute als Gründungsurkunde des Chaos Computer Clubs, CCC, gilt."
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Ideen

Die Kritik der Impfgegner an Einschränkungen der Freiheit ist häufig lächerlich, zeigen die Historikerin Birte Förster und Armin Nassehi in der FAZ. Freiheit komme ohne Regeln gar nicht aus. Pflicht etwa ist nach Kant kein Widerspruch zur Idee der Freiheit: "Wenn ich die Pflicht habe, jemandem zu helfen, habe ich letztlich keine Alternative dazu und kann das doch als Ausdruck meiner Freiheit ansehen, weil es vernünftige Gründe dafür gibt. Zweitens findet meine Freiheit eine Grenze in der Freiheitsmöglichkeit der anderen. Schon die Banalität der Rechts-vor-links-Regel im Straßenverkehr zeigt das. Warten zu müssen schränkt meine Freiheit nicht ein, sondern ermöglicht die Freiheit aller Beteiligten. Freiheit hat deshalb etwas mit der praktischen Vernunft zu tun, also mit einer Art Versöhnung von Wollen und Sollen."

Ausgerechnet der Guardian, Zentralinstitut der Political Correctness, hat ein Interview Mit Judith Butler zensiert, berichtet Emanuel Maiberg bei Vice.com. Gestrichen wurde unter anderem folgende tiefsinnige Passage gegen "Terfs", also - in den Worten Maibergs - gegen "radikale Feministinnen, die nicht glauben, dass Transfrauen Frauen sind". Butler hat dazu gesagt: "Die Antigender-Ideologie ist einer der Hauptstränge des Faschismus in unserer Zeit. Darum können Terfs nicht Teil des aktuellen Kampfes gegen Faschismus sein, der eine Koalition aus Kämpfen gegen Rassismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt in Gefängnissen erfordert, eine, die sich der hohen Zahlen an Femiziden in der ganzen Welt bewusst ist, die viele Angriffe auf Trans- Und Transgender-Leute einschließt." Anlass der Streichung war offenbar eher die Frage des Butler-Interviewers Jules Gleeson, der Kritiker der Gender-Ideologien mit Rechtsextremisten gleichsetzte und dabei einen umstrittenen Vorfall in einem Spa von Los Angeles (jemand zeigte seinen Schwanz im Damenbereich) falsch darstellte, wie Maiberg in seinem ausufernden Artikel darlegt.

Terrorismus ist nichts neues, so gesehen hat sich die Welt durch 9/11 nicht verändert, meint der Historiker Niall Ferguson im Interview mit der NZZ: "Stellen Sie sich einmal vor, Al Gore hätte im Jahr 2000 die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Dann hätte es zwar vermutlich den 11. September gegeben und vielleicht auch die Invasion in Afghanistan. Aber der Irakkrieg wäre ausgeblieben, denn anders als die Bush-Administration hätte die Regierung Gore nicht die Strategie verfolgt, den Mittleren Osten neu zu gestalten. Was die historische Folgenschwere angeht, muss man daher Bushs Wahlsieg als bedeutender ansehen als 9/11."
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