9punkt - Die Debattenrundschau

Selbst in Zeiten der Demokratie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2021. Im Baskenland wird ein "Centro Memorial de las Víctimas del Terrorismo" eröffnet, berichtet die FAZ. Es ist das erste seiner Art in Europa, kein europäisches Land hat mehr Terrortote zu beklagen als Spanien. In der Berliner Zeitung fordert die Historikerin Mirjam Brusius neue Teilnehmer für den Historikerstreit 2.0. "Viele rechte Positionen sind doch inzwischen Mainstream", glauben die Sozialpsychologin Pia Lamberty und der Regisseur Christian Schwochow im Gespräch mit der SZ. Die taz füchtet, dass die belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa heute zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.09.2021 finden Sie hier

Europa

Maria Kolesnikowa hatte im letzten September ihren Pass zerrissen, als die belarussischen Behörden sie in die Ukraine ausweisen wollten. Seitdem sitzt sie im Gefängnis. Der wichtigsten belarussischen Oppositionspolitikerin, einer Musikerin, die lange in Stuttgart gelebt hatte, wurde ein nicht öffentlicher Prozess gemacht, berichtet Bernhard Clasen in der taz: "Am heutigen Montag wird das Urteil verkündet werden. Das Gericht wird sich wohl an der Forderung der Staatsanwaltschaft von zwölf Jahren Haft orientieren. Der Vorwurf: Gefährdung der nationalen Sicherheit, Verschwörung zur verfassungswidrigen Machtergreifung und Gründung einer extremistischen Gruppierung."

Florencio Domínguez ist ein verdienstvoller Mann. Er hat es hinbekommen, in der baskischen Stadt Vitoria ein "Centro Memorial de las Víctimas del Terrorismo" (Website) zu eröffnen, das die Zustimmung aller politischen Parteien in Spanien bekam. Spanien, erfährt man In Paul Ingendaays Bericht für die FAZ, ist das europäische Land mit den bei weitem meisten Terroropfern in Europa. 1.450 ermordete Menschen, 850 davon gehen auf das Konto der ETA. Ingendaay hat mit Domínguez gesprochen: "Als ich ihm von der einen oder anderen Begegnung mit mutigen Menschen vor zwanzig Jahren erzähle, die trotz des Terrors im Baskenland ausgeharrt haben, nimmt er den Faden auf: Domínguez kennt oder kannte sie alle. Er war auf unzähligen Begräbnissen. Und jetzt hat er eine Mission. Er will die neue Generation erreichen, all jene, die glücklicherweise zu jung sind, um sich an die bleiernen Jahre zu erinnern, als in Spanien jährlich mehrere Dutzend Menschen starben, selbst in Zeiten der Demokratie, da der 'antifranquistische Kampf' als Gewaltmotiv längst ausgedient hatte." Das Gedenkzentrum ist das erste seiner Art in Europa.

Das Putin-Regime überzieht Russland mit immer neuen Repressionsgesetzen, schreibt die Autorin Alissa Ganijewa in der FAZ. Vor den anstehenden Wahlen in Russland muss jeder, der nur ansatzweise wagt, den Mund aufzumachen, damit rechnen, zum ausländischen Agenten erklärt zu werden. Gegenkandidaten zu Putin kann es gar nicht mehr geben: "Die Philologin und Politikerin Julia Galjamina bekam eine Bewährungsstrafe aufgrund des sogenannten 'Dadin-Paragrafen', wonach Ordnungswidrigkeiten wie die Beteiligung an friedlichen Mahnwachen, wenn sie sich wiederholen, zur Straftat werden. Der Oppositionspolitiker Dmitrij Gudkow floh nach Hausdurchsuchungen und nach Androhung eines Strafverfahrens ins Ausland. Die Nawalny-Mitstreiterin Ljubow Sobol emigrierte - sie war zu einem Jahr 'Besserungsarbeit' verurteilt worden, weil sie den Major, der an Nawalnys Vergiftung beteiligt war, an seiner Wohnungstür aufsuchte."

In der SZ wundert sich Nils Minkmar, dass im Wahlkampf so wenig von Europa die Rede ist: "Niemand traut sich, das geplagte Publikum mit der Mitteilung zu beschweren, dass der Nationalstaat nur noch für Paraden und Folklore gut ist, dass wir nicht nur größere Institutionen und bessere Verfahren brauchen, sondern auch ein neues Personal und eine entsprechende mediale Begleitung - alles neu also. Doch der deutsche Politzirkus agiert einstweilen wie der französische: Wenn nur Person x in Paris oder Berlin die Exekutive leitet, die passende Fraktion die Mehrheit hat, dann entsteht schon eine Politik, die die Probleme löst. Die Erfahrung aber lehrt etwas anderes: die politische Selbstverzwergung Europas stärkt die Feinde der offenen Gesellschaft, verschärft die ökologischen und sozialen Probleme und fördert das Unbehagen an der Gegenwart."

Außerdem: In der FAZ zeichnet Jürg Altwegg ein Stimmungsbild aus Frankreich, wo Emmanuel Macron es im nächsten Jahr wohl doch wieder schaffen wird, sich gegen Rot und Braun (die übrigens in Impfskepsis vereint sind) durchzusetzen.
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Politik

Die Opioid-Krise in den USA hat 600.000 Menschen das Leben gekostet, schreibt Chris McGreal, Autor des Buchs "American Overdose: The Opioid Tragedy in Three Acts", im Guardian. Die für ihr Kunstmäzenatentum bekannte Sackler-Familie wird reicher aus der Krise hervorgehen, als sie hineingegangen ist. Sie ließ ihr Unternehmen Purdue Pharma, die die legale Droge Oxycontin jahrelang in den Markt drückte, einfach für bankrott erklären: "Das Konkursverfahren hat ihnen jedoch weitreichende Immunität vor weiteren Zivilklagen im Zusammenhang mit der Opioid-Krise gewährt, ohne dass ein Fehlverhalten eingeräumt wurde. Im Gegenzug für eine Zahlung von 4,5 Milliarden Dollar, weniger als die Hälfte ihrer Einnahmen aus Purdue, müssen die Sacklers als Einzelpersonen keinen Privatkonkurs anmelden."
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Ideen

Rassismus und Antisemitismus waren in Deutschland untrennbar verwoben, schreibt die Historikerin Mirjam Brusius in einem Essay für die Berliner Zeitung. Diese Verflechtung wird ihr dann zum Argument, um auf die Moses-Debatte zurückzukommen, die von vielen Historikern mit Verwunderung betrachtet werde - unter anderem weil eine "mediale Verbotspolitik" die Debatte erschwere. Und warum spricht man von einem "Historikerstreit 2.0", wenn an der Debatte kaum Historiker beteiligt seien? Und Nicht-Historiker vermisst Brusius außerdem: "Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass vor allem die Stimmen jüdischer, nicht-weißer, queerer Autor:innen oder jener mit Behinderung in ihrer politischen Bandbreite fehlen, obwohl diese in den Debatten zu Holocaust und Kolonialgeschichte besonders wichtig wären. Daran schließt die Frage an, wer in der nach wie vor zu homogenen deutschen Wissenschafts- und Debattenlandschaft überhaupt Zugang erhält, Geschichte zu schreiben."
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Gesellschaft

"Viele rechte Positionen sind doch inzwischen Mainstream", glauben die Sozialpsychologin Pia Lamberty und der Regisseur Christian Schwochow im Gespräch mit der SZ. Sie wünschen sich mehr klare Kante in der Politik - wie in Amerika, meint Lamberty: "Bei der Trump-Abwahl wurden oft Reden von ihm unterbrochen, und dann wurde gesagt, das stimmt nicht, wir müssen das jetzt einordnen. Ich hatte gehofft, dass das eine Dynamik auslöst und nicht Meinungen und Fakten immer weiter verschmelzen. Wenn ich eine Gesellschaft daran gewöhne, dass Fakten Ansichtssache sind, wie soll sie das dann bei Nazis unterscheiden? Da würde ein Menschenbild helfen, das Leute wieder mehr herausfordert, ihnen etwas zumutet und das getragen ist von der Überzeugung - die kriegen das schon hin."

Auch über linke Schandtaten wird in Deutschland nur ungern geredet, kritisiert Anna Staroselski in der Welt. Über die RAF und den 5. September 1972 beispielsweise, als eine Gruppe palästinensischer Terroristen das Quartier der israelischen Mannschaft bei den die Olympischen Spielen in München überfiel, die Sportler Mosche Weinberg und Jossef Romano  ermordete und weitere neun Mitglieder des israelische Teams als Geiseln nahm. "Die palästinensische Terrorgruppe 'Schwarzer September' wollte damit die Freilassung von 232 palästinensischen Häftlingen aus israelischer sowie die kürzlich inhaftierten RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof aus deutscher Haft freipressen. Zu einem Gefangenenaustausch kam es nicht, und die deutschen Sicherheitsbehörden versagten bei dem Versuch, die israelischen Sportler aus der Geiselhaft zu befreien. Jeder Einzelne der neun israelischen Olympiasportler wurde durch die palästinensischen Terroristen ermordet. ... Belegt ist, dass die palästinensische Terrorgruppe 'Schwarzer September' bei diesem Anschlag unter anderem durch die 'Nationalsozialistische Kampfgruppe Großdeutschland' unterstützt wurde. Bis heute sind jedoch viele Akten zu diesem Anschlag als Verschlusssache eingestuft."

In Zeit online streiten Zentralratspräsident Josef Schuster und Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, über die Frage, wer als Jude gelten darf - auch "Vaterjuden"? Schuster ist kategorisch: "Jude ist per Definition, das heißt nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, wer entweder eine jüdische Mutter hat oder vor einem Rabbinatsgericht zum Judentum übergetreten ist. Punkt. Ende der Definition meinerseits."
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Medien

Kafka lebt! Bert Schulz erzählt in der taz, wie der sogenannte "Beitragsservice", die ehemalige GEZ, von ihm 888 Euro nachforderte, obwohl er stets brav (und "gern") für die Öffentlich-Rechtlichen bezahlt hatte. Der taz, wo er arbeitet, wurde ein Pfändungsbescheid geschickt. Schulz machte nun eine seltsame Erfahrung. Berliner Behörden, vom Finanzamt bis zu den Meldeämtern, halfen ihm bereitwillig bei seinem Versuch, seinen legalen Status nachzuweisen, und er bekam tatsächlich die "erweiterte Meldebescheinigung", die er bei der GEZ vorzeigen sollte: "Endlich also konnte ich beweisen, dass die vom Beitragsservice genannte Adresse seit November 2002 weder registriert war, noch ich eine Zweitwohnung hatte. Die Bescheinigung reichte ich online ein. Und bereits nach zehn Tagen hatte ich Antwort. Eine Nachforderung von 1.246,50 Euro."
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