9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Jobs bei Goldman Sachs

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2021. Das texanische Abtreibungsgesetz sorgt weiterhin für Entsetzen. Für Zeit online ist es der Höhepunkt eines immer schärferen Kulturkampfes in Amerika. Viele Frauen werden aufgrund des Gesetzes sterben, fürchtet Rebecca Solnit im Guardian. Das NY Mag berichtet bereits über "Abtreibungsflüchtlinge" in Nachbarstaaten Texas'. "Es gibt nichts Leereres als das Konzept der Arbeiterkultur", sagt der Gesellschaftstheoretiker Walter Benn Michaels in der Welt.  Der russische Autor Valery Schubinsky erinnert in der NZZ an die Belagerung Leningrads durch die Deutschen vor achtzig Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.09.2021 finden Sie hier

Politik

Zeit-Korrespondentin Rieke Havertz beschreibt das sadistische texanische Abtreibungsgesetz, das Bürger auffordert, Frauen, die abtreiben, und Ärzte zu denunzieren und dafür eine Belohnung von 10.000 Dollar einzustreichen als Höhepunkt eines amerikanischen Kulturkampfes. Im Moment sehen sich die Abtreibungsgegner durch den Supreme Court bestärkt, der durch Donald Trumps Interventionen eine konservative Mehrheit hat und gegen das texanische Gesetz nichts unternommen hat - obwohl es als verfassungsfeindlich gilt. Das texanische Gesetz ist nurn das bisher extremste Beispiel: "Laut dem Guttmacher Institute, das sich für Frauenrechte einsetzt, wurden allein in der ersten Jahreshälfte 2021 90 Neuregelungen in den Vereinigten Staaten erlassen, die Schwangerschaftsabbrüche erschweren. Mehr als in jedem anderen Jahr, seit Roe v. Wade 1973 in Kraft trat. Im gesamten Bundesstaat Mississippi etwa gibt es nur noch eine einzige Klinik, in der Frauen legal einen Eingriff vornehmen lassen können. Oft erschweren die weiten Wege und großen Einschränkungen vor allem ärmeren Frauen einen Abbruch."

Schon jetzt gibt es Abtreibungsflüchtlinge in den Nachbarstaaten Texas', berichtet Melissa Jeltsen im New York Magazine: "Kliniken in Oklahoma, Louisiana, New Mexico, Colorado und Kansas werden von einer Flut von schwangeren Menschen (sic!) überschwemmt, die im Wettlauf mit der Zeit eine Behandlung benötigen. Doch in vielen dieser Bundesstaaten haben die jahrelangen Angriffe der Abtreibungsgegner die bestehende Infrastruktur im Bereich der reproduktiven Gesundheit ausgehöhlt und ein zerbrechliches System hinterlassen, das für die zusätzliche Nachfrage schlecht gerüstet ist."

Dies Gesetz "wird eine Frau, die Angst hat, schwanger zu sein, in einen schrecklichen Zustand ängstlichen Schweigens stürzen, weil absolut jeder von ihrem Zustand profitieren kann und jeder, der ihr hilft, vom Fahrer bis zum Arzt, haftbar ist", schreibt Rebecca Solnit im Guardian. "Es macht die Schwangerschaft zu einem Verbrechen, da es zu einer weiteren Kriminalisierung auch des beträchtlichen Prozentsatzes von Schwangerschaften führen kann, die mit einer Fehlgeburt enden. Es wird dazu führen, dass Frauen - insbesondere Frauen ohne Papiere, arme Frauen, junge Frauen, Frauen gewalttätiger Ehemänner oder Familien - durch lebensbedrohliche Schwangerschaften, illegale Abtreibungen oder Selbstmord aus Verzweiflung sterben."

Der Krieg in Afghanistan wird gern im Kontext eines "Kriegs der Kulturen" gesehen, aber der Drogenaspekt wird dabei übersehen - nur ist es so, dass es der Drogenhandel ist, der das Land total korrumpierte, schreibt Claudius Seidl in der FAZ: "Wenn man dazu in Rechnung stellt, dass die Bestechungsgelder aus diesem Drogengeschäft nahezu alle Entscheidungen der Politik und Verwaltung beeinflussen, bis hin zu den Straßen, die nach den Bedürfnissen der Schmuggler gebaut werden; wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der Wert des Opiums den gesamten Wert aller anderen Exporte Afghanistans übersteigt; wenn man weiterhin bedenkt, dass nahezu die gesamte legale Wirtschaft des Landes von internationalen Hilfsgeldern abhängig ist: dann offenbart sich eben, dass der Zusammenbruch der Opiumwirtschaft für das Volk ein noch größeres Unglück wäre, als es jetzt die Herrschaft der Taliban ist."

Wenn sie sich gut aufführen, will man den Taliban Hilfsgelder zukommen lassen, so zur Zeit der etwas hilflos anmutende Plan der Bundesregierung. "Das ist so einfältig und so naiv, als hätte jemand Anfang der vierziger Jahre vorgeschlagen, die Lage der Juden in den von Deutschen besetzten Gebieten in Zusammenarbeit mit den Nazis zu verbessern", wehrt Henryk M. Broder in der Welt stöhnend ab. "Wer ein Land innerhalb weniger Wochen unter seine Kontrolle bringen kann, der sollte auch imstande sein, es zu regieren. Afghanistan ist immer noch ein souveräner Staat, mit einem Sitz in den UN, Mitglied der Organisation für islamische Zusammenarbeit, der WHO und des Weltpostvereins. Afghanistan ist auch ein reiches Land, voller Bodenschätze. Dagegen ist die Bundesrepublik ein Armenhaus mit einem Kohlenkeller. Es gibt keine historischen Bande zwischen Afghanistan und Deutschland, anders als zwischen Deutschland und Deutsch-Südwest, Togo, Kamerun und den Palau-Inseln. Von den Ortskräften, die für deutsche Einrichtungen gearbeitet haben, einmal abgesehen, steht Deutschland in keiner Bringschuld gegenüber den Einwohnern des Landes."
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Ideen

Im Interview mit der Welt spricht der Gesellschaftstheoretiker Walter Benn Michaels über sein Buch "Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren", das 15 Jahre nach seinem Erscheinen erstmals auf Deutsch veröffentlicht wird. Seiner Ansicht nach ist der Streit um Identität eher ein Hemmschuh auf dem Weg zu mehr Gleichheit. Das sehe man vor allem an den Versuchen, jetzt auch die Klasse als Identitätsfrage zu diskutieren: "Man tut nichts für die Arbeiterklasse, wenn man die Leute dazu bringt, mehr Respekt vor ihr zu haben. Die britischen Tories lieben es, die Arbeiterklasse zu respektieren, innerhalb einer Hierarchie, in der jeder seinen Platz hat: Der Bauer ist genauso wichtig wie der Adelige. Bei Marx geht es nicht um Respekt für die Arbeiterklasse, und auch nicht um Respekt für ihre Werte oder Kultur. Es gibt nichts Leereres als das Konzept der Arbeiterkultur. Klassenbewusstsein ist der Produktion einer Gesellschaft gewidmet, in der es die Arbeiterklasse nicht mehr gibt." Da sei der Ruf nach Diversität reine Ablenkung, was auch die Unternehmen erkannt hätten, die "Milliarden und Abermilliarden zur Unterstützung von Black Lives Matter zugesagt haben, [aber] keinen Penny zur Abschaffung des Privateigentums zusagen würden. Und schauen Sie sich doch all die Kids in Harvard, Yale, schwarze Kids, braune Kids an. Sie alle werden diese Jobs bei Goldman Sachs annehmen, weil es nichts an Black Lives Matter gibt, was dem Geschäftsmodell eines Unternehmens grundsätzlich widerspricht."
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Gesellschaft

Es gibt viel Widerstand gegen Jens Spahns Idee, dass Angestellte beim Arbeitgeber ihren Impfstatus angeben müssen. Susanne Knaul findet das im taz-Kommentar sehr ärgerlich: "Ich möchte wissen, wer von meinen KollegInnen noch nicht vollständig geimpft ist, um dann entsprechend auf Abstand zu gehen oder meine FFP2-Maske hervorzukramen. Zu viel verlangt? Viel zu wenig! Die Ungeimpften sollten ins Homeoffice verwiesen werden oder auf eigene Kosten so lange beurlaubt, bis sie infiziert, erkrankt und wieder genesen sind. Beim US-Fernsehsender CNN gibt es schon Kündigungen - hart, aber verständlich." Mit einer Informationspflicht, so Knaul, "wird die Privatsphähre nicht maßgeblich verletzt".

Andrian Kreye sieht das in der SZ ähnlich, eine Impfverpflichtung, oder zumindest die Verpflichtung, seinen Status anzugeben, sind keine Einschränkungen von Freiheit: "Der Besuch eines Theaters, die gemeinsame Verspeisung eines Schweinebratens oder die Leibesertüchtigung in einem Verein sind normalerweise Selbstverständlichkeiten, die das Grundgesetz garantiert. Wenn solche Alltäglichkeiten allerdings dazu führen, dass man sich oder andere gefährdet, wiegt das schwerer. Ist die Gefahr vorüber, gelten die Grund- und Freiheitsrechte automatisch wieder."

Micha Brumlik legt in der taz ausführlich dar, wer heute als Jude gelten darf, und warum diese Frage wichtig ist. Anlass ist der Streit zwischen Maxim Biller und Max Czollek, der sich als kritische jüdische Stimme versteht, dabei aber vergaß mitzuteilen, dass er nur einen jüdischen Großvater hat (unsere Resümees). Brumlik ist nicht einverstanden mit Ronen Steinkes Vorschlag, dass als Jude gelten soll, wer sich als Jude versteht. Aber er ist für ein Abgehen vom Prinzip der Matrilinearität: "Das heißt heute praktisch, dass die liberale, die Allgemeine Rabbiner Konferenz in Deutschland Menschen, die einen jüdischen Vater haben und die von ihm auch jüdisch erzogen wurden, einen erleichterten, niedrigschwelligen Übertritt anbietet. Der Autor dieser Zeilen hält genau diese Regelung für vernünftig und richtig. Haben doch Rituale - so der Übertritt - ihren guten Sinn: Sie bekräftigen nach anerkannten symbolischen Regeln einen Status oder eine Haltung, sind also mehr als nur Ausdruck einer individuellen Entscheidung, sondern zugleich Ausdruck einer intersubjektiven Anerkennung der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft."
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Überwachung

Apple ist in den letzten Monaten durch Pläne, die Handys seiner Nutzer automatisch zu durchsuchen, ins Gerede gekommen. Edward Snowden war einer der prominentesten Gegner dieser Maßnahme (unser Resümee und mehr hier). Markus Reuter und Holly Hildebrand berichten nun in Netzpolitik, dass Apple die Pläne vorerst zurückstellt: "Die kommenden Monate werden zeigen, ob Apple die Pläne weiter verfolgt oder tatsächlich von ihnen abrückt. In der Vergangenheit haben große Unternehmen solche Verschiebungen genutzt, um eine Protestwelle abflauen zu lassen. Dies war beispielsweise bei WhatsApp und der Einführung neuer Geschäftsbedingungen der Fall."
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Geschichte

Der russische Autor Valery Schubinsky erinnert in der NZZ an die Belagerung von Leningrad durch die Deutschen vor achtzig Jahren. Er erzählt, wie er selbst in der Stadt nach dem Krieg aufwuchs und wie die Traumatisierung fortwirkte. Die quälendste Frage, die man sich nicht getraut habe zu stellen, sei gewesen: Warum hat man nicht kapituliert und statt dessen eine Million Tote hingenommen? Aber in Wirklichkeit war Kapitulation keine Option: "Die Vororte waren bereits besetzt. In Puschkin erlebten 50.000 Einwohner den Einmarsch der Wehrmacht. Gleich in den ersten Tagen wurden die Juden - 1.500 - ermordet. Über 6.000 weitere Bürger wurden mit der Zeit aus diversen Gründen - von verdächtig 'jüdischem' Aussehen bis zum Fehlen von Ausweispapieren - erschossen. 18.000 wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Die überwältigende Mehrheit aller anderen starb an Unterernährung und Erfrierung."
Archiv: Geschichte