9punkt - Die Debattenrundschau

Das Ende des Zeitalters der Lässigkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2021. In der FAZ antwortet Jochen Buchsteiner auf Navid Kermani: Nein, die Afghanen wollen keine westlichen Werte. Wer stößt in das Vakuum, das die Amerikaner hinterlassen: der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Saudi Arabien?, fragt der Guardian. Chinesischer oder russischer Imperialismus anyone?, fragt Politico. Europa streitet derweil über die Aufnahme von 40.000 bis 50.000 afghanischen Flüchtlingen, berichtet Zeit online. Und: Was Lukaschenko an der belarussischen Grenze zur EU aufführt, ist hybride Kriegsführung, warnt bei Politico die lettische Innenministerin Marija Golubeva.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.09.2021 finden Sie hier

Politik

In der FAZ antwortet Korrespondent Jochen Buchsteiner auf Navid Kermani: Nein, eine Demokratisierung Afghanistans konnte nicht gelingen, anders als Kermani behauptet hat (unser Resümee), sind westliche Werte dort nicht erwünscht, glaubt er. "Die Taliban, die offen für das Zurückdrehen der Uhren kämpften, konnten der militärischen und finanziellen Übermacht des Westens nur deshalb trotzen, weil ihr Ziel von einer stillen Mehrheit im Land geteilt wurde. Am Anfang einer ehrlichen Betrachtung der 'westlichen Selbstverstümmelung' in Afghanistan sollte daher die Einsicht stehen, dass andere Kulturen andere Kulturen sind." Und auch, dass es so viele Afghanen in den Westen zieht, ist für Buchsteiner kein Beleg dafür, dass sie unsere Demokratie schätzen: Sie kämen "nicht wegen, sondern trotz" unserer Freiheiten. Sie kommen, weil sie der Westen (anders als etwa China) kommen lässt und weil sie dort mehr finanzielle Unterstützung erwartet als irgendwo anders." Das erklärt aber noch nicht, warum sie Afghanistan überhaupt verlassen wollen, wenn sie doch die Werte der Taliban teilen.

Viele afghanische Frauen dürften das im übrigen anders sehen: Davon berichtet auch Düzen Tekkal, Mitgründerin von "Defend Afghan Women's Rights", die in der FAZ zitiert wird: "Tekkal berichtet von Lehrerinnen, die - wenn sie überhaupt noch unterrichten dürfen - in der Schule permanent von Taliban beobachtet werden. Ein kritisches Wort habe Konsequenzen, im schlimmsten Fall den Tod. Die Initiative warnt auch vor dem schwindenden Zeitfenster, in dem Afghanistan im Fokus der Weltöffentlichkeit verbleibt. 'Es fühlt sich so an, als würde Afghanistan von der Landkarte gestrichen werden', sagt Marjan Haidar vom 'Global Movement for Peace in Afghanistan'."

Der Westen und sein Völkerrecht haben versagt, in Afghanistan und oft genug auch anderswo, meint der Politikwissenschaftler H.A. Hellyer in politico. Aber bevor man darüber in Jubel ausbricht, sollte man überlegen, was folgen könnte: chinesischer oder russischer Imperialismus anyone? "Wenn Russlands Rolle in Syrien oder Pekings Politik in Bezug auf die Uiguren ein Hinweis darauf sind, dass sich der Westen immer mehr isoliert, könnte eine neue 'Weltordnung', die auf der Grundlage eines gemeinsamen chinesisch-russischen Imperativs gebildet wird, wahrscheinlich noch viel schlimmer aussehen als die fehlerhafte und heuchlerische Ordnung von heute. ... Wir sollten nicht naiv sein, was die letzten 20 Jahre gebracht haben. Sie waren voller Mängel, Fehler und Heuchelei. Aber wir sollten auch nicht so naiv sein und glauben, dass eine auf Regeln basierende internationale Ordnung von China oder Russland kommen wird. Der Rückzug der Amerikaner aus Afghanistan hat kein massives Erdbeben in einer Art mythischer, perfekter internationaler Ordnung ausgelöst, das ist wahr. Aber er sollte denjenigen, die wirklich an eine auf Regeln basierende Ordnung glauben, eine Mahnung sein, dass sie ziemlich schnell herausfinden müssen, wie sie eine neue chinesisch-russische Ordnung vermeiden können. Und das ist definitiv etwas, worüber man sich Sorgen machen sollte."

Auch der britisch-iranische Journalist Mohammad Ali Shabani fragt sich im Guardian, wer in das Vakuum stoßen wird, das die USA in Afghanistan hinterlassen haben. Der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Saudi Arabien? "Die regionale Politik wird unweigerlich viel unübersichtlicher werden", meint er. "So könnte der Iran erneut versuchen, Druck auf die Taliban auszuüben, indem er ihre Gegner in Afghanistan unterstützt, diesmal möglicherweise mit Hilfe von Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, einem Staat, der zuvor die Legitimität der Taliban-Herrschaft anerkannt hat. Andererseits könnte der anhaltende kalte Krieg zwischen Katar und den VAE trotz ihrer formellen Versöhnung auch auf afghanischen Boden übergreifen, wie es bereits in anderen Ländern wie Libyen geschehen ist. Wenn das Schlimmste dieser und anderer Konkurrenzen nicht durch ein rasches und umfassendes Engagement aller regionalen Akteure eingedämmt und geregelt wird, werden die Folgen nicht auf Afghanistan beschränkt bleiben."

Ganz zu schweigen vom ISKP (Islamischer Staat der Khorasan Provinz), der sich Rivalitäten innerhalb der Taliban zunutze macht, erklärt Antonio Giustozzi, Forscher zu Afghanistan und dem Islamischen Staat, ebenfalls im Guardian. "Der ISKP ist sich des Ausmaßes der derzeitigen Spannungen zwischen der Taliban-Führung im Süden und den Taliban-Netzwerken im Norden und Osten durchaus bewusst. Er hofft, einen Keil vor allem zwischen die südlichen und die östlichen Taliban zu treiben, unterhält aber auch Beziehungen zu den nordöstlichen Taliban. ... Das Kalkül der ISKP besteht also darin, die Widersprüche zwischen den südlichen und östlichen Taliban zur Explosion zu bringen. Die Spannungen waren bereits groß, da die vorgeschlagene Kabinettsliste, die vollständig von Süd-Taliban dominiert wurde, die Ost- und die Nord-Taliban verärgert hat. Der Angriff auf den Flughafen verschärfte den Streit noch, da die Ost-Taliban als erste in die Hauptstadt eindrangen, was zu Unmut bei der südlichen Führung führte, die sich als Herrin der Lage darstellen wollte. ... Die Taliban werden in der Tat einiges staatsmännisches Geschick brauchen, um zu verhindern, dass die ganze Show unrühmlich schnell in die Hose geht.

Es gibt übrigens auch in Russland eine Menge Afghanen, die jetzt nicht mehr wissen, wo sie hin sollen, erzählt Inna Hartwich in der taz. Die russischen "Behörden sind ebenfalls ratlos, was sie mit den etwa 500 afghanischen Studierenden im Land tun sollen. ... Russische Menschenrechtler*innen sprechen von mehreren Hunderttausenden Geflüchteten in ihrem Land. Offiziell haben lediglich 455 Menschen diesen Status. Der Kreml hat die Taliban - nach russischem Gesetz als Terrororganisation eingestuft und daher eigentlich verboten - als 'neue Realität' in Afghanistan jedoch längst akzeptiert. Moskau hatte bereits in den vergangenen Jahren keine Scheu, die bärtigen Mullahs zu empfangen, und sagt auch in diesen Tagen, die Taliban hätten sich geändert und gewährleisteten die Sicherheit. Afghan*innen, die auch die russische Staatsbürgerschaft besitzen, müssen in den meisten Fällen derzeit selbst schauen, wie sie aus Kabul herauskommen."
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Europa

Die Scham über die in Afghanistan Zurückgelassenen hat keine zwei Tage angehalten: Schon jetzt streiten die EU-Länder darüber ob und wenn ja wie viele Flüchtlinge wir allerhöchstens aufnehmen können. Es geht dabei laut tazler Eric Bonse um "40.000 bis 50.000 Resettlement-Plätze". Die EU steht mit ihren Ängsten allerdings nicht allein, berichtet Carsten Luther auf Zeit online. "Die usbekische Regierung betonte am Montag, die Grenze sei 'vollständig geschlossen' und man werde selbst keine afghanischen Geflüchteten aufnehmen. In Tadschikistan, dessen gebirgige Grenze ohnehin kaum zu kontrollieren ist, scheint das zumindest denkbar, wenn finanzielle Hilfen fließen und alle Nachbarländer ihren Teil tragen. Pakistan verlangt Pass und Visum bei der Einreise, will keine weiteren Geflüchteten aufnehmen, lässt die Grenze aber erst einmal geöffnet."
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Gesellschaft

Die Jungen können nicht verstehen, was mit 9/11 endete, meint Andrian Kreye in der SZ: Es "war ein Zeitalter der Lässigkeit, das mit den Jahren der Beatniks und des Modern Jazz begonnen hatte. Coolness, Ironie und die eigene Biografie waren die bestimmenden Größen für die Generationen gewesen. Es gab ein gefühltes Anrecht auf Wohlstand, Fortschritt und Pop. Warum auch nicht? Es waren goldene Jahre für so viele, die auf den Ausläufern der Nachkriegswirtschaftswunder durchs Leben glitten. Das hielt selbst noch, als die Generation X die erste Alterskohorte wurde, der es nicht mehr automatisch besser ging als ihren Eltern. Und der Ausdruck dieser Zeit waren eine Distanz zum Rest der Welt, die sich in ebenjener Lässigkeit manifestierte. Das funktionierte nur, solang der Gegenwind nicht zur stark war. In der Humorlosigkeit einer politisch und wirtschaftlich gespaltenen Gesellschaft haben Coolness und Ironie keinen Platz mehr."
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Stichwörter: 9/11, Coolness, Generation Z

Geschichte

Tilman Spreckelsen hat für die FAZ eine Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt besucht über Kinderemigration aus Frankfurt am Main in den dreißiger und vierziger Jahren: "Mindestens 600 Kinder aus Frankfurt am Main gelangten mit den Kindertransporten ins Ausland. Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 beleuchtet von heute an in seinen Ausstellungsräumen in der Deutschen Nationalbibliothek sechs Einzelschicksale, die bei allen Unterschieden doch Facetten eines Gesamtbilds ergeben. Dabei ist jedem der sechs Kinder ein Kabinett gewidmet, das Fotos, Briefe, amtliche Dokumente und andere Zeugnisse enthält. ... In diesem Zusammenhang spielen die Fotos eine wichtige Rolle. Denn das Ziel der Ausstellung ist offensichtlich, auf eine Kontinuität der Lebensläufe zu verweisen, darauf, dass diese Biografien mit der Migration weder enden noch anfangen".
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