9punkt - Die Debattenrundschau

Ihre Haltung zur Kultur ist unverändert geblieben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2021. Die Taliban in Kabul mögen Kreide gefressen haben, die Taliban in der Provinz ermorden Musiker, berichtet Libération. Die New York Times fragt: Was wird jetzt aus Afghanistan und all den Waffen, die die Amerikaner zurücklassen. Die taz bringt ein Dossier zum 11. September - und setzt sich unter anderem kritisch mit dem "Truther" Mathias Bröckers aus den eigenen Reihen auseinander. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko schleust weiter Flüchtlinge in EU-Länder. Das ist eine Art der hybriden Kriegsführung, schreibt die lettische Innenministerin Marija Golubeva bei politico.eu. Die FAZ fragt: Was treibt A. Dirk Moses?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.08.2021 finden Sie hier

Politik

Die Amerikaner sind abgezogen. Thomas Gibbons-Neff fragt in der New York Times, was nun aus Afghanistan wird: "Im Gegensatz zu den besiegten Sowjets hinterließen die Amerikaner keine mit zerstörten Panzerfahrzeugen übersäte Landschaft. Stattdessen bleiben da alle Waffen und Ausrüstungen der Amerikaner, die nun für die Versorgung der siegreichen Taliban auf Jahre hinaus zur Verfügung stehen - Ergebnis von zwei Jahrzehnten und 83 Milliarden Dollar für die Ausbildung und Ausrüstung eines afghanischen Militärs und Polizei, die angesichts der schlechten Führung und der schwindenden Unterstützung durch die USA zusammengebrochen waren."

Die Zentral-Taliban von Kabul haben im Moment noch Kreide gefressen. Aber es ist längst schon zu Gewalttaten gekommen, berichtet Alexandre Liagouras in Libération: "Die letzte war am Samstag. Der Folk-Sänger Fawad Andarabi wurde neben seinem Haus in der Provinz Baghlan durch einen Schuss in den Kopf ermordet. Er war sehr beliebt, vor allem wegen seiner Lieder über Afghanistan und seine Berge. Doch das neue Regime, das Afghanistan kontrolliert, duldet Musik nicht. Während ihrer ersten Regierungszeit (1996-2001) wandten die Taliban eine strenge Version des islamischen Rechts an und schufen ein kulturelles Vakuum: Musik, Theater, Kino und Tanz waren verboten. Während die Taliban Maßnahmen zur Stärkung der Rechte von Frauen in den Bereichen Bildung und Arbeit angekündigt haben, ist ihre Haltung zur Kultur unverändert geblieben."

Die taz bringt ein Dossier zum Jahrestag des 11. September. Die beiden Redakteurinnen Tanja Tricarico und Harriet Wolff stellen im Editorial die dann doch etwas suggestiv klingenden Fragen: "Was bleibt, außer gescheiterten und letztlich verheerenden Militäreinsätzen in Afghanistan und im Irak, dem misslungenen Versuch, demokratische Staaten aufzubauen, und der trügerischen Hoffnung, die Keimzellen islamistischen Terrors auszumerzen?"

Sven Hansen stellt dem Islamwissenschaftler Guido Steinberg die Frage, ob der Einsatz in Afghanistan und danach im Irak den Amerikanern nicht "zum neoimperialistischen Projekt zur Durchsetzung hegemonialer Ziele" geriet. Steinberg antwortet: "Das ist nicht mein Vokabular, aber die Beschreibung ist richtig... Bush griff den Irak auch an, um dort einen 'Leuchtturm der Demokratie' zu schaffen, der die Region refomieren und so die Entstehung von Terrororganisationen verhindern sollte. Schon damals eine absurde Idee."

Bernd Pickert schreibt im taz-Dossier über die Verschwörungstheorien, die zum 11. September zirkulierten - mit kritischen Anmerkungen auch zu einem einflussreichen tazler (und kürzlich noch Mitherausgeber des Buchs zum vierzigsten Jubiläum der taz) Mathias Bröckers: "Ex-tazler Mathias Bröckers, der zunächst mit durchaus journalistischen Fragestellungen an die Anschläge herangegangen war und auf tatsächliche Ungereimtheiten und verfrühte Schlüsse hingewiesen hatte, verzettelte sich dann in den Wirren der 'Truther'-Szene. Er gehört zu den Gründern und zum Freundeskreis des Rubikon-Verlags, auf dessen Homepage sich sowohl alles Mögliche zu 9/11 findet als auch Texte über und gegen die 'Coronadiktatur'. Bröckers wurde fester Gast von Ken Jebsens 'KenFM' - und schrieb ein Buch über den selbsterklärten großen Aufklärer Jebsen, der damals noch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Verschwörungsthesen über 9/11 verbreitet hatte und heute ein Medienstar der Coronaleugner-Bewegung ist. "

Und Andreas Fanizadeh schreibt in einem Essay über den möglichen Schutzraum für Terrorismus, der nun in Afghanistan wieder entstehen könnte: "Der Krieg gegen den islamistischen Terror ist nicht frei von Fehlern und Vergehen. Die Ursache für den islamistischen Terror ist er nicht."

Der Historiker Bernd Roeck erinnert in der NZZ angesichts der Taliban, die Gott für ihren Sieg danken, an die Religionskriege in Europa: "Ungewollt war durch die Gotteskrieger in Wien, Stockholm und Madrid dem weltanschaulich neutralen Staat der Boden bereitet worden. Doch hatte der 'Westen' für den Säkularisierungsschub, den die Religionskriege auslösten, teuer bezahlt. Sie brachten namenloses Leid über die Völker und kosteten Abermillionen das Leben."

Die USA wussten nicht, was sie wollten, darum sind sie in Afghanistan gescheitert, meint im Interview mit der FR der britische Historiker Peter Frankopan. "Sie hatten keinen Plan; und die Umsetzung der Politik war eine Katastrophe. Dies ist eine Tragödie für die Tausenden von tapferen jungen Soldaten und Soldatinnen, die von den USA und ihren Verbündeten entsandt wurden und die ihr Leben verloren haben, und für die vielen Zehntausenden, die durch die Intervention verletzt und beeinträchtigt wurden. Aber es war auch eine Katastrophe für die Menschen in Afghanistan. Es war nie klar, was die Ziele und Absichten waren, abgesehen davon, Osama bin Laden zu finden. Aber die USA haben systematische Korruption und Ineffizienz ermöglicht und die Augen davor verschlossen, und sie haben so die Grundlage für das Wiedererstarken der Taliban gelegt."
Archiv: Politik

Europa

Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko scheint mit seiner sehr spezifischen Art der Flüchtlingspolitik fortzufahren. Laut der lettischen Innenministerin Marija Golubeva, die in politico.eu schreibt, schleust er nach wie vor Flüchtlinge über die Grenzen zu Lettland, Litauen und Polen. Golubeva fordert die EU auf sich zu wehren. "Lukaschenkos Plan ist einfach: Die Aufnahme- und Asylsysteme der EU mit einem neuen Strom irregulärer Migration zu überschwemmen und unsere Krisenfähigkeit auf die Probe zustellen. Dies ist nichts anderes als eine Form der hybriden Kriegsführung, die die Grauzone zwischen Frieden, Krise und Krieg ausnutzt. Und die Situation eskaliert immer weiter. So darf es nicht weitergehen. Die EU muss ihre Außengrenzen wirksam schützen und jeden illegalen Grenzübertritt verhindern. Durch eine genaue Beobachtung der Migrations- und Sicherheitslage sollte die EU neue Instrumente entwickeln, um Versuche, die illegale Migration für politische Zwecke zu instrumentalisieren, abzuschrecken und dagegen vorzugehen, sowohl jetzt als auch in Zukunft."
Archiv: Europa

Internet

China verbietet Online-Spiele für Personen unter 18 Jahren fast völlig, berichtet unter anderem heise.de: "Laut offiziellen Angaben soll das Verbot 'die körperliche und geistige Gesundheit Minderjähriger' schützen. Es ist mit einem strikten Registrierungszwang verbunden. Online-Spiele ohne vorherige Nutzerregistrierung unter Klarnamen sind in der Diktatur seit 2019 illegal. Zahlungen dürfen nur über bestimmte, staatlich vorgegebene Schnittstellen erfolgen."
Archiv: Internet

Ideen

Thomas Thiel kommt in der FAZ auf die Debatte um A. Dirk Moses zurück, dessen Thesen zur Vergangenheitsbewältigung und zum Holocaust nur dazu dienten, Israel zu delegitimieren. Thiel empfiehlt einen Text von Andreas Harstel in den "Hallischen Jahrbüchern" zum Urvater des Postkolonialismus, Edward Said, der bereits daran arbeite, die Muslime als neue Opfer eines dem Antisemitismus gleichkommenden Hasses dastehen zu lassen. Dies erkläre auch "den aggressiven Ton gegen Israel, den postkoloniale Texte regelmäßig anschlagen. Der jüdische Staat muss zum maximalen Aggressor gemacht werden, um das Leid von Muslimen dem historischen Leid von Juden kommensurabel erscheinen zu lassen. Das geforderte Recht, die heutige Diskriminierung und Verfolgung von Juden und Muslimen zu vergleichen, läuft auch bei Moses auf einen Rollentausch hinaus: Der Muslim ist der neue Jude."

Eigentlich gibt es enorm viel Wissen über die Transformation von failed states oder Diktaturen in Demokratien, meint Caroline Fetscher im Tagesspiegel. "Material und Wissen existiert unter anderem aus Deutschland und Japan nach 1945, aus Südkorea, Osttimor, aus Bosnien, dem Kosovo, dem Irak, aus dem Libanon, aus Albanien, aus Ruanda, aus Südafrika, aus Afghanistan. Auch die Erfahrung aus der Transformation der postsowjetischen Gesellschaften zu Demokratien darf dieser Kategorie zugerechnet werden: Transformationswissen. Eine kostbare, immaterielle Ressource." Nur leider schwer zu finden." Was fehlt, so Fetscher, ist "ein institutionelles Gedächtnis. Wissen und Erfahrung müssten an einer Internationale Akademie für Studien zur Transformation konstant aufbereitet, aktualisiert, koordiniert und weitergereicht werden. Doch diesen Ort gibt es nicht. De facto fehlt das lebendige, verantwortungsvoll gehegte Archiv mit Training für die Praxis."
Archiv: Ideen