9punkt - Die Debattenrundschau

Auf Kreolisch keineswegs ein Schimpfwort

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2021. Zweimal Karibik: Hans Christoph Buch erzählt in der NZZ, wie kompliziert das etwa in Haiti mit dem Rassismus ist, und wie wenig die Begrifflichkeiten der Antirassisten greifen, um die Verhältnisse vor Ort zu beschreiben. Und politico.eu berichtet über  ein krasses Missverhältnis zwischen dem "metropolitanen" Frankreich und den Inseln in der Karbik, wo sich die Menschen nicht impfen lassen wollen. Laut dem Historiker Bernd Greiner in der FAZ beherrschen die Amerikaner nur eins, das " Handwerk der Einschüchterung, Nötigung und Erpressung". Die taz erinnert an die Gleichgültigkeit, mit der das deutsche Publikum zuletzt die Anschläge in Afghanistan zuletzt wahrnahm.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.08.2021 finden Sie hier

Ideen

Die Woke-Bewegung macht es sich zu einfach, wenn sie glaubt, sie wisse ja ganz genau, was Rassismus sei, meint Hans Christoph Buch in der NZZ und verweist als Beispiel auf Haitis Verfassung von 1804. Danach sind "alle Bürger Haitis, auch Deutsche und Polen, die aus Napoleons Armee desertiert waren und sich den Ex-Sklaven angeschlossen hatten, 'Neger' - auf Kreolisch keineswegs ein Schimpfwort, sondern gleichbedeutend mit Mensch. Jovenel Moïse etwa, der kürzlich ermordete Präsident, hieß im Volksmund 'nèg banann', weil er vor dem Einstieg in die Politik Bananen exportiert hatte. All das war und ist unvereinbar mit der politischen Korrektheit derer, die sich, um sich selber und anderen ihre Fortschrittlichkeit zu beweisen, als Sprachpolizisten betätigen. Und das umso mehr in einem Inselstaat, dessen Oberschicht als 'bourgeoisie mulâtre' bezeichnet wird. Der von der schwarzen Mehrheit gewählte Präsident hat die politische, die 'Mulattenbourgeoisie' hat die wirtschaftliche Macht. Diese Arbeitsteilung funktionierte jahrzehntelang mehr schlecht als recht, doch die Erörterung solcher Fragen wird zum Eiertanz, wenn es verboten ist, die Dinge - sprich: die Akteure - beim Namen zu nennen."

Der Historiker Bernd Greiner, der demnächst das Buch "Made in Washington - Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben" veröffentlicht, hat das Geheimnis amerikanischen Handelns in den letzten hundert Jahren gefunden. Das Land, erklärt er auf einer Seite in der FAZ, agiere in panischer Angst um seine Glaubwürdigkeit: "Politisch stilbildend war und ist die Überzeugung, dass eine Hegemonialmacht nicht nur, aber in erster Linie das Handwerk der Einschüchterung, Nötigung und Erpressung beherrschen muss. Und dass die Vereinigten Staaten bei Strafe des Abstiegs in eine untere Gewichtsklasse eine Maxime nie aus den Augen verlieren dürfen: Macht beruht auf Angst, eine Führungsmacht, deren Gewaltbereitschaft in Frage steht, verdammt sich selbst zur Ohnmacht. Ob dergleichen als Abschreckung oder Realpolitik etikettiert wird, spielt am Ende keine Rolle. "

Außerdem: in der NZZ argumentiert die Literaturwissenschaftlerin Zsuzsa Breier gegen Angriffe auf den Kanon im Namen der "Cancel Culture".
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Europa

Der in der NZZ kommentierende Politologe Eckhard Jesse sieht Linkspartei und AfD in den bevorstehenden Bundestagswahlen als zwei unscharfe Außenseiter, die beide eher mit Verlusten zu rechnen haben: "Die Aussage, Die Linke habe sich entradikalisiert und die AfD sich radikalisiert, stimmt zwar, ist angesichts der Ausgangslage aber lediglich die halbe Wahrheit. Schließlich war die postkommunistische Kraft anfangs im Kern antidemokratisch und die AfD in der Gründungsphase demokratisch. Mittlerweile sind die beiden Parteien in einer Art Grauzone angesiedelt, was die Haltung zur 'Systemfrage' betrifft."

Covid-19 hat einen Abgrund zwischen dem "metropolitanen" Frankreich und den Inseln in der Karibik offen gelegt, erzählt Clémence Apetogbor bei politico.eu. Auf den Inseln sind die Toten im Moment kaum mehr zu zählen, die Radiostationen mussten ihr Sendeplätze für Nachrufe auf eine Stunde ausdehnen: "Während der Anstieg der Covid-19-Infektionen auf dem französischen Festland im Sommer weniger Krankenhauseinweisungen und Todesfälle als bei den vorangegangenen Wellen zur Folge hatte, führte eine fehlgeschlagene Impfkampagne auf den Inseln, die durch das Misstrauen gegenüber den nationalen Behörden - insbesondere in Gesundheitsfragen - behindert wurde, zu dem, was Ärzte vor Ort als eine Kriegsszenerie' beschreiben. Der Unterschied zwischen den Inseln und dem Festland ist deutlich: 62,9 Prozent der französischen Gesamtbevölkerung sind bis zum 25. August vollständig geimpft. Auf den Inseln sind es nur ein Drittel davon. Auf Martinique sind nur 22,5 Prozent der über ZwölfJährigen vollständig geimpft, auf Guadeloupe, sind es etwa 20 Prozent - beide Inseln haben etwa 400.000 Einwohner." Das Misstrauen ist aus schlechten Erfahrung mit dem Zentralstaat zu erklären: Auf den Inseln wurden bis in die Neunziger krebserregende Pestizide eingesetzt wurden, die in Frankreich längst verboten waren.
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Politik

Joe Biden agiert brutal mit seinem Abzug aus Afghanistan, aber leider trifft er die Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung, meint Silke Mertins in der taz. Und auch die der deutschen? "Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass die meisten, die nun über die furchtbaren Attacken am Flughafen erschüttert sind, sich über Jahre nicht für die Terroranschläge in Afghanistan interessiert haben. Sie waren häufig nicht mal eine Kurzmeldung wert. Das Schicksal der Menschen in Afghanistan ist in Deutschland bei der großen Mehrheit der Bevölkerung nur noch auf Schulterzucken gestoßen."

Richard Herzinger rät in seinem Blog, die Taliban nicht als "kleineres Übel" etwa gegenüber dem "Islamischen Staat" zu betrachten. "Am Ende wird für die westliche Politik nur noch zählen, dass die Taliban vermeintlich exklusiv an der Herrschaft über Afghanistan interessiert seien, nicht aber am Terrorexport in den Westen. Das aber ist eine gefährliche Illusion. Denn in welcher Spielart auch immer der Islamismus auftritt - das Streben nach der Weltherrschaft des Islam ist ihm konstitutiv eingeschrieben, und er kann nicht Halt machen, bevor er zu diesem Zweck den Westen zerstört hat."

Der Künstler Ibrahim Quraishi stellt in taz online ein paar zornige Fragen an die "Gemäßigten" unter den Muslimen, die so gut wie nie gegen die Talibanisierung ihrer Religion aufstehen: "Wo sind die mutigen muslimischen, die wütenden arabischen Stimmen, die Gerechtigkeit fordern gegen die Talibanisierung der gesamten muslimischen Welt? Wann ist es endlich erlaubt, sich gegen die ständige Instrumentalisierung des Islams zur Aufrechterhaltung von Hass und messianischer Gewalt zu wehren? Warum wird weiterhin endlos geschwiegen? Wann werden wir aufhören, im Namen der Religion zu töten? Schluss, aus, es reicht!"
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