9punkt - Die Debattenrundschau

Was eine andere Großmacht ärgern könnte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2021. Mit ihrem Abzug aus Afghanistan signalisieren die westlichen Länder, dass sie Unrecht künftig einfach geschehen lassen, vermutet die taz. Allerdings scheinen die Afghanen die Präsenz der internationalen Truppen als Besatzung empfunden zu haben, meint die Welt. Die SZ verweist auf einen wegweisenden Artikel von Medizinern in Foreign Affairs, die uns auf eine dauerhafte Präsenz von Corona als neue Normalität einstimmen. In seinem Blog protestiert Edward Snowden gegen die von Apple geplante vorsorgliche Überwachung von Iphones. In Odessa wurden die Überreste von Tausenden Stalin-Opfern gefunden. Aber es ist schwierig, diese Funde aufzuarbeiten, erklärt die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.08.2021 finden Sie hier

Politik

Am Flughafen von Kabul hat ISIS Attentate begangen, Dutzende sind gestorben, darunter 13 amerikanische Soldaten, die den äußerst brenzligen Auftrag hatten, den Zugang zum Flughafen zu kontrollieren (hier der Bericht der New York Times). Dominic Johnson hat in der taz zum Erfolg der Luftbrücke wohl noch ohne Kenntnis der Attentate geschrieben, und der Kommentar klingt erstaunlich: Er greift den Satz von Angela Merkel auf, man müsse die Ziele von Außenpolitik "jetzt kleiner" fassen: "Wie klein denn noch? Seit dem Verzicht auf ein Eingreifen gegen Assads Verbrechen in Syrien und gegen russische Aggression in der Ukraine traut sich doch sowieso niemand im Westen mehr irgendwas, was eine andere Großmacht ärgern könnte. Kabul beweist demgegenüber: Wir schaffen das. 2015 hat sich wiederholt, im Guten."

Die humanitäre Krise in Afghanistan hat eine neue Qualität, weil sich zumindest in den Städten praktisch jeder mit Videocalls melden kann, beobachtet Johannes Schneider bei Zeit online: "Fast ist es zum Lachen: Während in innerdeutschen Videokonferenzen 'schlechtes Netz' die Kommunikation erschwert, steht manche Leitung nach Kabul verstörend stabil."

Nach der Diagnose des Amerikanisten Tobias Endler im Standard ist der Westen tot, nur die Europäer haben seinen Leichengeruch noch nicht wahrgenommen. Bidens Behauptung, in Abstimmung zu agieren, war ein leeres Versprechen: "Biden hat Trumps Entscheidung, die US-Truppen komplett aus Afghanistan abzuziehen, nie infrage gestellt. Der Unterschied zwischen beiden Oberbefehlshabern besteht in drei Monaten, und dies auch nur, weil Biden das Ende der Besatzung mit dem 20. Jahrestag der 9/11-Anschläge zusammenbinden wollte. Die europäische Hilflosigkeit angesichts der Entwicklungen war und ist erschreckend."

"Der Sieg der Taliban erklärt sich auch daraus, dass weder die bisher herrschenden Eliten noch die Mehrheit der Afghanen ihr Staatswesen für schützenswert hielten. Offenbar haben entscheidende Teile der Afghanen die vergangenen zwei Jahrzehnte aller Hilfe zum Trotz als Besatzungszeit empfunden", meint Jacques Schuster in der Welt, ohne die Amerikaner und Europäer allerdings aus der Schuld zu lassen: "Sie hatten berechtigte Gründe, in Afghanistan einzufallen, um das Terrornetzwerk der al-Qaida und ihrer Verbündeten zu zerstören. Doch anstelle punktuell zuzuschlagen und das Land im Anschluss zu verlassen, frönten sie - genau wie die Deutschen - ihrem Missionierungswillen. Das Land sollte nach den Werten der Demokratie und der Menschenrechte neu aufgebaut werden. Auch daran ist nichts auszusetzen, wenn die kulturellen Eigenheiten beachtet und all die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die dafür nötig sind. Doch sie blieben aus."
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Europa

In Odessa ist in der Nähe der Baustelle für den neuen Flughafen ein Massengrab mit den Überresten von Tausenden Ermordeten der Stalin-Zeit gefunden worden. In Odessa befindet sich bereits ein Grabfeld mit den Überresten von 130.000 von Stalin ermordeten Menschen. Bernhard Clasen hat für seinen taz-Bericht mit Sergej Guzaljuk, Chef des Ukrainischen Instituts für nationales Gedenken im Gebiet Odessa, gesprochen und schildert die Probleme der Vergangenheitsbewältigung in dieser Stadt: alle Dokumente des damaligen sowjetischen Geheimdienstes NKWD, der die Massenhinrichtungen vollstreckt hatte, befinden sich in Moskau. "Das betrifft die Listen der Erschossenen genauso wie Aufzeichnungen über die Örtlichkeiten der Hinrichtungsstätte. 'An diese Dokumente kommen wir nicht heran', so Guzaljuk. 'Zum einen, weil Russland die KGB/NKWD-Archive immer noch unter Verschluss hält, zum anderen, weil Russland gegen uns einen unerklärten Krieg führt'. Erst wenn es in Moskau eine andere Regierung gebe, könne eine Zusammenarbeit in diesen Fragen möglich werden."
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Religion

Maxim Biller hat neulich in Frage gestellt, dass Max Czollek jüdisch sei. In diesem schmerzhaften Streit (unsere Resümees) hat die Jüdische Allgemeine einige Juden um Antwort auf die Frage "Wer ist jüdisch?" gebeten. Der Rabbiner Arie Folger ist kategorisch: "Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren oder ordentlich zum Judentum übergetreten ist. Dass das Religionsgesetz bezüglich der Matrilinearität erst in der Mischna auftaucht, ist schlicht die Behauptung jener, die generell nicht bereit sind, eine Kontinuität zwischen der Halacha und dem 'biblischen Judentum' zu sehen. Im Tanach gibt es verschiedene Stellen, die auf die Matrilinearität der jüdischen Zugehörigkeit hinweisen. Dieses Gesetz wird sich nicht ändern."

Die Journalistin Esther Schapira beschreibt, was dies für die "patrilinearen" Juden bedeutet: "Zu jüdisch für die Nazis, nicht jüdisch genug für die Juden. Das eine habe ich begriffen, als ich als Kind in einer Ausstellung auf die Rassentafel der Nürnberger Gesetze schaute, das andere, als ich nicht mitfahren durfte in die Ferienfreizeit der ZWST. Mein Vater hat die Schoa überlebt und mir den koscheren Namen gegeben und damit zwangsläufig den Auftrag, mich mit meiner jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. Das tue ich zeitlebens, aber mein Platz bleibt zwischen den Stühlen. Bequem ist es dort nicht. Und es tut oft weh. Für meine Gegner bin ich Jüdin."
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Ideen

Als "Richtungsweisung von globaler Bedeutung" bezeichnet Andrian Kreye in der SZ den in Foreign Affairs erschienenen, von sechs AutorInnen verfassten Artikel "The Forever Virus": "Ihre Langzeitstrategie erinnert eher an die geopolitischen Grundsatztexte aus und nach dem Kalten Krieg. Nur eine weltweite Anstrengung kann demnach den Planeten zurück in einen Zustand der Normalität führen. Impfstoffe sind dabei der entscheidende Faktor, aber nur, wenn sie zielgerichtet eingesetzt werden. Geschwindigkeit ist dabei genauso ein Faktor, wie die Möglichkeit, Impfstoffe dort einzusetzen, wo sie wirklich gebraucht werden. Nationales Denken sei fatal. Vor allem weil die Welt Covid-19 als historischen Wendepunkt betrachten muss. Um sich für die nächste Pandemie zu rüsten (das, so schreiben sie, sei nur eine Frage wann, nicht ob die kommt), müssten internationale Strukturen geschaffen werden, um einen Ausbruch zu identifizieren, Gegenmaßnahmen zu entwickeln und logistisch umzusetzen."
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Überwachung

Apple hat angekündigt, die Iphones seiner Fans permanent auf Fotos zu scannen, die nach Kinderpornografie (beziehungsweise "Child Sexual Abuse Material, CSAM)" aussehen könnten. Bei entsprechenden Funden würde Apple die Behörden gewissermaßen automatisch informieren. Damit wird eine neue Überwachungstechnik eingeführt, auf die die Regierungen sicher gerne zugreifen werden, meint Edward Snowden in seinem Blog. Und Apple handelt keineswegs, um Kinder zu schützen - eher sich selbst, vermutet er: "Wenn Sie ein unternehmenslustiger Pädophiler mit einem Keller voller CSAM-verseuchter Iphones sind, begrüßt Apple Sie, dass Sie diese Scans komplett vermeiden können, indem Sie einfach den Schalter 'Icloud-Fotos deaktivieren' umlegen, eine Umgehung, die offenbart, dass dieses System nie zum Schutz von Kindern entwickelt wurde, wie sie Sie glauben machen wollen, sondern eher zum Schutz ihrer Marke. Solange Sie das Material von ihren Servern fernhalten und Apple so aus den Schlagzeilen heraushalten, ist es Apple egal."
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Stichwörter: Apple, Snowden, Edward

Kulturpolitik

Im Tagesspiegel-Interview mit Christiane Peitz erklärt Christoph Rauhut vom Landesdenkmalamt Berlin, weshalb der Mäusebunker nicht unter Denkmalschutz steht: "Der Mäusebunker ist ein Spezialfall. Er stand auf unserer To-do-Liste, manchmal kommen wir aus Kapazitätsgründen aber zu spät. Der Charité wurde eine Abrissgenehmigung erteilt. Dennoch suchen wir jetzt im Modellverfahren eine gemeinsame Lösung für die schwierige Umnutzung: Es fehlt ja an Licht und Luft, und die Techniketagen sind nur zwei Meter hoch. Die Charité reißt nicht ab, wir setzen nicht unter Denkmalschutz - das verschafft allen Spielraum."
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Stichwörter: Denkmalschutz, Mäusebunker

Medien

Der Springer Verlag hat über eine Milliarde Dollar ausgegeben, um das Politik-Portal Politico zu kaufen, das in Washington eine große und dessen europäischer Ableger politico.eu in Europa eine kleine Rolle spielt. Joshua Benton erzählt bei niemanlab.org nochmal, was Politico richtig gemacht hat: "Die meisten hochwertigen Nachrichtenseiten- die Times, die Post, das Journal - haben ihre Berichterstattung teilweise oder ganz hinter eine Bezahlschranke gestellt. Das ist aus finanzieller Sicht ein kluger Schachzug. Zwar zahlt nur ein kleiner Teil der Leser, aber es ist eine besser skalierbare, berechenbare und oft lukrativere Einnahmequelle als Werbung. Politico ist immer noch für alle kostenlos. Wie das? Es hat früh erkannt, was Fluggesellschaften schon lange wissen: Es ist viel einfacher, mit einigen wenigen Kunden viel Geld zu verdienen als mit allen anderen ein wenig."
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