9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2021. In Polen ist Regierungskrise. Das Regierungsbündnis fällt auseinander. 800 JournalistInnen machen die internationale Öffentlichkeit auf die drohende Gleichschaltung der Medien in ihrem Land aufmerksam. Der deutsche Wahlkampf ist mau: Dabei gäbe es ein paar Dinge zu bereden, zum Beispiel die demografische Krise, findet politico.eu. Die NZZ schildert die verzweifelte Stimmung in Belarus. Der Terror in Afghanistan hat wieder angefangen, ruft ganz laut Zeit online dem desinteressierten Publikum entgegen: Taliban morden Patienten in Krankenhäusern, weil sie ausländisch finanziert sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.08.2021 finden Sie hier

Europa

In Polen ist Regierungskrise, berichtet Spiegel online mit Agenturmaterial. Das nationalkonservative Regierungsbündnis von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki steht vor dem Ende, weil die konservative Gruppierung Porozumenie (Verständigung) aus dem Bündnis austritt. Hintergrund ist die Medienpolitik der Kaczynski-Regierung, die Medien im ausländischen Besitz möglichst abschalten will: "Nach Ansicht von Kritikern zielt das Gesetz auf den Privatsender TVN, der über eine in den Niederlanden registrierte Holding Teil des US-Konzerns Discovery ist. Besonders der Nachrichtensender TVN24 vertritt eine PiS-kritische Linie. Dort kam am Abend auch der entlassene Vize-Regierungschef zu Wort. Fast zeitgleich gingen mehrere Tausend Menschen in verschiedenen polnischen Städten gegen das Gesetz auf die Straße."

800 polnische JournalistInnen haben zugleich einen Aufruf - hier auf Englisch - veröffentlicht, der gegen die drohenden Gleichschaltungsgesetze protestiert - über sie wird heute im polnischen Parlament abgestimmt. "Wir, Journalisten polnischer Medien, protestieren gegen die Aktionen der vereinten Rechtsregierung, die auf die Unabhängigkeit von TVN zielen. Wir werden es nicht erlauben, dass die Freiheit der Medien in unserem Land zerstört wird und rufen die Weltöffentlichkeit auf zu intervenieren."

Der maue deutsche Wahlkampf im Moment des Endes der Ära Merkel bringt Paul Taylor von politico.eu ins Staunen. Dabei gäbe es doch so einiges zu diskutieren, meint er, zum Beispiel das Altern der Bevölkerung: "Europas mächtigste Volkswirtschaft steuert in den kommenden Jahrzehnten auf eine demografische Krise zu, mit einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung und einer sinkenden Zahl von Arbeitskräften. Nach den jüngsten Prognosen des Statistischen Bundesamtes könnte die deutsche Bevölkerung von heute 83 Millionen auf 74 Millionen im Jahr 2060 zurückgehen, wenn die Nettozuwanderung gering bleibt. Noch alarmierender ist, dass es bis dahin 11,8 Millionen weniger Deutsche im erwerbsfähigen Alter (21 bis 67 Jahre), aber 5 Millionen mehr im Rentenalter geben wird. Eine Verdoppelung der jährlichen Nettozuwanderung auf 311.000 könnte die Gesamtbevölkerung auf dem derzeitigen Niveau stabilisieren - vorausgesetzt, die Geburtenrate bleibt unverändert. Aber selbst dann gäbe es 5 Millionen weniger Arbeitnehmer, um die Renten von 5 Millionen zusätzlichen Rentnern zu bezahlen."

In der NZZ beschreibt Felix Ackermann die verzweifelte Stimmung in Belarus, wo die Aufbruchshoffnungen in nackte Angst vor dem Regime Lukaschenkos umgeschlagen sind. Viele wollen das Land verlassen. Die Staatsmacht versucht derweil, mit nackten Repressionen die Bevölkerung im Zaum zu halten und den Widerstand zu diskreditieren, so Ackermann: Dazu hat sie Justizmitarbeiter ausgeschickt, um "Überlebende deutscher Konzentrationslager, ehemalige Zwangsarbeiter sowie Ghetto-Insassen" zu interviewen. "Die Beamten in Zivil haben nicht die Aufgabe, nach wissenschaftlichen Kriterien Oral History zu betreiben. Vielmehr suchen sie anhand von Fragebogen nach Hinweisen auf litauische, polnische und weißrussische Helfershelfer bei deutschen Kriegsverbrechen. Indem er zwischen der Protestbewegung und solchen Personen eine Verbindung im Zeichen des Nationalsozialismus herstellt, gedenkt Lukaschenko diese zu diffamieren und zu diskreditieren." Nebenbei erfahren wir noch, dass Polen innerhalb eines Jahres 8.500 Aufenthaltsgenehmigungen für politisch Verfolgte aus Belarus ausgestellt hat, Deutschland dagegen nur 50.

Zu den belarussischen Aktivistinnen, die eingesperrt sind, gehört die Kunststudentin Anastasija Mirontsawa, die auch im Gefängnis weiter zeichnet. Das Internetmagazin meduza.io stellt ihre Zeichnungen vor, die auf einem Instagram-Konto veröffentlicht werden.

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In der SZ schreibt Sonja Zekri den Nachruf auf den sowjetischen Biologen und Menschenrechtler Sergej Kowaljow, der seine Überzeugungen mit sieben Jahren Lagerhaft in der "Besserungsanstalt" Perm-36 bezahlte und später die "Helsinki Gruppe" und die Menschenrechtsorganisation Memorial mitbegründete: "Muss man erwähnen, dass er kein Freund der Politik Wladimir Putins wurde? Damals, in den Jahren als Dissident, sei jeder Regimekritiker als Faschist bezeichnet worden, hat er einmal gesagt. Heute sei es ähnlich. Am Montag ist Sergej Adamowitsch Kowaljow, der letzte sowjetische Dissident, im Alter von 91 Jahren in Moskau gestorben. Die Nachricht von seinem Tod war keine Stunde alt, als kremltreue Trolle das Internet mit Häme fluteten."

Außerdem: Sicher lesenswert ist ein endloses Online-Dossier der BBC über die "Gruppe Wagner", eine private Miliz, die etwa auf der Krim oder in Syrien und zur Zeit in Libyen die Drecksarbeit für Wladimir Putin erledigt. Bisher leugnete Russland jegliche Verbindung zur Gruppe, nun konnte eine die BBC-Reporter Nader Ibrahim und Ilja Barabanow das Tablet eines Wagner-Kämpfers sicherstellen, das viele Daten lieferte.
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Internet

Durchaus Fortschritte erkennt die "Stiftung Neue Verantwortung" laut Rahel Lang von Netzpolitik beim Thema Digitalisierung in den Wahlkampfprogrammen der Parteien. Eine stärkere Digitalisierung der Verwaltung sowie mehr Einsatz von Open-Source-Software würden in fast allen Parteien außer der in diesen Fragen substanzlosen AfD verlangt, so Lang. "Aus dem Blickfeld der Parteien ist hingegen die löchrige Breitbandinfrastruktur geraten. Die SNV schreibt in ihrem Papier, dass etwa 'konkrete Angaben zu Investitionssummen oder Zeiträumen zur Zielerreichung' im Unterschied zu 2017 fehlen würden. Hier scheint man sich auf die bereits abgesegneten Fördermaßnahmen des Verkehrsministeriums zu verlassen und bleibt lieber unscharf. Die Parteien zeigen sich ebenso zurückhaltend im Bereich der Netzneutralität." Mehr auf der Website der Stiftung selbst.
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Politik

"EU-Kreisen zufolge haben die Taliban mittlerweile fast zwei Drittel des ganzen Landes unter ihre Kontrolle gebracht", meldet Zeit online. Westliche Intervention war nicht das Schlimmste, was Afghanistan widerfahren ist, das kommt erst jetzt. Und kaum jemanden interessiert es, kritisiert Joachim Käppner in der SZ. Mit den Taliban "ist der Terror mit voller Grausamkeit zurückgekehrt. Bewaffnete haben in der Universität Kabul zwanzig Studierende massakriert, deren Sünde: Lernen. Malalai Maiwand, eine junge Journalistin, starb in Dschalalabad bei einem Terroranschlag, ihr Verbrechen: das freie Wort. In Kabul erschossen Mörder zwei Richterinnen, als Frauen und Vertreterinnen weltlichen Rechts gleich doppelte Feindbilder für die Fanatiker. Im Dascht-e-Barchi-Hospital der Hauptstadt stürmten Bewaffnete die Geburtsstation, gingen von Bett zu Bett und feuerten auf Mütter und Neugeborene, es gab 26 Tote. Warum? Das Krankenhaus wird von internationalen Organisationen unterstützt. Die Mörder waren Taliban oder deren Verbündete wie Terroristen des 'Islamischen Staates'. Und sie werden mit jeder Woche stärker."

Der deutsche Botschafter Hans-Udo Muzel hat bei der Amtseinführung des neuen iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi, des "Schlächters von Teheran", teilgenommen, berichtet Frederik Schindler in der Welt. Ob er sich wohlgefühlt hat unter den anwesenden Honoratioren? "Neben einem Vertreter der Huthi-Miliz aus dem Jemen sowie Staats- und Regierungschefs aus Afghanistan, dem Irak und Armenien waren auch die Führer mehrerer Terrororganisationen anwesend: Hamas-Chef Ismail Haniyeh, Hisbollah-Vize Naim Qassem und Ziyad al-Nakhala, Chef des Palästinensisch-Islamischen Dschihad, saßen direkt nebeneinander in der ersten Reihe. Auch der Anführer der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), Talal Naji, war präsent." Das Außenministerium schreibt in einer Stellungnahme, dass auch Botschafter der anderen europäischer Länder vertreten gewesen seien.

Bei den Konkurrenten wird auch wieder mehr gemordet. Adrian Beck stellt bei hpd.de einen Report von Amnesty International vor, demzufolge die Zahl der Exekutionen in Saudi-Arabien im Vergleich zum letzten Jahr stark angestiegen ist. Saudi-Arabien richtete im vergangenen Jahr den G20-Gipfel aus. 'Just in dem Moment, in dem die Scheinwerfer der G20-Präsidentschaft nicht mehr auf Saudi-Arabien gerichtet waren, setzten die Behördern ihre gnadenlose Jagd auf all diejenigen, die ihre Meinung frei äußern oder die Regierung kritisieren, fort', schreibt Lynn Maalouf, Vizedirektorin für den Mittleren Osten und Nordafrika bei Amnesty."
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Gesellschaft

Bei Femiziden ist "fast immer der Partner oder Ex-Partner tatverdächtig, Auslöser meist die bevorstehende oder vollzogene Trennung", schreibt Ralf Leonhard über die relativ hohe Zahl von "Beziehungstaten" in Österreich. Es sei das einzige EU-Land, wo mehr Frauen als Männer Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. "Für die feministische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz ist es das katholische Erbe, das im Land der erfolgreichen Gegenreformation eine latente und offene Frauenfeindlichkeit erzeugt habe. Dass nicht wenige der Femizide von muslimischen Zuwanderern verübt werden, ist für sie im Interview mit der taz kein Widerspruch: 'Es gibt einen Schulterschluss zwischen Fundamentalismen jeder Art.'"

Die Querdenker leben ein Paradox, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ: Einerseits machen sie oft Juden verantwortlich für Corona, andererseits inszenieren sie sich selbst als Juden, denen das Reden verboten wird. Das kann oft nur Theater sein, aber gar nicht so wenige scheinen sich wirklich so zu sehen. "Bleibt die Frage, woher diese manchmal reale Angst rührt. Warum manche keinen anderen Zugang zur Welt finden, als immer drastischere Schreckensfantasien zu kreieren, in denen sie sich geschichtsvergessen verlieren. Wo sich Hass und Hetze, Psychosen und persönliche Probleme mischen, werden die Antworten auf diese Fragen wohl diffus bleiben. Suchen sollte man dennoch nach ihnen. Denn in der aggressiven Lust, Opfer zu sein, steckt, so [der Literaturwissenschaftler] Wolfram Ette, die 'brennende Bereitschaft, sich selbst Opfer zu suchen.'"

Japan wird "geradezu klischeehaft von älteren Männern beherrscht", erklärt Florian Coulmas in der NZZ, und bei den Olympischen Spielen wurde das besonders deutlich. Der Paternalismus, der das Land auszeichnet, zeigt sich auch in der Tatsache, dass politische Ämter und Mandate oft von Vätern an die Söhne weitergereicht werden. "Die japanische Politik, das zeigte sich bei den Olympischen Spielen wieder einmal, ist eine Welt für sich, die fern von den Bürgern operiert. Sie repräsentiert den Staat mehr als die Gesellschaft. Über Politik spricht man nicht gern, wie im Allgemeinen die Neigung besteht, unangenehme Themen zu umgehen. Internationale Veranstaltungen erschweren das, denn da kommt wieder der Druck von außen ins Spiel. Plötzlich muss über Angelegenheiten gesprochen werden, die sonst unterm Teppich bleiben, zum Beispiel über Diskriminierung von Menschen, die nicht in den vorgeblich homogenen Volkskörper passen, sei es, weil sie unter einer Behinderung leiden oder aus rassistischen Gründen. Wie soll man damit umgehen, wenn die Welt zuschaut?"
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