9punkt - Die Debattenrundschau

Mehr Frivolität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2021. Karl Heinz Bohrer ist tot, für die Feuilletons quasi der zweitwichtigste nach Gott. Alle Feuilletons würdigen sein Irisisieren zwischen Reaktion und Avantgarde. Und zitieren einige zweifelhafte Wortschöpfungen. Außerdem wurden die "Mainzelmännchen" (auch ein Lieblingsausdruck von Bohrer, lesen wir) und damit die Demokratie gerettet. Denn die öffentlich-rechtlichen Sender dürfen jetzt die Gebühren erhöhen - die meisten Zeitungen sind dafür. Die taz recherchiert ferner zu der christlich-fundamentalistischen Gruppe "CitizenGo", die eine Resolution der Europäischen Parlaments zum Recht auf Abtreibung verhindern will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.08.2021 finden Sie hier

Ideen

Die Feuilletons machen heute einen Kniefall vor dem Essayisten und Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer, der am Mittwoch im Alter von 88 Jahren in London gestorben ist. "Die Lücke, die Karl Heinz Bohrer hinterlässt, ist so groß, dass Dutzende deutscher Professoren und Publizisten Platz hätten, ihre günstigen Llyod-Schuhe, Hemden mit gemusterten Innenkragen oder auch kecken Lederblousons darin auszufalten", setzt Ulf Poschardt (Welt) in seinem Nachruf zum Tod des Publizisten, Literaturwissenschaftlers und Merkur-Herausgebers an, den er vor allem als großen Stilisten und Ästheten in Erinnerung behalten wird: "Das amüsierte Angewidertsein von Bohrer bohrt sich durch die Worte und Zeilen, ohne ihnen auch nur eine Nuance von unfeinem Affekt zu geben. Entrückt und befreit von teutonischer Geschmacklosigkeit betrachtet er die ästhetische Alexie seiner Landsleute weitgehend hoffnungslos. Natürlich erschöpfte sich das Werk von Bohrer nie in der Stilkritik, aber der Ennui des Avantgardisten verehrte stets Schönheit und Schock, verteidigte sie gegen jede moralische Vereinnahmung."

Bohrer "konnte alle aufregen, aber interessanterweise jenseits eines konventionellen Links-rechts-Gegensatzes", erinnert Jens Jessen auf Zeit Online: "Welche aber war Bohrers Position? Sie war, aus der Distanz gesehen, vor allem elitär, das Ästhetische über das Politische stellend, das historisch Gewachsene über den Fortschrittswillen der Gegenwart, das radikale Minderheitenprogramm über den Unterhaltungsanspruch der Massen. Man könnte sagen: Er war reaktionär, aber nicht auf die dumpfe Stammtischweise, sondern auf eine hochgezüchtet intellektuelle Weise, die in Deutschland so viel seltener ist als in Frankreich oder etwa in der iberischen Welt. Er betrachtete die Bundesrepublik als eine spießige Welt der 'Mainzelmännchen' (sein Ausdruck) und prägte für den linken Mainstream den denunziatorischen Begriff vom 'Gutmenschen'." Sehr persönlich erinnert sich der ehemalige Leiter des Hanser-Verlags und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Michael Krüger in der SZ an Leipziger Nächte, letzte Telefonate und eine gemeinsame Begegnung mit Merkur-Mitbegründer Hans Paeschke: "Es war großartig, Paeschkes Gesicht zu erleben, wenn Bohrer einige der mit Paeschke befreundeten politischen Kommentatoren mit den Worten abkanzelte, für 'Weicheier' und 'Dumpfbacken' wäre im neuen Merkur kein Platz mehr."

Karl Heinz Bohrer
, der ja auch mal Redakteur der FAZ war, kultivierte zeit seines Lebens das "Unwohlsein", schreibt Jürgen Kaube in der FAZ. Auch in jener Zeit, als der Merkur, den er zusammen mit Kurt Scheel leitete, ein bedeutendes intellektuelles Forum in Deutschland war: "Die Latzhosen und die Lichterketten, die Forderung nach einer 'Streitkultur' und zugleich nach mehr Gemeinschaft waren ihm genauso zuwider wie die Provinzialitäten im Land Helmut Kohls. Bohrer forderte mehr Frivolität und zugleich mehr Sinn für Rollenspiel und Stil. Er mochte keine Reihenhäuser. Unwohlsein also auch in Deutschland, das weder Frankreich noch England war, wobei Bohrer mitunter durchaus bereit schien, diese Länder mit Paris und London, wo er lebte, zu verwechseln." Im Tagesspiegel erinnert Gregor Dotzauer an einen "Feuerkopf und Gentleman", in der FR schreibt Harry Nutt, in der NZZ Manfred Koch.
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Europa

Die taz hat Material von Wikileaks über die Aktivitäten der christlich-fundamentalistischen Gruppe "CitizenGo" ausgewertet. Diese Gruppe hat schon 2013 eine Resolution der Europaparlaments zu Abtreibung verhindert und will dies in diesem Jahr erneut tun - denn in diesem Jahr soll über den Matić-Report abgestimmt werden. "Der große Angriff von CitizenGo auf den Matić-Report beginnt im Juni 2021. Die Organisation will unbedingt verhindern, dass die Abgeordneten im EU-Parlament für den Bericht stimmen, der sich für freien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. Die Wortwahl ist entsprechend kriegerisch: 'Der Matić-Bericht ist wahrscheinlich das aggressivste Projekt, das jemals im Europäischen Parlament vorgestellt wurde', heißt es in der Petition von CitizenGo. In nur drei Wochen sammelt die Organisation 350.000 Unterschriften." Nebenbei interessant ist, das die taz Abtreibung inzwischen offenbar unter "Genderthemen" verhandelt. Die Hackergruppe, die CitizenGo attackierte, heißt es, begründete ihren Angriff "damit, die Rechte von Schwulen, Lesben, Queers, trans und inter Personen (LGBTIQ) verteidigen zu wollen". Wo finden sich in dieser Aufzählung schwangere Frauen?
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Medien

Die Demokratie ist gerettet. Die öffentlich-rechtlichen Sender dürfen die Gebühren erhöhen, und das Land Sachsen-Anhalt darf da nicht einfach nicht mitmachen, hat das Bundesverfassungsgericht, an das sich die Sender immer wieder wenden wie an eine große Mutter, gestern entschieden. Christian Rath begrüßt die Entscheidung in der taz, will aber auch Strukturreformen: Sie seien "schon deshalb erforderlich, weil der öffentlich-rechtlich Rundfunk seine Grundversorgung in den nächsten Jahrzehnten immer mehr ins Internet verlagern wird - nicht nur mit Bild- und Ton-Berichterstattung, sondern auch mit Texten." Hier Raths Bericht zum Urteil.

Im Tagesspiegel nickt auch Joachim Huber das Urteil grundsätzlich ab, mahnt aber mehr "ernsthafte Informationssendungen" an: "Die ARD-Programmdirektion hält es aktuell für eine brillante Idee, den 'Weltspiegel' vom frühen Sonntagabend in die 'Todeszone' nach den 'Tagesthemen' am Montag zu verlegen, zudem soll die Zahl der wöchentlichen Magazine zugunsten von Dokumentationen reduziert werden. Solche Thermomix-Vorschläge schwanken zwischen Rat- und Hilflosigkeit." Juristisch sauber, aber "politisch weltfremd" erscheint hingegen Heinrich Wefing bei Zeit Online das Urteil, "denn natürlich ist Geld immer und überall einer der wichtigsten Reformtreiber. Wenn es reichlich vorhanden ist, ist der Veränderungsdruck gering."

Abgeklärt der Kommentar des Ruhrbarons Stefan Laurin: "Die Richter haben ein Anstaltsideal beschrieben, das mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Und sie ließen sich dabei offenbar von den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend beeinflussen. Irgendwann wird eine andere Richtergeneration, die mit dem Internet aufgewachsen ist, anders entscheiden. Bis dahin werden die Bürger allerdings noch viel Geld für Pensionskassen mit angeschlossenem Sendebetrieb ausgeben, für die sie sich immer weniger interessieren." Stefan Niggemeier reagiert in seinen Übermedien schon gar nicht mehr auf das Urteil, sondern nur auf "Springers rasende Wut auf das Bundesverfassungsgericht".

In Karlsruhe siegen ohnehin immer die Sender, schreibt Wolfgang Janisch in der SZ. FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld, der einzige wirkliche Kritiker der Öffentlich-Rechtlichen in den deutschen Alphamedien, findet die Entscheidung des BVG in "ihrer rabulistischen Oberflächlichkeit schon atemberaubend… Die Richter setzen die Presse- und Meinungsfreiheit der öffentlich-rechtlichen Sender nach Artikel 5 Grundgesetz mit der Finanzierung der Anstalten gleich."
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Politik

Zum hundertsten Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas versucht Urs Schoettli, ehemaliger Asien-Korrespondent der NZZ, zu erklären, wie China zur Diktatur wurde: "In der langen und stolzen Geschichte des Reichs der Mitte ragen das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als Epochen der präzedenzlosen Erniedrigungen heraus. Diese haben tiefe Verwundungen in Chinas Seele hinterlassen. Fremde Mächte nutzten die innere Zerstrittenheit des Reiches und den Reformstau in der Spätzeit der Ch'ing-Dynastie, um ihre imperialistischen Absichten voranzutreiben. Noch um 1900 machten sich die europäischen Kolonialmächte Gedanken darüber, China ähnlich wie den afrikanischen Kontinent unter sich aufzuteilen. Schließlich kam mit der japanischen Invasion und Besetzung die größtmögliche Erniedrigung."
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Überwachung

Wieviele Verschlusssachen es in den Akten der Bundesegierung gibt, ist geheim. Thomas Kastning und Christian Thönnes zitieren in Netzpolitik aus einer Antwort der Regierung auf eine entsprechende Anfrage: "Zur Beantwortung müsste in 29 Behörden eine Anzahl von Verschlusssachen mindestens im obersten fünfstelligen Bereich händisch durchgesehen werden. Dies würde bei einem Teil der Behörden die Durchsicht mehrerer Zehntausend, bei einer Behörde gar mehrerer Millionen Belege bedeuten. Der Aufwand hierfür wäre enorm und würde die Ressourcen in den betroffenen Arbeitseinheiten dieser Behörden für einen nicht absehbaren Zeitraum vollständig beanspruchen und die dortige Arbeit zum Erliegen bringen."
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Stichwörter: Transparenz, Netzpolitik