9punkt - Die Debattenrundschau

Wir sind keine Menschen mehr. Wir sind Engel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2021. Ins Internet ist eine Atmosphäre der Angst eingezogen, und sie ist obszön, schreibt Chimamanda Ngozi auf ihrer Website. Nicht Carolin Emcke leistet dem Antisemitismus Vorschub, sondern ihre Kritiker, schreibt Jens Jessen in der Zeit. In der FAZ geißelt Christoph Türcke  die "Sprachmagie" der Political Correctness. Ungarn hat ein vor Homophobie strotzendes Gesetz erlassen, notiert Bascha Mika in der FR. In der SZ erklärt Ivan Krastev die Ideologie dahinter. taz und SZ greifen den Protest an den Uni auf: eine Mittelbaubewegung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.06.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Auch die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie wurde nun in sozialen Medien und in Texten attackiert, weil sie nicht die richtigen Ansichten zum Anspruch von Transpersonen vertrat, berichtet Alison Flood beim Guardian. Sie wehrte sich mit einem Essay auf ihrer Website, die teilweise wegen der vielen Aufrufe zusammenbrach. Sie schließt ihre Reflexion über die Hysterisierung der Debatte mit ein paar Anmerkungen, die die aktuelle Stimmung überaus treffend umreißen: "Wir haben eine Generation junger Leute in den sozialen Medien, die solche Angst haben, eine falsche Meinung zu vertreten, dass sie sich der Fähigkeit beraubt haben zu denken, zu lernen und zu wachsen... Ich habe mit jungen Leuten gesprochen, die mir sagen, dass sie sich kaum mehr trauen, überhaupt etwas zu twittern, dass sie ihre Tweets lesen und nochmals lesen, weil sie fürchten, von ihren eigenen Leuten attackiert zu werden. Die Haltung eines grundsätzlichen Wohlwollens ist tot. Was zählt, ist nicht gut zu sein, sondern der Anschein, gut zu sein. Wir sind keine Menschen mehr. Wir sind Engel, die andere Engel ausengeln wollen. Gott helfe uns. Es ist obszön."

Laut aktueller Allensbach-Umfrage glauben 44 Prozent der Deutschen, dass sie nicht frei ihre Meinung äußern können. Das ist "historischer Höchststand", meint Malte Lehming im Tagesspiegel: "Die Anhänger von AfD, FDP und Linke empfinden den Meinungsklimadruck am stärksten, die von Grünen, Union und SPD am geringsten. Besonders heikel sind Themen wie Muslime und Islam, Vaterlandsliebe und Patriotismus, geschlechtergerechte Sprache und der Gebrauch politisch inkorrekter Begriffe wie 'Zigeunerschnitzel' oder 'Mohrenkopf'. Die Umfragedaten deuten auf ein alarmierend hohes Maß an gesellschaftlicher Polarisierung hin. Wer diesen Befund kleinredet, verstärkt ihn. Kulturkampf ist keine rechte Erfindung, wie einige Linke sagen, und das Streben nach Gerechtigkeit ist nicht bloß linker Machtwille, wie einige Konservative sagen."

Sämtliche Fußballfans dürften das Video gesehen haben. Aber das in kulturellen Sphären schwebende Perlentaucher-Publikum? Ronaldo und die Cola-Flaschen:

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Europa

Am Dienstag hat das Parlament in Budapest ein weiteres, "von Homophobie strotzendes Gesetz abgesegnet", schreibt Bascha Mika in der FR: "Alle Darstellungen, die angeblich von der Norm abweichen - sprich, der vermeintlich gottgewollten heterosexuellen Ordnung - sollen für Jugendliche verboten werden. Werbung für Homosexualität oder Transgender ebenso. Familie ist Vater, Mutter, Kind, Punkt! Beratungsangebote für junge Menschen, die sich ihrer Sexualität nicht sicher sind, wird es jetzt nicht mehr geben. Und Medien, die über LBGTQI-Menschen berichten, werden ganz sicher Repressalien zu spüren bekommen. Ungarn geht den nächsten Schritt in den Unrechtsstaat. Besonders perfide ist dabei der Versuch, LGTBQI-Menschen mit Pädokriminellen gleichzusetzen. Ein uraltes Stereotyp - von Anhängern der herrschenden Fidesz-Partei jedoch gern als Hassbotschaft weiterverbreitet. Schon jetzt sehen viele Ungarn in LBGTQI- Menschen potenzielle Straftäter, die ausgegrenzt gehören." Bei hpd.de ergänzt Hella Camargo: "42 Prozent der LGBTQIA+ haben nach Angaben von Háttér bereits über Suizid nachgedacht und 30 Prozent gar einen Versuch unternommen. Eine Situation, die bereits vorhandenem Mobbing, Gewalt und Ausgrenzung geschuldet ist und sich in Zukunft noch verschärfen kann."

Im SZ-Interview mit Alex Rühle erklärt Ivan Krastev (ohne direkt auf das verschärfte Gesetz einzugehen): "Mittel- und Osteuropa gehen die Arbeitskräfte aus, auf allen Ebenen. Die Regierungen versuchen, ihre Bevölkerung dazu zu bringen, mehr Kinder zu kriegen. So etwas hat selten geklappt mit irgendwelchen Prämien. Also versucht man es gleichzeitig mit kulturellem Druck. Deshalb sind die Frauenrechte so umkämpft in diesen Ländern. Frauen sollen Kinder kriegen. Das ist ihre Pflicht. Und wer homosexuell ist, kriegt keine Kinder, also sind das schlechte Bürger."

Erdogan hatte für 2021 ein "Reformjahr" versprochen, Freiheit und Menschenrechte wollte er gewähren. Aber Bülent Mumay zeigt sich in seiner FAZ -Kolumne enttäuscht. Gemäß einer Reform etwa "können künftig Unterredungen von Rechtsanwälten mit ihren Mandanten - gegebenenfalls - unterbunden werden. Verteidigung, ein Grundrecht jeder Rechtsprechung, kann ausgesetzt werden. Nach dieser jüngsten Maßnahme sind wir jetzt, nachdem die Hälfte des Jahres verstrichen ist, davon überzeugt, dass 2021 kein Reformjahr mehr wird."
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Ideen

Die komplett hysterisierte Diskussion über einen nicht so gelungenen, aber sicher nicht antisemitischen Satz Carolin Emckes geht weiter (während Wichtigeres wie die Relativierung des Holocaust von links durch die Adepten des Postkolonialismus in den Feuilletons ängstlich beschwiegen wird). Jens Jessen schreibt in der Zeit zur Verteidigung Emckes: "Eine Verharmlosung des Holocausts durch inflationäre Vergleiche zu fürchten ist ohne jede Frage berechtigt, sie ist sogar eine gefährliche Tendenz unserer Gegenwart, aber in diesem Falle ist es nicht Carolin Emcke, die ihr Vorschub geleistet hat. Es sind die Kritiker, die ohne jeden genaueren Befund alles, was ihnen irgend missfällt, als Antisemitismus bezeichnen."

Schon vor einigen Tagen hatte sich bei cicero.de Bernd Stegemaann mal nicht nur mit dem einen Satz, sondern der ganzen Emcke-Rede auseinandergesetzt. An ihrem Satz aber stört ihn ein "Opfertrick": Sie handle nicht unbedacht, sondern schaffe einen absichtlich unscharfen Begriff von Eliten und erreiche damit, "dass alle, die zu der von ihr definierten Elite gehören, verteidigt werden müssen gegen eine ebenso große Bedrohung, wie es der Antisemitismus für die Juden ist. Damit hat sie sich selbst und ihrem politischen Milieu den ultimativen Opferstatus zugesprochen."

Der Philosoph Christoph Türcke schreibt in der FAZ über die "Sprachmagie" der "Critical Theories" und der Political Correctness. Wörtern werde eine realitätsschaffende Macht zugeschrieben, darum können man etwa das "N-Wort" selbst dann nicht mehr aussprechen, wenn man es kontextualisieren will. Aber gerade diese Political Correctness mache durch die Hintertür die Begriffe, die sie zu bekämpfen vorgibt, wieder stark, wie Türcke etwa an dem Namen der Bewegung "Black Lives Matter" zeigen will: "So oder so aber besagt black lives matter: Das Grundfalsche des Eurozentrismus war nicht, dass er Menschen nach Hautfarben einteilte, sondern dass er das mit falschen Prioritäten tat. Nun müssen die richtigen gesetzt werden. Rethinking color ist angesagt: Farbe neu denken. Wie unter umgekehrten Vorzeichen ein Hautfarben-Revival anläuft, so in gewisser Weise auch ein Rassen-Revival."

In der Welt laviert Slavoj Zizek ein wenig hin und her, um dann klar zu machen, dass er die Ziele der Wokisten (Gleichberechtigung und den Kampf gegen Rassismus) zwar teilt, nicht aber deren "Verbotskultur" und "Gleichmacherei": "Es ist leicht, sich den nächsten Schritt auf dem Weg zu einem falschen Egalitarismus vorzustellen: Ist nicht auch die Tatsache, dass einige Individuen sexuell viel attraktiver sind als andere, ein Fall von höchster Ungerechtigkeit? Sollten wir nicht auch eine Art Vorstoß in Richtung Gleichberechtigung beim Genuss erfinden, einen Weg, die Attraktiveren auszubremsen, da es keinen Grenzwert gibt, der bestimmt, wann eine Person sexuell attraktiv ist und eine andere nicht? Die Sexualität ist tatsächlich eine Domäne erschreckender Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Gleichheit im Genuss ist der ultimative Traum falscher Gleichmacherei." In der Berliner Zeitung schildert Harry Nutt, wie die Wokeness an die Stelle des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit tritt.

Außerdem: Jennifer Evans, eine der Betreiberinnen des Blogs The New Fascism Syllabus beendet die Debatte um A. Dirk Moses' Polemik "Der Katechismus der Deutschen" mit einigen abschließenden Bemerkungen.
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Wissenschaft

Die Coronakrise war immerhin dazu gut, dass sie in der Gesellschaft - etwa an den Bühnen, jetzt an den Unis - strukturelle Ungerechtigkeiten in den Vordergrund rückte, die alle bisher stillschweigend ignorierten, die einen, weil sie profitierten, die anderen, weil sie sich nicht wehren konnten. Die taz greift heute die Protestbewegung #IchBinHanna (unser Resümee) des akademischen Mittelbaus auf, der gegen seinen prekären Status protestiert. Ralf Pauli kommentiert: "Von den prekären Arbeitsbedingungen an Hochschulen weiß der Bund schon lange - und dennoch ändert er kaum etwas daran. Im Gegenteil: Mit den Milliardenzuschüssen, die er über die Exzellenzstrategie und andere Förderprogramme verteilt, kettet er Hochschuljobs an Förderlaufzeiten. Dass die Unis solche Drittmittel gerade deshalb gerne nehmen, ist kein Geheimnis: Sie stärken ihr Profil, ohne dauerhafte Personalkosten zu verursachen." Nicole Opitz hat für die taz mit drei Wissenschaftlerinnen über das Thema gesprochen.

In der SZ nimmt Gustav Seibt die "Marktlügen" des Systems unter die Lupe: "Wenn nach Jahren der 'Qualifikation' schon statistisch nur ein Bruchteil der dann hochspezialisierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überhaupt Aussicht auf eine Festanstellung hat, dann nimmt das System eine große Zahl gebrochener Erwerbsbiografien kalt lächelnd in Kauf. In den noch überschaubaren persönlichen Nahverhältnissen der Universitäten die Rekrutierung des Nachwuchses mit einem solchen Scheinwettbewerb zu organisieren, führt auch in der Sache nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen. Es befördert Duckmäuserei und Anpassung. Das Humboldt-Mantra von Einsamkeit und Freiheit, seit den Bologna-Reformen absichtsvoll verlassen, hatte seinen Sinn. Angst ums Fortkommen ist Unfreiheit, sie nötigt zum Wohlverhalten gegenüber Vorgesetzten und der Gruppe."
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Internet

Überwachung schleicht sich mit guten Absichten ins Netz, warnt Markus Reuter bei Netzpolitik. Früher dienten Kinderpornografie oder Urheberrechtsverstöße den Politikern als Argument, das Netz unter ihre Kontrolle zu bringen: "Heute ist es der 'Hass im Netz', den innenpolitische Hardliner wegen der allgemein akzeptierten Wichtigkeit des Themas als Vehikel nutzen, um ihre Ziele durchzusetzen. So auch beim neuerlichen Vorstoß für eine so genannte 'Identifizierungspflicht', die auf der Agenda der Innenministerkonferenz steht. Mit dieser sollen Menschen gezwungen werden, ihren Klarnamen und ihr Geburtsdatum bei sozialen Netzwerken zu hinterlegen und dies mit den Daten ihres Ausweises zu verifizieren."

Außerdem: Im SZ-Feuilleton begrüßt Andrian Kreye das von 14 Tech-Koryphäen verfasste Manifest "Zur Verteidigung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der künstlichen Intelligenz", das vor allem die Wirtschaftsmacht der Digitalkonzerne kritisiert.
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Geschichte

Das neue "Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung" (Website) erinnert an die Flucht von 14 Millionen Deutschen, ohne die historische Verantwortung zu schmälern, erzählt Jörg Lau in der Zeit. Freundlich empfangen wurden die Flüchtlinge übrigens nicht: "Sie waren tatsächlich so unwillkommen wie die meisten Flüchtlinge in der Menschheitsgeschichte. Das Trauma, alles verloren zu haben - und die Erfahrung, die Berechtigung zum 'Lastenausgleich' in einem erniedrigenden Verfahren beantragen zu müssen, in dem die Vertriebenen oft genug wie Schmarotzer und Sozialbetrüger behandelt wurden -, belastet die Betroffenen bis heute. Oft werden noch deren Nachkommen das Gefühl nicht los, nirgends richtig dazuzugehören." Besprechungen und Hintergründe zur Ausstellung bringen außerdem FR und Berliner Zeitung.

Außerdem: Julia Hubernagel berichtet in der taz über das Hohenzollern-Wiki von Historikern, die von Klagen der Familie überzogen wurden, ebenso Patrick Bahners in der FAZ (unser Resümee).

Die "Plage" der Besitzansprüche der Hohenzollern geht auf die Weimarer Republik zurück, schreiben die Historiker Peter Brandt und Lothar Machtan in der SZ: "Sie beginnt nämlich damit, dass der erste parlamentarisch regierte Staat, der 1918/19 in Deutschland entstand, der gestürzten Hohenzollern-Monarchie von Anfang an mit einer erstaunlichen Kulanz gegenübertrat. Weniger freundlich formuliert, lässt sich sagen, dass er hier macht- wie geschichtspolitisch 'gekniffen' hat. Statt Tabula rasa zu machen, suchten die Berliner 'Volksbeauftragten' den revolutionären Sturz der Hohenzollern-Dynastie durch großzügige staatliche Zuwendungen an die Entthronten gleichsam wiedergutzumachen. Durch diese verkappte Danksagung für den formellen Thronverzicht verhalfen sie der Familie Preußen zu einer Art Sonderstatus. Das Dilemma, in dem sich der Staat heute in diesem Streit um Rückerstattungen befindet, begann also schon 1918: als man den nach Holland entflohenen König und Kaiser Wilhelm II. sich nicht nur dort ungestört etablieren ließ, sondern ihm auch noch unglaubliche Mengen königlichen (nicht unbedingt privaten) Besitzes ungeprüft hinterherschickte: mehr als 60 Güterwagen der Eisenbahn."
Archiv: Geschichte

Medien

René Martens befasst sich in der linken Stuttgarter Wochenzeitung kontext mit dem Kontext der Anti-Baerbock-Reklame der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Baerbock wurde da als Moses mit Verbotstafeln dargestellt, eine Bildsprache, die durchaus als antisemitisch gedeutet wurde. Die SZ und die FAZ und andere haben die Anzeige trotzdem geschaltet (Kostenpunkt laut Mediadaten der FAZ: 78.000 Euro). Aber "Warum haben sich so viele Medienhäuser zum Helfershelfer der Lobbyisten gemacht? Viele Leserinnen und Leser der Süddeutschen Zeitung hätten sich 'empört geäußert', schreibt Judith Wittwer, die Chefredakteurin des Blattes im hauseigenen Transparenz-Blog. Ihre Antwort: 'Die klare Trennung zwischen Redaktion und Verlag gehört zu den grundlegenden Säulen der Publizistik und ist nicht nur im deutschen Pressekodex, sondern auch im Redaktionsstatut der SZ verankert.' Das ist formal korrekt, dennoch macht sich Wittwer hier einen schlanken Fuß. Die INSM hat die Anzeige nicht nur bewusst anlässlich des Grünen-Parteitags geschaltet, sondern weil sie - klare Trennung von Redaktion und Verlag hin oder her - um das passende redaktionelle Umfeld wusste."
Archiv: Medien