9punkt - Die Debattenrundschau

Tendenz zur Kontraktion

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2021. In Ruanda hat Emmanuel Macron für die französische Rolle beim Völkermord an den Tutsi um Verzeihung gebeten, die FAZ zitiert aus seiner Rede. Zugleich erkennt die deutsche Regierung die Verbrechen des Deutschen Reichs im heutigen Namibia als Völkermord an, meldet Spiegel online. In der FR schreibt der Politikwissenschaftler Rainer Forst über die Dialektik von Solidarität: Sie braucht Grenzen. In Zeit online beschreibt der Islamwissenschaftler Bernard Rougier, wie die westliche Linke und der Islamismus konvergieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.05.2021 finden Sie hier

Europa

Emmanuel Macron hat in Ruanda für die französische Rolle beim Völkermord gegen die Tutsi um Verzeihung gebeten. Michaela Wiegel zitiert für die FAZ aus seiner Rede in Kigali: "Die Mörder hätten nicht die Gesichter von Franzosen gehabt. Frankreich könne keine Komplizenschaft vorgeworfen werden. 'Das Blut, das floss, hat nicht unsere Soldaten entehrt', hebt er hervor. Aber Frankreich habe 1990 nicht verstanden, dass es 'de facto an der Seite eines Völkermord-Regimes stand'. Macron spielt auf die Militärhilfen an, die immer mehr Geld verschlangen, je mehr sich das Regime in Kigali radikalisierte. 'Frankreich hat eine erdrückende Verantwortung auf sich geladen', sagt er. Er wolle sich dem ganzen Ausmaß der französischen Verantwortlichkeiten stellen, 'der Geschichte ins Auge sehen'."

Gleichzeitig kommt die Meldung, dass die deutsche Regierung die Verbrechen des Deutschen Reichs im heutigen Namibia als Völkermord anerkennt. In einer dpa-Meldung bei Siegel online heißt es: "Über Jahre war verhandelt worden, nun gibt es einen Durchbruch. Mehr als hundert Jahre nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht im heutigen Namibia erkennt die Bundesregierung die Gräueltaten an den Volksgruppen der Herero und Nama als Völkermord an. Die Nachkommen will sie mit einem Milliardenbetrag unterstützen." Allerdings erkenne die deutsche Regierung keine "rechtlichen Ansprüche auf Entschädigung" an, sondern handle aus moralischer Verpflichtung.

Die Schweiz ist aus den Verhandlungen zu einem Rahmenvertrag mit der EU ausgestiegen. Das Verhandeln neuer Verträge wird dadurch erschwert, die Beziehungen des kleinen Landes zur EU werden diffiziler. Für den Ausstieg waren die üblichen Rechtspopulisten, berichtet Marc Engelhardt in der taz. Aber es gab auch andere gewichtige Verfechter: "Die Angst vor Dumpinglöhnen durch Billigkonkurrenz aus der EU hatte die Gewerkschaften mobilisiert. 'Wir sind erleichtert, dass unser autonomer Lohnschutz verteidigt werden konnte', freute sich Pierre-Yves Maillard, der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Zum Lohnschutz gehören Regelungen wie jene, nach der eine Handwerkerin aus Süddeutschland sich acht Tage vorher anmelden muss, wenn sie in der Schweiz arbeiten will." Hier tazler Eric Bonse zu den Folgen des "Schwexit", die trotz allem nicht so dramatisch seien wie beim Brexit.

Das von den ehemaligen Grünen-Politikern Marieluise Beck und Ralf Fücks aufgebaute "Zentrum Liberale Moderne" (LibMod) ist von Russland zur "unerwünschten ausländischen Organisation" erklärt worden. Das Institut, das auch vom Auswärtigen Amt subventioniert wird, sucht in in verschiedenen Initiativen den Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft. In einer Erklärung des Instituts heißt es: "Unser Traum ist ein demokratisches und europäisches Russland. Die Politik des Kremls zielt darauf ab, internationale NGO's, Stiftungen und Think Tanks in 'erwünschte' und 'unerwünschte' Organisationen auseinander zu dividieren."
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Politik

"Alle projizieren ihre Ideologien und Phantasmen auf die Gaza-Krise, aber keiner kennt mehr die Geschichte der palästinensischen Bewegung", kritisiert der französische Islamwissenschaftler Bernard Rougier im Zeit-Online-Gespräch mit Georg Blume und Sarah Pines: "Der Islamismus in Europa und Israel profitiert von dem Aktivismus der Linken, der 'woken' Ideologie, die ihn unter anderem als antikoloniale und pro-indigene Reaktion begreift und so jede Kritik am Islam als islamophob abstempeln kann. Der 'weiße Staat', der westliche Staat ist demgegenüber repressiv und kolonial. (…) Es gibt also eine Kongruenz zwischen dem israelischen Staat und Frankreich oder Deutschland. Der Kampf der Islamisten gegen unsere Polizei und unsere Institutionen ist - so wird es begriffen - von der gleichen Natur wie der Kampf der Palästinenser gegen die Israelis."

Letztes Jahr wurde in der Mbembe-Debatte noch um den Begriff der "Apartheid" zur Beschreibung der israelischen Politik gestritten, jetzt scheint er sich weithin durchgesetzt zu haben und wird zur üblichen Formel in der Auseinandersetzung. Hunderte von Künstlern und Autoren - allerdings vorwiegend die üblichen Verdächtigen von Brian Eno bis Naomi Klein - unterzeichnen einen "Letter Against Apartheid", der offenbar von palästinensischen Autoren lanciert wurde. In dem Brief, über den etwa das Magazin Dazed berichtet, heißt es: "Es ist an der Zeit, gegen diese Taktiken des Schweigens aufzustehen und sie zu überwinden. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt sehen in den Palästinensern einen Mikrokosmos ihrer eigenen Unterdrückung und Hoffnungen, und Verbündete wie Black Lives Matter und die Jewish Voice for Peace, zusammen mit Aktivisten für indigene Rechte, Feministinnen und Queers, unter vielen anderen, werden immer lauter in ihrer Unterstützung." Gerade für die Unterstützung der Queers ist die Hamas sicher dankbar. Noch schärfer ein Brief amerikanischer Künstler, die das New Yorker Moma angreifen, weil dort einige prominente jüdische Persönlichkeiten im Aufsichtsrat sitzen (unser Resümee).
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Ideen

Allerorten wird während der Pandemie nach Solidarität gerufen - zuletzt bei der Impfstoffverteilung: Erst die Alten oder doch die Jungen? Und was ist mit ärmeren Ländern? Dabei gibt es eine in ihrer Dialektik begründete Schattenseite der Solidarität, schreibt der Politikwissenschaftler Rainer Forst in der FR: "Es ist sicher kein Naturgesetz, aber ein Phänomen, das in sozialen Gemeinschaften oft anzutreffen ist, dass, je intensiver die Solidaranforderung wird, die Gemeinschaft, die da gerade zusammenrückt, enger wird und sich nach außen abschottet. Sie beäugt sich wechselseitig streng, ob sich alle an die Abmachung halten: Kontraktion nach innen. Zudem besteht eine Tendenz zur Kontraktion gegenüber außen, da man geneigt ist, die Grenzen der Solidaritätsgemeinschaft entlang der Familie, der Nation (die als große Familie reethnisiert wird) oder anderer Identitätsgruppen zu ziehen, so dass ein Außen geschaffen wird, das auch (quasi als Außen im Inneren) Mitbürger und Mitbürgerinnen ausgrenzt (mit einem guten Schuss Xenophobie), andere Länder und ihre Nöte ignoriert, offen oder insgeheim nationalen Egoismus praktiziert und die Gefahr am liebsten im Fremden verkörpert sieht." Äh gut, aber wird in Flugzeugen nicht gepredigt, dass man zuerst seine Sauerstoffmaske aufsetzen soll, bevor man anderen hilft?
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Gesellschaft

In der Welt führt der Schriftsteller und Pianist Yorck Kronenberg eine Reihe von Punkten an, um zu erklären, weshalb er nichts vom Gendern hält. Zum einen werde die deutsche Sprache noch schwieriger übersetzbar, zum anderen widerspricht er der Behauptung, unser Denken werde durch die Sprache vorgegeben: "Dass wir mit dem generischen Maskulinum als unmarkierte, also allgemein anwendbare Pluralform hadern, spricht für unseren kritischen Blick auf die Vergangenheit. Dass aber Sprachgemeinschaften, die weitgehend ohne grammatikalisches Geschlecht auskommen - neben dem Englischen beispielsweise auch das Ungarische, Türkische oder Persische - ein höheres Maß an Geschlechtergerechtigkeit hervorgebracht hätten, darf bezweifelt werden. Sprachfamilien wie das nordamerikanische Mohawk, die als unbezeichnete grammatikalische Form ein robustes generisches Femininum benutzen, gingen traditionell durchaus nicht mit einem Rollenverständnis der biologischen Geschlechter einher, das Kritikern des generischen Maskulinums als Ideal vorschweben dürfte."
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Kulturpolitik

Winfried Nerdinger, der Präsident der Bayerischen Akademie hatte der SZ ein Interview gegeben, in dem er gegen die Behandlung der Kunst in der Coronakrise protestierte und die Aktion #allesdichtmachen verteidigte. Eine Gruppe von Akademiemitgliedern protestierte daraufhin in der SZ (Unser Resümee). Jetzt hat Georg M. Oswald, Direktor der Abteilung Literatur, die Akademie zusammen mit Friedrich Ani, Dagmar Leupold, Jonas Lüscher, Norbert Niemann und Albert Ostermaier verlassen. Im SZ-Interview mit Nils Minkmar erklärt er: "Nach unserer Auffassung ist es zwingend notwendig, dass der Präsident, bevor er mit Erklärungen an die Öffentlichkeit geht, sich ein Stimmungsbild in der Akademie macht. Und mehr als das, dass er die Mitglieder zur Diskussion einlädt. Aber er besteht darauf, seine Statements ohne eine solche vorhergehende Diskussion abzugeben. Ständig öffentlich mit Positionen in Verbindung gebracht zu werden, von denen man zuvor noch nie etwas gehört hat, ist kein Zustand."

Ebenfalls in der SZ kann Nils Minkmar mit Blick auf den soeben vom Bund beschlossenen Kultur-Sonderfonds über 2,5 Milliarden Euro kaum fassen, dass der großen Koalition solch ein "kulturpolitisches Meisterstück" gelungen sein soll: "Der Witz des Sonderfonds liegt in der langen, stillen Vorbereitung und in der guten Zusammenarbeit der verschiedenen politischen, kulturellen und administrativen Akteurinnen und Akteure. In der Pressekonferenz konnten sich Scholz und Grütters gar nicht genug gegenseitig loben und die Häuser, Branchen und alle anderen gleich mit. Schwang ein schlechtes Gewissen mit, weil die ersten Hilfsversuche so viel erbitterte Kritik ausgelöst haben? Deutschland war eine Kulturnation, lange bevor es zum Nationalstaat wurde."
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Internet

Für politische Werbung, etwa im Wahljahr 2021, gelten in den traditionellen Medien recht strikte Regeln. Sie betreffen aber noch nicht die großen Internetplattformen. David Werdermann sieht hier bei heise.de eine Lücke: "Angesichts der Wirkmacht von Google, Facebook & Co muss auch hier politische Werbung stärker reguliert werden. Ansonsten können finanzstarke Akteure durch massenhafte Anzeigen den politischen Diskurs im Netz an sich reißen. Eine Regulierung könnte sich an den Vorschriften orientieren, die für den Rundfunk gelten. Parteien dürften dann nicht mehr unbegrenzt Anzeigen schalten, sondern hätten ein festgelegtes Kontingent. So ließe sich auch vermeiden, dass die Digitalkonzerne Unmengen an Steuergeldern aus der Wahlkampfkostenerstattung erhalten oder sogar selbst in den Wahlkampf eingreifen, etwa indem sie bestimmte Parteien bevorzugen oder benachteiligen."
Archiv: Internet
Stichwörter: Wahljahr 2021, Regulierung