9punkt - Die Debattenrundschau

Spiel mit den Zeichen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2021. In Deutschland wird zwar gern über Israel diskutiert, aber eigentlich handeln diese Diskussionen von Deutschland, schreibt Richard C. Schneider in der Zeit. Antisemitismus ist in Deutschland alles andere als "importiert", insistiert Ronen Steinke in der SZ. Der jetzige Konflikt in Israel ist kein religiöser Konflikt, betont die israelisch-palästinensische Journalistin Rajaa Natour in der taz. FAZ-Kolumnist Bülent Mumay legt offen, welchem Druck er in der Türkei wegen seiner Artikel ausgesetzt ist. Die EU-Urheberrechtsreform ist unter Dach und Fach. Jens Balzer spricht sich in der Zeit gegen die EU-Urheberrechtsreform aus, die ihm trotz allem Lobbydruck immer noch zu lasch ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.05.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

In Deutschland wird zwar gern über Israel diskutiert, konstatiert Richard C. Schneider, ehemaliger Israel-Korrespondent der ARD, in der Zeit, nur handeln die Diskussionen gar nicht von Israel: "Ob proisraelische Hashtags oder, auf der anderen Seite, die Empörungsaktion deutscher Kulturinstitutionen, genannt 'Initiative GG 5.3 Weltoffenheit', die behauptet, beim Thema Israel sei die Meinungsfreiheit in Gefahr - fast nie wird wirklich der Nahe Osten verhandelt, sondern eher die immer währende Last der deutschen Vergangenheit. Deutsche Juden, Israel oder Palästina sind letztendlich nur Statisten in dieser Debatte, die um sich selbst und die eigene Identität kreist."

Die deutsche Regierung ist sich dabei aber nicht zu schade, Organisationen, die den Muslimbrüdern und damit der Hamas nahestehen wie der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft und Islamic Relief mit Millionenbeträgen zu subventionieren, schreibt Remko Leemhuis ebenfalls in der Zeit, wo auch Hamed Abdel-Samad konstatiert: "In Deutschland droht nun ein fatales Szenario: Juden bangen um ihre Sicherheit, während Judenhasser sich frei bewegen. Die religiösen Mythen von Hamas und Muslimbrüdern erscheinen manchen jungen Muslimen attraktiver als die westliche Freiheit. Warum? Weil der deutsche Staat es aus falscher Toleranz zugelassen hat, dass Islamisten hier ihre Infrastrukturen aufbauen konnten."

Ja, es gibt auch muslimischen Antisemitismus und es ist höchste Zeit, dass er auch so genannt wird, meint Ronen Steinke in der SZ. Das macht Antisemitismus in Deutschland aber noch lange nicht zu etwas neuem: "Wenn aus der Vogelschiss-Partei die Politikerin Alice Weidel nur dann von Antisemitismus sprechen will, wenn er ihr 'importiert' erscheint, während es in ihrer eigenen Partei so etwas überhaupt nicht gebe, oder auch, wenn der CDU-Politiker Philipp Amthor in einem Interview ausgerechnet anlässlich des Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz davon spricht, Judenhass sei 'natürlich vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen stark vertreten': Dann sind die Motive durchsichtig. Das ist Schuldabwehr. Dieses Land hat es nie nötig gehabt, die Ideologie des Antisemitismus zu importieren. Darauf hat Deutschland schon selbst ein Copyright. Nicht trotz, sondern leider auch wegen des deutschdeutschen Antisemitismus fühlen sich heute auch eingewanderte Judenhasser ermutigt."

Auch taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah spricht sich selbstverständlich gegen die Gewalt aus, "die Jüdinnen_Juden derzeit aushalten müssen. Um dies zu kritisieren, muss maus kein_e Nahost-Expert_in sein." Aber ganz ohne whataboutistische Warnung geht's nicht: "Gleichzeitig sind Bilder von Migrant_innen, die antisemitische Parolen skandieren, ein gefundenes Fressen für rassistische Kampagnen. Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein müsste es seines Jobs wegen besser wissen, wenn er Antisemitismus als Importprodukt bezeichnet. Doch es ist mit ihm wie mit vielen anderen Almans: Wenn nicht ein kleiner Freifahrtsschein für rassistische Forderungen dabei rausspringt, lohnt sich das Engagement gegen Antisemitismus nicht." Ebenfalls in der taz beschreibt Erica Zingher, welchen Shitstorms der Schauspieler tunesischer Hekunft Elyas M'Barek in den sozialen Medien ausgesetzt ist, weil er dort einen Post aus den zwei schlichten Wörtern "Stoppt Antisemitismus" veröffentlichte.

In der Welt fordert Michael Wolffsohn, dass der deutsche Staat und die Gerichte härter gegen Antisemitismus vorgehen: "Oft haben deutsche Gerichte vorhersehbar Juden und Israel dämonisierende, randalierende, andere Menschen attackierende 'Demonstrationen' trotzdem genehmigt oder Gewalttätern gegenüber milde Urteile gefällt. Das gefällt den Tätern, ermutigt sie, und sie krümmen sich vor Lachen. Zumindest Teile der deutschen Justiz können oder wollen das Grundgesetz nicht anwenden. Damit gefährden sie die zivilisatorische Grundlage unseres Gemeinwesens. Was Wunder, dass unbescholtene Bürger und nicht nur eingefleischte Rechtsextremisten zu dem Schluss gelangen, dass unser Staat arabisch-muslimischen Tätern Sonderrechte zugesteht. Aus Protest wählen sie Rechtsextreme." (Rechtsextrem wählen, um Antisemitismus zu bekämpfen, wäre allerdings extrem unschlau.)

Barbara Schweizerhof und Michael Angele vom Freitag unterhalten sich mit dem Regisseur Dietrich Brüggemann über die von ihm lancierte #allesdichtmachen-Aktion. Was er damit genau bezweckte, versteht man nach der von ihm bemühten Schlingensief-Referenz erst recht nicht mehr: "Schlingensiefs Methode bestand sehr oft in der Affirmation der Gegenposition. Denken Sie an 'Ausländer raus' in Container. Der migrationsoffenen Linken hat Schlingensief damit nicht wehgetan, wohl aber der damals sehr rechts stehenden breiten Masse in Österreich. Man hat sich dann natürlich mit deren Beschimpfung auch seinen Orden abgeholt, aber rein diskursanalytisch erfolgte das über Affirmation der Gegenposition." Hm.
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Politik

In der taz versucht die israelisch-palästinensische Journalistin Rajaa Natour, den jetzigen Konflikt aus Sicht ihrer Bevölkerungsgruppe zu erklären. Es ist ein politischer Konflikt, erinnert sie, auch wenn der Versuch, ihn zu einem religiösen umzudeuten erstmal genial erschien: "Die Religionisierung des palästinensischen Kampfes ist jedoch hauptsächlich aus zwei Gründen fatal: Erstens ist der palästinensische Konflikt mit dem Staat Israel kein religiöser. Die Palästinenser haben kein Problem mit dem Judentum der Bürger Israels, sondern die Palästinenser haben ein Problem mit der 'Jüdischkeit' des Staates. Zweitens kann al-Aqsa nicht die einzige Komponente sein, die Palästinenser und Araber im Kampf für die palästinensische Selbstverwaltung vereinen wird! Nicht al-Aqsa ist in Gefahr, sondern Jaffa, Lod, Haifa und der Negev sind in Gefahr, palästinensische Kinder, Studenten und palästinensisches medizinisches Personal sind in Gefahr!"

Netanjahu und Trump haben Israel und dem Rest der Welt vorgaukeln können, der Konflikt mit den Palästinensern erledige sich gerade von selbst und sei praktisch vorbei. Dabei hätte man die letzten Jahre produktiver nutzen können, kritisieren in der FR Shimon Stein, ehemaliger israelischer Botschafter, und der Historiker Moshe Zimmermann: "Nicht zum ersten Mal wird klar: Wenn man den Teufelskreis von Krieg, Waffenruhe und wieder Krieg durchbrechen will, muss die internationale Gemeinschaft gerade während der 'Ruhezeit' tätig werden und nicht wie bisher mit heuchlerischer Bestürzung erst auf die Explosion reagieren. Jetzt, nach dem Ende dieser Runde der Gewalt, ist eine seriöse, gemeinsame Initiative der USA und der EU um die Lösung der Palästinafrage notwendig. Mit Zuckerbrot und Peitsche sollten die Kontrahenten zu Verhandlungen motiviert und regionale Störfaktoren neutralisiert werden. Wird die jüngste Krise zum Weckruf für die israelische Gesellschaft?"

Außerdem: Im Interview mit der NZZ spricht Henry Kissinger über die Grundlagen von Geopolitik und das Verhältnis der USA mit China.
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Kulturpolitik

Wie das so ist bei vornehmen Institutionen der öffentlichen Hand: Untergeordnete Tätigkeiten lagern sie in Tochterfirmen aus, wo nicht gleich die schönen Standards des öffentlichen Dienstes gelten. So auch das Humboldt-Forum, das seinen Besucherdienst von der "Humboldt Forum Service GmbH" organisieren lässt. Dort soll es zu rassistischen Ausfällen gekommen sein, berichtet Christiane Habermalz im Deutschlandfunk. Das Humboldt Forum und Monika Grütters zeigen sich entsetzt: "Für das angeschlagene Image des Humboldt-Forums steht einiges auf dem Spiel. Der Besucherservice soll das weltoffene Aushängeschild für das Humboldt Forum sein, ein diverses, multiethnisches Team, kompetente und freundliche Ansprechpartner für Besucher aus aller Welt. Doch bereits vor einigen Monaten gab es Beschwerden wegen rassistischer und sexueller Bemerkungen im Team - zwei Mitarbeitern war deswegen fristlos gekündigt worden."
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Geschichte

Es hilft immer, sich seine Meinung nicht nur am Schreibtisch zu bilden, lernt man aus einem Interview der SZ mit dem schottischen Germanisten Ritchie Robertson über die Frage, ob die Aufklärung die Grundlage für den Rassismus legte: "'Rassische' Ungleichheit war kein zentraler Gedanke der Aufklärung. Er schlich sich überall da ein, wo man versuchte, die Menschheit zu klassifizieren. Aber konkrete Kontakte und Reisen veränderten das Denken. Ein Beispiel: Als besonders wild galten die 'Hottentotten' im heutigen Namibia. Aber dann erschienen Reiseberichte, die ihre Kultur verteidigten. Und ein Reisender wie Georg Forster stellt seine ethnografischen Beobachtungen mit größtem Respekt an. Die Reisenden der Aufklärungszeit behaupten keineswegs eine prinzipielle Überlegenheit des 'Westens'."
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Urheberrecht

Ganz schlimm findet Jens Balzer in der Zeit die nun auch in Deutschland verabschiedete europäische Urheberrechtsreform, weil sie es Internetnutzern erlaubt, 15 Sekunden lange Musikschnipsel zu verwenden, ohne die Urheber um ihr "geistiges Eigentum" zu bitten. Eigentlich verabscheut Balzer sogar bestimmte Formen künstlerischer Anverwandlung, ohne die die Kunst- und Musikgeschichte anders aussähen, weil sie Geistiges eben nicht als Eigentum behandeln: "Als 'Pastiches' galten Kunstwerke, die sich in völliger Freiheit aus dem Fundus der Kulturgeschichte bedienten, ohne dass sie sich dabei in inhaltlich gehaltvoller Weise mit den angeeigneten Kunstwerken auseinandersetzen mussten. Anders als Karikaturen und Parodien wollten Pastiches nichts kommentieren, kritisieren oder verfremden. Sie frönten dem reinen Spiel mit den Zeichen und erklärten die Kopie zum wahren Original."

In ihrem Blog gibt Julia Reda einen Überblick über die Änderungen, die jetzt beschlossen werden.
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Ideen

Mit Wehmut blickt Axel Honneth, Doyen der Frankfurter Schule, in der Zeit auf verpasste Gelegenheiten der Coronakrise, zum Beispiel die Chance, "endlich die gebetsmühlenartig wiederholte Formel von der Alternativlosigkeit des Marktes fallen zu lassen und mit vereinten Kräften über ganz neue, gemischte Wirtschaftsformen nachzudenken, in denen je nach Art und Dringlichkeit des Bedarfs ganz andere Methoden der effizienten Versorgung zum Einsatz kommen."

In der taz gratuliert Claus Leggewie dem Historiker und Politologen Dan Diner zum 75. Geburtstag, der in seinem jüngsten Buch "Ein anderer Krieg - Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg" historische Hintergründe des jetzigen Konflikts beleuchtet. In der Welt schreibt der Philosoph Marcus Gabriel über das Präventionsparadox-Paradox.
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Medien

Und wieder wechselt eine Journalistin die Seiten, diesmal gar eine Medienjournalistin. Die stets bestens informierte Ulrike Simon wechselt vom Branchenblatt Horizont zum RBB, meldet Horizont. Beim RBB soll sie "vor allem für Fragen der Medienpolitik und die damit verbundene strategische Kommunikation" zuständig sein.

Die regierungsamtlichen Pressesubventionen wird es erstmal nicht geben. Aber es bleiben ja Google und Facebook, die die gefürchteten Lobbyisten mit Geld überschütten. Nun startet Facebook mit neuen Projekten, berichtet Alexander Fanta bei Netzpolitik: "Ein prominenter Begünstigter ist der Axel-Springer-Verlag, dessen Flaggschiffe Welt und Bild nicht nur durch ihre große Reichweite Bedeutung haben. Denn Springer und sein Vorstandschef Mathias Döpfner, die in Verlagsverbänden den Ton angeben, schimpfen seit Jahren lautstark auf Google und auf Facebook, mit dem der Konzern nun einen Deal gemacht hat. Die harsch kritisierten 'Überwachungskapitalisten' von gestern sind die Geschäftsfreunde von heute."
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Europa

In seiner jüngsten FAZ-Kolumne erklärt Bülent Mumay, was der Satz "Du gehörst mir oder der schwarzen Erde" bedeutet, der häufig in türkischen Soap Operas fällt: Loyalität oder Tod. Er erklärt, wie Erdogan nach diesem Prinzip die Türkei in eine Autokratie verwandelte und wendet sich in einer ungewöhnlichen Passage direkt an seine Leser, um sie erblicken zu lassen, welches Risiko seine Kolumne für ihn selbst bedeutet: "Man übte Druck auf die Zeitung aus, für die ich seinerzeit in der Türkei arbeitete, sodass ich entlassen wurde; kurz nachdem ich begann, für die FAZ zu schreiben, wurde ich in Gewahrsam genommen und mein Pass ungültig gemacht. Seit Jahren bekomme ich keine Pressekarte mehr, die in der Türkei vom Staat ausgegeben wird. In der regierungstreuen Presse bin ich als Spion für Deutschland bezichtigt worden, auch als Terrorist."

Im neuen "Gesetz zum Erscheinungsbild von Beamtinnen und Beamten" heißt es: "Religiös oder weltanschaulich konnotierte Merkmale des Erscheinungsbildes () können nur eingeschränkt werden, wenn sie objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die neutrale Amtsführung der Beamtin oder des Beamten zu beeinträchtigen." Ein Kopftuchverbot würde sich zwar anders lesen, aber die Empörung ist weithin groß, so auch heute beim Rechtsprofessor Rudolf Steinberg in der FAZ: "Dass dieses neue Verbot ohne jegliche parlamentarische Debatte beschlossen wurde, erscheint befremdlich. Hier wird unter bestimmten Voraussetzungen in das Grundrecht der Religionsfreiheit von zahlreichen muslimischen Frauen eingegriffen, ohne dass dies einer öffentlichen Debatte für würdig befunden wurde. Der Respekt gegenüber ihren Freiheitsrechten wird hier gröblich verletzt."
Archiv: Europa