9punkt - Die Debattenrundschau

Ein undankbares, zweibeiniges Tier

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2021. Wie gehen Medien und Politik mit den antisemitischen Ausschreitungen der letzten Tage um? Die Empörung darüber wird immerhin vielfach formuliert. Aber es bleibt ein Unbehagen, das Alfred Bodenheimer in der NZZ benennt: Schon in normalen Zeiten trauen Juden sich oft nicht, sich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen. In der FAZ attackiert Jürgen Kaube jene Intellektuellen, die den Antisemitismus vor allem rechts verorten. In der SZ erklärt die Grünen-Politikerin Aminata Touré, warum sie nicht gefragt werden will, woher sie kommt. Bei hpd.de macht Ralf Nestmeyer eine eigenartige Beobachtung: Die Kirchen verlieren an Rückhalt in der Bevölkerung, aber nicht an Einfluss in der Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.05.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

In den letzten Tagen kursierte in den Medien eine Meldung, dass es vor einer Synagoge in Gelsenkirchen zu "antiisraelischen" Kundgebungen gekommen sei. Die Medien übernahmen die Formulierungen der Polizei, die "Tod den Juden"-Rufe wurden nicht mal erwähnt. Wie 2014, als es in Israel zuletzt zu Gewalt kam, wurde islamistischer Antisemitismus hier nicht benannt, schreibt die Islamismusforscherin Sigrid Herrmann-Marschall in ihrem Blog: "Neu ist im Vergleich zu 2014 nur, dass sich die jetzige schwarz-gelbe Landesregierung medial und verbal klar auf die Seite Israels sowie der in Deutschland lebenden Juden stellt. Wenn es jedoch darum geht, den islamistischen Anteil solcher 'Kundgebungen', die in Wahrheit ein Angriff auf Synagogen und damit auf Juden sind, unter den Tisch zu kehren, steht auch diese Landesregierung ganz eindeutig in der Tradition ihrer rot-grünen Vorgängerregierung."

Es sind ganz unterschiedliche Gruppen, die vor den Synagogen demonstrieren, schreibt Ronen Steinke in der SZ: "Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, spricht schon seit längerer Zeit von einer 'verbindenden Klammer' des Antisemitismus. Egal ob bei der schiitischen Hisbollah oder dem ultrasunnitischen 'Islamischen Staat': Der Judenhass sei ein gemeinsamer Nenner für sie. Judenfeindlichkeit werde 'von praktisch allen nennenswerten islamistischen Organisationen vertreten, die in Deutschland aktiv sind', auch der Muslimbruderschaft und Milli-Görüs."

Jürgen Kaube attackiert in der FAZ, ohne sie namhaft zu machen, jene mächtige Fraktion deutscher Intellektueller und höchster Kulturfunktionäre, die jüngst noch forderte, BDS-Sympathisanten auftreten lassen zu dürfen, ohne persönliche Karrierenachteile befürchten zu müssen. Diese Fraktion insistierte in ihren Aufrufen der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" und ihrer "Jerusalem Declaration", dass der Antisemitismus von rechts der einzig relevante sei, erinnert Kaube: "Der 'israelbezogene Antisemitismus', hieß es unlängst, sei eine Erfindung zur Verteidigung der Kolonialpolitik Israels. Jetzt, da sich eine Form des manifesten Antisemitismus vor den heimlichen, 'codierten' geschoben hat, schweigen aber viele der soeben noch vor allem um BDS-Sympathisanten Besorgten vernehmlich. Womöglich, weil sie es zu mühevoll finden, sich der Geschichte Israels zu erinnern, und es lieber 'politisch' finden, sich auf eine Seite der Auseinandersetzung in Palästina zu schlagen, die dann selbstverständlich als Seite der Opfer bezeichnet werden muss."

In der Jüdischen Allgemeinen wird gemeldet, dass die Stadt Hagen die israelische Fahne vor dem Rathaus abgehängt hat und kommunziert, dass dieser Schritt "ausschließlich der Deeskalation" gedient habe. Mit dem Hissen der Fahne sollte an die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel am 12. Mai 1965 erinnert werden.

Die antisemitischen Demos vor den Synagogen haben immerhin in Medien und Politik weithin für Empörung gesorgt. Dennoch bleibt ein beschämender Umstand, den der Religionshistoriker Alfred Bodenheimer in der NZZ benennt. Bodenheimer ist Bürger Basels, wo die Juden der Stadt von der Stadtverwaltung gerade aufgefordert worden, sich in bestimmten Stadtvierteln besser nicht aufzuhalten. Aber viele Juden, so Bodenheimer, vermeiden so schon jede Kenntlichkeit: "Der Umstand, dass jüdische Menschen Angst haben auf Europas Straßen, wird längst in Kauf genommen, und der Aufruf der Basler Gemeinde ist bloß ein besonders schrilles Signal dafür. Während über Denkmäler, Straßenbenennungen, Gendergerechtigkeit und Mikroaggressionen gestritten wird, verschwindet eine Minderheit unbemerkt aus dem Bild der Öffentlichkeit. Wie immer wird man das Verschwinden erst dann bemerken, wenn nichts mehr da ist."

Die Grünen-Politikerin Aminata Touré ist schwarz. Im Interview mit Marija Barisic und Johannes Korsche in der SZ erklärt sie, was sie an der Frage stört, woher sie kommt: "Dass es in dieser Debatte immer um die Person geht, die fragt. Immer stehen ihre Absichten und Gefühle im Fokus. Ich glaube aber, wir sollten als Menschen in der Lage sein, uns mal in die anderen hineinzuversetzen, die diese Frage immer wieder in den unmöglichsten Situationen gestellt bekommen."
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Geschichte

Beat Stauffer, Autor von Büchern über den Maghreb, erinnert in der NZZ an den einstigen Multikulturalismus Arabiens - am Beispiel etwa der Hafenstadt La Goulette in Tunesien: "Viele heutige Bewohner der Stadt dürften nichts mehr davon wissen, dass La Goulette einst ein Schmelztiegel war, in dem Angehörige fast aller Mittelmeerkulturen miteinander lebten, dass hier die Schauspielerin Claudia Cardinale geboren wurde und dass es einst ein Quartier namens La Petite Sicile gab. Nur im Film 'Un été à La Goulette' des tunesischen Filmschaffenden Férid Boughedir ist dieser vergangenen Zeit ein Denkmal gesetzt. Tempi passati. Der heutige Bürgermeister von La Goulette gehört der islamistischen Partei Ennahda an. Mit Diversität hat diese Partei nichts am Hut, ganz im Gegenteil. Sie kämpft unermüdlich für die Erhaltung der 'islamischen Identität' Tunesiens."
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Politik

Der Ha'aretz-Redakteur Lior Soroka wirft in der taz einen innenpolitischen Blick auf die Krise in Israel. Gerade sei es möglich erschienen, dass ein Bündnis liberaler und linker Kräfte, inklusive arabischer Politiker, die Netanjahu-Regierung ablöst: "Netanjahu hat jahrelang die Fatah und die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland ignoriert und damit zur Stärkung der Hamas beigetragen. Doch bis vor ein paar Tagen noch schien Wandel für Israel eine echte Option zu sein. Nach zwölf Jahren unter Netanjahus Regierung war ein Machtwechsel endlich vorstellbar. In vier Wahlen innerhalb von zwei Jahren war Netanjahu mehrfach daran gescheitert, seine Traumregierung zusammenzustellen - eine 'vollständig' rechte Regierung, wie er es nannte. Er scheiterte, weil die anderen Spieler in der politischen Arena bereit waren, sich gegen ihn zu verbünden." Trotz der Konflikte, die an verschiedenen Stellen aufbrechen, will Soroka diese Hoffnung nicht aufgeben.

Unterdessen wütet die Coronakrise in Indien mit ungehinderter Macht. Vineet Gill erzählt in der taz, wie er seinen Onkel, einen marxistischen Intellektuellen und Exzentriker verloren hat: "Seine Tochter erreichte das Hospital am Morgen und wurde darüber informiert, dass der vereinbarte Videoanruf mit ihrem Vater demnächst stattfinden könne. Mittags erfuhr ich, dass mein Onkel nachts gestorben war. Sein Leichnam war bereits auf dem Weg ins Krematorium. Niemand konnte der Bestattung beiwohnen. Einen solchen Tod zu betrauern ist unmöglich, weil sich diese plötzliche Auslöschung für die Hinterbliebenen anders als der Tod anfühlt, und während die Trauer eines Tages enden wird, wird der Kummer, der einer solchen sinnlosen Verkürzung des Lebens folgt, endlos sein."
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Religion

Ralf Nestmeyer macht bei hpd.de eine eigenartige Beobachtung. Die Kirchen verlieren in der Bevöllkerung immer mehr Rückhalt. In der Politik aber bleiben sie so einflussreich wie eh und je. Das hat auch damit zu tun, dass Politiker weit überproportional kirchlich gebunden sind: "Kirche und Politik suchen gern den engen Schulterschluss. Christliche Abgeordnete sind im Bundestag stets überdurchschnittlich vertreten gewesen. Die meisten Mitglieder der amtierenden Bundesregierung vertrauten bei ihrem Amtseid auf Gottes Hilfe - nur Olaf Scholz, Katarina Barley und Svenja Schulze verzichteten auf diese Formel. So wie im Bundestag der Frauenanteil zu gering ist, so ist auch die religiöse Bindung der Abgeordneten nicht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Konfessionslose stellen ebenso wie Muslime eine Minderheit dar."
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Ideen

In einem Interview mit Alexandre Devecchio in der Welt ruft Peter Sloterdijk dazu auf, mit der Kritik in der Coronakrise mal ein bisschen innzuhalten: "Bevor wir die Unmenschlichkeit der Gesetzgeber anklagen, sollten wir uns darüber klar werden, dass eine große Anzahl von Personen seit mehr als einem Jahr fast übermenschliche Leistungen vollbringt, um dieses Übel einzudämmen... Wir haben heute allen Grund, uns an Dostojewski zu erinnern, der den Menschen als undankbares, zweibeiniges Tier bezeichnet. Noch nie hat es, ein Jahr nach Ausbruch einer Pandemie, ein halbes Dutzend hochwirksamer Impfstoffe gegeben - der Zeitgeist jedoch zieht es vor, sich durch den Fortschritt beleidigt zu fühlen."
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