9punkt - Die Debattenrundschau

Klar darf es da auch Geschäfte und Spätis geben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2021. Jan-Werner Müller denkt in der Welt über eine neue "demokratische digitale Infrastruktur" ganz ohne "Aufhetzungskapitalismus" nach. Einverstanden wäre sicherlich Christian Humborg, der neue Chef von Wikimedia Deutschland, für den die offene Struktur aber schon da ist: Sie heißt offenes Internet, sagt er in der SZ. SZ und Welt erläutern die neuen Unruhen in Jerusalem.  In der taz widersprechen zwei jüdische Studenten dem Zeit-Online-Essay von Fabian Wolff.  Und in der FAZ antworten einige bayerische Künstler ihrem Akademiepräsidenten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2021 finden Sie hier

Internet

Der Politologe Jan-Werner Müller ist ganz für soziale Medien, weil sie mehr Meinungspluralismus ermöglichen. Nur sollten sie nicht vom "Aufhetzungskapitalismus" profitieren, erklärt er in der Welt. Es gebe in den USA inzwischen "eine ganze Reihe wichtiger Initiativen für demokratische digitale Infrastruktur, insbesondere öffentliche Plattformen, die sich nicht am Modell von Profit-durch-Überwachung-durch-Werbung orientieren. Analog zu der amerikanischen Corporation for Public Broadcasting - dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das es in den USA entgegen landläufiger Meinung durchaus, aber halt in kleinem Maßstab, gibt - hat man eine Corporation for Public Software vorgeschlagen. Damit stünden Apps zur freien Verfügung, die vor allem offenen Austausch unter Bürgern ermöglichen sollen. Es wäre einmal mehr naiv zu meinen, hier würde sich dann flugs Konsens ergeben: Kommunikationsfreiheit und Vergemeinschaftung, so sagte Armin Nassehi einmal, schlössen sich eigentlich aus. Aber Kommunikationsfreiheit, die für Profit manipuliert wird, ist immer noch etwas Besonderes, das sich auch ganz anders regulieren ließe."

Eigentlich gibt es schon längst eine demokratische digitale Infrastruktur: Sie heißt world wide web und ist jedem zugänglich. Im Interview mit der SZ erinnert Christian Humborg, der designierte neue Chef der deutschen Wikimedia-Gesellschaft, daran, dass der digitale Raum immer noch mehr ist als die sozialen Medien: "Eigentlich sollte der digitale Raum so gestaltet sein, wie wir uns auch das nicht-digitale Leben vorstellen. ... Das sollte ein öffentlicher Raum sein. Klar darf es da auch Geschäfte und Spätis geben, aber das sollte nicht der dominierende Mechanismus sein. In manchen Ländern wissen die Menschen gar nicht mehr, dass es ein freies, offenes Internet gibt. Die landen direkt bei Facebook. Deshalb müssen wir die offene, digitale Gesellschaft mitgestalten."

Außerdem: Im Interview mit der NZZ spricht Anna Zeiter, Global Chief Privacy Officer von Ebay, über Meinungsfreiheit, Datenschutz und die sozialen Medien.
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Europa

Erstmals seit - ja, seit wann eigentlich? - werden in Deutschland Debatten über Vergesellschaftung geführt. Die Initiative für das "Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co. enteignen" hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der darlegt, wie diese Vergesellschaftungen von Wohnraum in Berlin funktionieren sollen. Erik Peter erläutert ihn in der taz: "Der Kernsatz des elf Paragrafen umfassenden Gesetzentwurfs befindet sich in Paragraf 1 unter dem Titel 'Vergesellschaftung'. Dort heißt es: 'Der Bestand an Wohnimmobilien vergesellschaftungsreifer Unternehmen wird in Gemeineigentum überführt.' Die etwa 240.000 Wohnungen, die von einer Vergesellschaftung betroffen wären, sollen in eine Anstalt öffentlichen Rechts namens 'Gemeingut Wohnen' überführt werden. Vergesellschaftet werden sollen nicht die Unternehmen selbst, sondern die ihnen gehörenden, zu Wohnzwecken dienenden Grundstücke."

In der Welt plädiert Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, für eine Freigabe der Impfstoff-Patente. Länder wie Indien hätten kein Problem, einen Impfstoff herzustellen, meint er. Und den Pharmakonzernen würde es auch nicht schaden, die würden einfach nur etwas weniger reich: "Die erfolgreichen Pharmakonzerne haben schon jetzt so enorme Profite mit ihren Covid-19-Impfstoffen gemacht, dass sich ihre Investitionen und Risiken vielfach gerechnet haben. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung zeigt, dass der optimale Patentschutz nicht bedeutet, erfolgreichen Pharmakonzernen einen möglichst langen und umfangreichen Patentschutz zu gewähren. Ganz im Gegenteil, ein Quasi-Monopol führt zu hohen Gewinnen für die erfolgreichen Konzerne, aber häufig auch zu einer Verknappung des Angebots und vor allem langfristig zu weniger Innovation."
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Kulturpolitik

Eindringlich hat Winfried Nerdinger, Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, am letzten Freitag in der SZ gegen die Behandlung der Kunst in der Coronakrise protestiert. Sie werde durch die Politik geradezu zur Disposition gestellt: "Aber zuvor darf die Würde des Menschen durch den Friseur wiederhergestellt werden." Dagegen protestiert heute eine Gruppe prominenter Akademiemitglieder - aber in der FAZ: "Herr Nerdinger tut so - in einer Zeitung, die ihm eine halbe Seite dafür einräumt -, als müssten wir alle vor einer Regierung niederknien, die uns mundtot macht. Von welchem Staat redet er? Mit derart abenteuerlichen Thesen diskreditiert Herr Nerdinger ausgerechnet jenes elementare Recht, auf das wir gerade jetzt unter den Bedingungen der Einschränkung von Grundrechten den allergrößten Wert legen: das Recht auf Kritik."

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die gerade von Götz Aly erfahren hat, dass ihr prachtvolles Südseeboot von der Insel Luf nicht "erworben", sondern geraubt wurde, hat jetzt erklärt, sie wolle "das Boot weiterhin zeigen", meldet Jörg Häntzschel in der SZ, "nur jetzt als 'Mahnmal der Schrecken der deutschen Kolonialzeit'. Auf die Herkunft des Boots und die Strafexpedition, in deren Zuge etwa die Hälfte der Bewohner getötet wurde, soll in der Ausstellung eingegangen werden."
Archiv: Kulturpolitik

Politik

In Israel toben die gewaltsamsten Ausschreitungen seit langer Zeit, und wie stets setzt sich dies hier als Kampf der Deutungen fort. Alan Posener schildert in der Welt die höchst komplizierte Geschichte Ostjerusalems, wo Palästinenser gegen die Räumung von Wohnungen protestieren, in denen sie seit Generationen leben - in denen vor 1948 aber Juden lebten. Sie hatten nach Pogromen, angestachelt vom Mufti von Jerusalem, der mit den Nazis verbündet war, diesen Stadtteil zum Teil verlassen müssen. "Statt sie zu verteidigen, ordneten die Briten ihre Evakuierung an. Als Jordanien 1948 entgegen dem Beschluss der UN Ost-Jerusalem besetzte, wurden die letzten Juden vor die Alternative Flucht oder Tod gestellt. Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt."

Aber da die Palästinenser hier nun mal seit Generationen leben, "entsteht so neues Unrecht", kommentiert Alexandra Föderl-Schmid in der SZ: "Zudem vergeben israelische Behörden an Palästinenser keine Baugenehmigungen mehr. Auch das führt zu Vertreibungen durch steigende Preise, denn Palästinenser sind gezwungen, sich günstigere Quartiere am Stadtrand oder im Westjordanland zu suchen." Die SZ-Korrespondentin skizziert auch den großpolitischen Kontext, in dem die Ausschreitungen stattfinden: "Es geht um den innerpalästinensischen Machtkampf, um die israelische Regierungsbildung und nicht zuletzt um das Verhältnis zu jenen arabischen Staaten, mit denen Israel gerade eine Versöhnung eingeleitet hat." Föderl-Schmids ausführlicher Bericht hier.
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Ideen

Yevgen Bruckmann und Moritz Meier, zwei jüdische Studenten russischer Herkunft, antworten in der taz ziemlich böse auf den vielfach gefeierten Zeit-online-Essay von Fabian Wolff. Wolff hatte darin Position für Achille Mbembe und den Intendantenaufruf ("Initiative GG 5.3 Weltoffenheit") bezogen (unser Resümee). Wie die Intendanten will er BDS "nicht per se" als antisemitisch sehen und verteidigt Mbembe, der von jüdischem Denken beeinflusst sei: "So verblüfft es nicht, dass der Verweis Mbembes auf die jüdischen Philosoph:innen, die ihn geprägt hätten, für Wolff ein ausreichendes Alibi bedeutet: Er selbst baut doch in weiten Teilen auf der Argumentation des durchschnittlichen deutschen Antisemiten auf, dass 'einige meiner besten Freunde Juden sind', in seinem Fall sogar er selbst. Es sind meist diese jüdischen Freund:innen, die Israel als kolonialistisches Projekt bezeichnen, denn 'meine Perspektive ist das nicht', wie Wolff sich schnell zu distanzieren weiß, aber wer wäre er denn, würde er ihnen die Form ihres Jüdischseins diktieren wollen."

Viele Konservative und Liberale sorgen sich um den Verlust von Freiheiten, die auch nach der Pandemie nicht vollumfänglich restauriert werden könnten. Auf Zeit online zuckt Thomas Assheuer angesichts der "panischen" Beschwerden die Schultern. Gut möglich, meint er. Und? "Die demokratischen Freiheiten gibt es hoffentlich bald zurück, kaum aber die alte Freiheit im Umgang mit der zivilisatorisch beschädigten Natur. Denn die ausgeplünderte Natur, wenn man so lyrisch reden will, hat das Duldungsabkommen mit der entgrenzten liberalen Freiheit aufgekündigt - sie rebelliert und weigert sich, die Zuwachsgesellschaften bis in alle Ewigkeit mit ihren Gratisgaben zu beliefern. Was man verharmlosend Klimakrise nennt, beendet den himmlischen, im langen fünfzehnten Jahrhundert entstanden Traum vom friedlichen Zusammenspiel aus Natur und Kultur, aus göttlicher Materie und menschlicher Technik. ... Vielleicht denkt man lieber über eine Freiheit nach, die heute ihre selbstzerstörerische Praxis begrenzt, damit sie morgen noch die freie Wahl hat."
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Gesellschaft

Das Auto hat nicht nur unsere Städte okkupiert, es okkupiert auch unsere Köpfe - über die Sprache, sagt der Verkehrsforscher Dirk Schneidemesser im Gespräch mit Anja Krüger in der taz. Etwas das Wort "parken": "Das Parken an sich ist ein absurdes Phänomen. Stellen wir uns mal vor, wir lagern etwas anderes im öffentlichen Raum: Ich montiere ein Schloss an meinen Kühlschrank und stelle ihn an den Straßenrand. Das klingt absurd, aber das ist eine ähnliche Praxis. Autos werden im öffentlichen Raum gelagert. Das Wort 'parken' normalisiert dieses Verhalten. Wir hinterfragen diese Praxis nicht. Dabei ist das die Privatisierung des öffentlichen Raumes. Ein Parkplatz kostet bei der Einrichtung bis zu 5.000 Euro, im Unterhalt bis zu 300 Euro im Jahr in urbanen Räumen. Die Anwohnerparkgebühren spiegeln diese Kosten nicht wider."

Peter Laudenbach hat sich für die SZ bei vier Kulturschaffenden über Attacken rechter Gewalttäter informiert (gestern im Print, heute online): Da wurden Autos abgefackelt und Fensterscheiben eingeworfen, es gab Drohungen, Beleidigungen und Einschüchterungen: "Ich habe mich nach den Brandanschlägen nicht körperlich bedroht gefühlt. Das hat sich durch Verbrechen wie den Mord an Walter Lübcke geändert. Man weiß nicht, wie sehr sich diese Leute oder irgendwelche Trittbrettfahrer radikalisieren. Eine Zeit lang hatte ich Angst davor, dass Rechtsradikale im Buchladen randalieren. Es gibt in Neukölln-Rudow seit Jahren eine Anschlagsserie von Rechtsradikalen. Diese Taten sind bis heute nicht aufgeklärt", erklärt der Berliner Buchhändler Heinz Ostermann. Hans Rotman, Leiter des Impuls-Festivals für Neue Musik, Sachsen-Anhalt, wurde heftig von der AfD attackiert und bekam schließlich antisemitische Briefe, in denen Patronen lagen, "aber es waren nur Platzpatronen. Eigentlich ist es der Traum jedes Musikers, dass neue Musik politisch gefährlich ist und etwas verändert. Aber so eine Reaktion geht ein bisschen zu weit."
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Religion

Der nächste Ökumenische Kirchentag findet nur online statt und wird nach Recherchen von Maximilian Steinhaus bei hpd.de zu 52 Prozent von der öffentlichen Hand bezahlt. Das erstaunt besonders wegen der von Kirchen bezifferten Gesamtkosten von 20 Millionen Euro: "Diese Aussagen überraschen in mehrfacher Hinsicht: Ein Kirchentag als Präsenzveranstaltung bedeutet einen immensen logistischen Aufwand. In der Regel gibt es rund 2.000 Veranstaltungen, mehrere Großbühnen mit Videoleinwänden, kleinere - aber dafür zahlreichere - Bühnen, mehrere Großzelte, hunderte kleinere Pavillons, zig angemietete Locations, an jedem Ort Beschallungsanlagen, Flaggen, Werbebanner. All diese Kosten fallen nun weg. Trotzdem soll der Kirchentag immer noch 20 Millionen Euro kosten."
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Stichwörter: Staat und Kirche, Kirchentage