9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht auszuhebeln

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2021. In La Règle du Jeu protestiert Bernard-Henri Lévy gegen die Verhinderung des Prozesses zum Mord an Sarah Halimi - der Mörder, der Halimi unter "Allahu akbar"-Rufen aus dem Fenster warf, wurde von vornherein für schuldunfähig erklärt, weil er sich vor seiner Tat mit Drogen aufgeputscht hatte. In Time träumt Judith Butler im Zeichen der Coronakrise von globaler Entgrenzung und Abbau der Individualität auf einer Erde, in deren Zentrum nicht der Mensch steht. Die SZ berichtet über die Gleichschaltung ungarischer Universitäten mithilfe von EU-Geldern. Die taz beklagt Sarah Wagenknechts "verstaubte Spießermoral".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.04.2021 finden Sie hier

Europa

Als der Mörder von George Floyd auch als solcher verurteilt wurde ging ein Ruf der Genugtuung durch die ganze Welt. Ein anderes, ebenso symbolisches Urteil in Frankreich hat international kaum Aufsehen erregt - obwohl zumindest in Frankreich Tausende dagegen protestierten (mehr hier und hier). Der Mörder von Sarah Halimi ist für schuldunfähig erklärt worden. Er hatte sich 2017 mit Drogen aufgeputscht, bevor er bei der Rentnerin Halimi eindrang, sie folterte und aus dem Fenster warf, weil sie Jüdin war, dabei unablässig "Allahu akbar" rufend. Das Gericht, schreibt Bernard-Henri Lévy in La Règle du Jeu, hätte "diesen juristische Zwiespalt wenigstens benennen können und wenigstens  zwischen juristischer Unverantwortlichkeit und moralischer Immunität unterscheiden müssen: 'gewiss, wir verurteilen keine Geisteskranken, und es versteht sich, dass ein Mann, dessen Verstand vom Wahn verzerrt ist, strafrechtlich nicht verantwortlich ist. Aber wie steht es um einen, der nicht verrückt ist? Wie steht es um einen Dschihadisten, der Captagon einwirft, um sich Mut zu machen? Und was hat es mit einem Subjekt auf sich, der zu seinem Geisteszustand beiträgt, indem er eine enthemmende Substanz einnimmt?'"

Den direkten Druck auf Alexej Nawalny (wie übrigens auch auf die Ukraine) hat Wladimir Putin etwas zurückgenommen. Dafür aber werden jetzt Nawalnys Organisationen kriminalisiert. Die verschärfte Repression wird Russland selbst am meisten schaden, meint Reinhard Veser in der FAZ, denn sie wird zu einem noch schlimmeren Exodus der Qualifizierten führen: "Russland steht wegen des Klimawandels vor noch größeren Veränderungen als viele andere Länder. Wenn die Nachfrage nach Öl und Gas sinkt, muss seine stark von diesen Rohstoffen abhängige Wirtschaft praktisch neu erfunden werden. Die Anhänger Nawalnyjs sind einer der aktivsten Teile der russischen Bevölkerung, sie sind jünger und besser ausgebildet als der Durchschnitt."

In der SZ berichtet Cathrin Kahlweit von der großen Umorganisation der ungarischen Universitäten, die in Stiftungen umgewandelt werden, denen enorme öffentliche Vermögenswerte übertragen werden und die zusätzlich mit vier Milliarden Euro aus dem Europäischen Aufbaufond ausgestattet werden. Voraussetzung: Die Universität muss ihrer Umwandlung selbst zustimmen. Den Stiftungen jedoch stehen fast ausschließlich Orban-Treue vor, die das Stiftungsvermögen kontrollieren: "Einer der vielleicht besten Kenner der Materie, der emeritierte Linguistik-Professor István Kenesei von der Universität Szeged, verweist zudem darauf, dass die Reform von einer künftigen Regierung nicht auszuhebeln sei; das sei ein Jahrhundertwerk von Fidesz im eigenen Interesse: 'Keine neue Regierung ohne Zweidrittelmehrheit kann das Rad zurückdrehen.' Nur der oder die Kuratoriumsvorsitzende könne Regel- oder Gesetzesbrüche an die Gerichte melden, die Kuratorien hätten die völlige Kontrolle über Vergabe, Ausschreibungen, Investitionen, akademische Ausrichtung, Kooperation mit Unternehmen. Kenesei zitiert den Autor Péter Magyari vom Onlineportal 444.hu, der vom kompletten Verzicht jedes Mitspracherechts des Staats an einer öffentlichen Aufgabe schreibt - und einen parallelen Staat entstehen sieht."
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Geschichte

Die Historikerin Anna Hájková untersucht in ihrem Buch "The Last Ghetto" über Theresienstadt, wie sich im Lager mit seiner jüdischen, aber natürlich europäisch gemischten Bevölkerung "Gesellschaft konstituiert" habe (denn Gesellschaft, sagt sie, sei etwas ebenso Konstruiertes wie Geschlecht). Im Gespräch mit ihrer Kollegin Svenja Goltermann erklärt sie auf geschichtedergegenwart.ch, dass die entstehende Gesellschaft vor allem über "Binaritäten" funktioniert habe: "Sie unterschied nicht strikt, das ist ein dänischer Jude, das ist ein slowakischer Jude, das ist ein Wiener Jude, sondern sie dachte im Wesentlichen in den Kategorien 'Einheimische' und 'Ausländer'. Und das Interessante ist: Die 'Ausländer' schrieben an diesem Narrativ mit. Sie unterschieden ebenfalls zwischen 'den Protektoratsjuden' und 'wir sind die von außen'. Das sagt sehr viel über das ethnische Sehen und darüber, wie eine neu entstehende Gesellschaft sofort ethnische Unterschiede herstellt."
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Stichwörter: Theresienstadt, Binarität

Internet

Buzzfeed veröffentlicht einen Facebook-internen Bericht über die Rolle der Plattform für die Mobilisierung des Sturms auf das Washingtoner Capitol im Januar: "Unter dem Titel 'Stop the Steal and Patriot Party: The Growth and Mitigation of an Adversarial Harmful Movement' ist der Bericht eine der wichtigsten Analysen darüber, wie sich die aufrührerischen Bemühungen, eine freie und faire US-Präsidentschaftswahl zu stürzen, über das größte soziale Netzwerk der Welt ausbreiteten - und wie Facebook kritische Warnzeichen übersah."
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Medien

Überall soll die Presse subventioniert werden, auch in Slowenien, über dessen rechtspopulistische Medienpolitik Erich Rathfelder in der taz berichtet. Nach Gesprächen mit Kollegen schreibt er: "Der politische Druck der Regierung auf die Medien sei nur möglich und erfolgreich, weil die Medien ohnehin, wie überall in Europa, in finanziellen Schwierigkeiten und damit in einer Krise steckten... Kleinere Medien würden finanziell unterstützt und so gefügig gemacht, die größeren in ihrer Arbeit behindert oder von der Spitze her verändert. So setzte die Regierung im Januar 2021 einen Wechsel an der Spitze des öffentlich-rechtlichen Fernsehens RTV Slovenija durch. Der neue Intendant Andrej Grah Whatmough gilt als regierungsfreundlich."

In der FAZ wird seit einigen Wochen eine Reihe zur Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen veranstaltet. Heute fordert die Grünen-Politikerin Tabea Rößner eine Debatte über Sinn und Zweck der Sender: "Die Medienpolitik hat vermieden, den bisherigen Auftrag unter publizistischen Gesichtspunkten neu zu justieren. Stattdessen wurde alles durch die Brille der Beitragsstabilität betrachtet. Da aber die Finanzierung der Anstalten dem Auftrag zu folgen hat, muss die Debatte zunächst am Auftrag der Rundfunkanstalten ansetzen."

Außerdem: Apple möchte die Welt ganz allein beherrschen und über seinen App-Store 30 Prozent von allem abkriegen. Andere Geldflüsse möchte der Konzern lieber unterbinden, und darum will er bei seinen Iphones die Kennung des Geräts (IDFA) eigens von den Benutzern freischalten lassen. So könnte man sie nicht mehr mit Werbung verfolgen. Dagegen protestieren nun die Zeitungs und Medienverbände, die den Plattformen vorwerfen, Datenkraken zu sein, aber selbst ihre Nutzer nach Kräften tracken, berichtet etwa Meedia. Zu den Verbänden, die klagen, gehören unter anderem die Zeitungs- und Zeitschriftenverlegerverbände BDZW und VDZ.
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Ideen

Zu welch pfäffischer Prosa die neumodische Linke auch immer wieder fähig ist, zeigt Judith Butler in ihrer Time-Kolumne. Dort rät sie, "starre Formen von Individualität abzubauen, um die Welt bewohnbar zu machen". Die Coronakrise vereine uns in unsem universalen Bedürfnis zu atmen, sie trägt für Butler somit zu einer planetarischen Entgrenzung bei, und mit Achille Mbembe fordert sie "ein tiefes Einatmen für die Welt als Gegensatz zur Isolation". Denn "eine bewohnbare Welt für uns Menschen hängt von einer blühenden Erde ab, in deren Zentrum nicht der Mensch steht. Wir wehren uns gegen Umweltgifte nicht nur, damit wir Menschen leben und atmen können, ohne Angst zu haben, vergiftet zu werden, sondern auch, weil das Wasser und die Luft ein Leben haben müssen, das nicht auf unser eigenes zentriert ist."

Entgrenzung allerorten. Eine Welt, in der sich die Menschen mehrheitlich als Frauen und Männer verstehen, ist für taz-Autor Ingo Arend, der nochmal über Sarah Wagenknechts klassisch linke Einwände gegen die neumodische Linke nachdenkt, eine Welt, in der die Machtstrukturen noch nicht aufgebrochen sind: "Wenn Wagenknecht jetzt davon spricht, dass die Mehrzahl der Menschen sich 'immer noch als Mann und Frau' versteht, beruft sie sich auf eine verstaubte Spießermoral. Fast wundert es einen, dass sie nicht auch noch vor 'Sodomiten' gewarnt hat. Mit ihrer Wortwahl befestigt sie auch die Machtverhältnisse, auf denen diese Rollenverteilung in der Regel fußt."

In der SZ beklagt Eva Illouz, die die "Jerusalemer Erklärung" (unsere Resümees) mit unterzeichnet hat, dass Kritiker dieser Erklärung jeden Israelkritiker zum Antisemiten erklären und damit jede Kritik an Israel unmöglich machen würden: Vielen Israelkritikern "kann man vorwerfen, sich a priori auf die Seite der Schwachen, der Palästinenser, zu schlagen, sich zu weigern, die israelischen Opfer durch terroristische Anschläge in diesem Konflikt zu sehen, man kann ihnen vorwerfen, die realen Gefahren zu ignorieren, die die Existenz Israels täglich bedrohen. Auch wollen sie Israel moralische Normen vorschreiben, die ihnen bei anderen Ländern offenbar weit weniger wichtig sind. Aber wie fragwürdig und schlecht informiert solche Meinungen auch sein mögen - sie unterscheiden sich zutiefst vom Antisemitismus, der den Juden und Israel dämonischen Einfluss zuschreibt und sie vernichten will. Solche klassisch antisemitischen Positionen werden eher von Rechten wie Trumps Anhängern vertreten, die jedoch von rechtsgerichteten jüdischen Organisationen enthusiastisch unterstützt werden, sei es in den USA oder in Israel."

Auch Islamisten beschweren sich gerne darüber, dass sie ausgegrenzt und verfolgt werden und proklamieren, dass sie eigentlich die neuen Juden sind. Dabei erhalten sie viel Unterstützung von Wissenschaftlern wie Wolfgang Benz, kritisiert in der NZZ Lucien Scherrer, der u.a. den Fall des österreichischen Politologen Farid Hafez aufspießt: Dessen Wohnung war nach einer österreichischen Durchsuchungsaktion gegen mutmaßliche Unterstützer der Hamas und der Muslimbrüder ebenfalls durchsucht worden. Danach "veröffentlichte er auf der Website der amerikanischen Georgetown University einen Text mit dem Titel 'Xinjiang und Kristallnacht in Österreich'. Wie der Titel ankündigt, vergleicht der Wissenschafter die Polizeiaktion nicht nur mit der Verfolgung der Uiguren in China, sondern auch mit der Reichspogromnacht vom 9. November 1938, in deren Zuge die Nazis Hunderte Juden ermordeten und 30 000 in Konzentrationslager deportierten, wo weiter gemordet und gefoltert wurde. Während sich die Universität Salzburg von ihrem Mitarbeiter und dessen 'inakzeptablen Aussagen' distanzierte, formierte sich nach dem Skandal ein internationales Unterstützungskomitee, das 'Komitee Hafez' (mit dabei: Wolfgang Benz und zahlreiche Universitätsprofessoren)."

Außerdem: Für hpd.de liest Armin Pfahl-Traughber das neue Buch "Postdemokratie revisited" des Sozialwissenschaftlers Colin Crouch. In der NZZ denkt Marc Tribelhorn darüber nach, warum der Begriff der Resilienz plötzlich so wichtig geworden ist
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