9punkt - Die Debattenrundschau

Ikonoklastische Bewegungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2021. Seit dem Medienwandel hat Journalismus ein Problem mit seinem Geschäftsmodell: nur die Leser können es lösen, meint Johannes Franzen in 54books. Die Ethnologin Heike Behrend lotet in der Welt den überraschenden Einfluss des Evangelikalismus auf Debatten um koloniale Raubkunst aus. Für die NZZ liest Kacem El Ghazzali das Buch "Der alltägliche Islamismus" der Politikwissenschafterin Elham Manea, das vorm "politischen Islam" warnt. Der New Yorker erklärt, wann bei der Firma Huawei "Uiguren-Alarm" ausgelöst wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2021 finden Sie hier

Ideen

Frauke Steffens porträtiert für die FAZ den Journalisten Charles Blow, der die Schwarzen Amerikas in seinem Buch "The Devil You Know" aufruft, massenhaft in die Südstaaten zu ziehen, um dort die Mehrheit zu bilden und so endlich die Diskriminierungsverhältnisse zu ändern. "Die Lösung der strukturellen Probleme bestehe nicht darin, sich zu deren Bedingungen gut mit den Weißen zu arrangieren. Ebenso gut könnten ja auch Weiße die Minderheit in manchen Orten bilden." Tatsächlich, so Steffens, gibt es einen demografischen Trend Richtung Süden.

Die Wirklichkeit, die Realität existiert, das konnte man in der Pandemie lernen, wenn man wollte, meint der italienische Philosophieprofessor Maurizio Ferraris in der NZZ. Und ihre Gesetze gelten auch für Coronaleugner oder Quantenphysiker: "Erstere können jederzeit behaupten, das Virus sei nichts anderes als ein politischer Schachzug, sie müssen allerdings - genauso wie jene, die das Virus als natürliches Phänomen betrachten - Vorkehrungen treffen, um nicht daran zu erkranken. Die Quantenphysiker können ihrerseits getrost behaupten, die Wirklichkeit an sich existiere nicht, weil sie auf rätselhaften, unsteten Objekten fuße. Sie wissen allerdings, dass diese ungreifbaren Objekte sehr wirkungsvoll sind, indem sie es beispielsweise erlauben, die Hochleistungsrechner zu erzeugen, ohne die ihre Disziplin nicht wesentlich relevanter wäre als jene der 'Anti-Masken-Philosophen'."
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Internet

Zeitungen waren einst, was heute Ebay oder Google sind: Organisatoren des Marktes. Da sie als Filter allerdings viel enger waren, konnten sie für ihre Anzeige und Inserate Mondpreise nehmen und lebten von einer Rente. Auch damals schon, schreibt Johannes Franzen in 54books, waren die Leser das Produkt, das an die Anzeigenkunden weitergereicht wurde. Dies Modell ist durch die Digitalisierung gründlich in die Krise geraten. Nun ist es an den Lesern, den Wert geistiger Arbeit zu finanzieren, appelliert Franzen: "Ein klares Bewusstsein für den Wert geistiger Arbeit muss dazu führen, dass die Leser*innen die Notwendigkeit anerkennen, ihr individuelles Medienbudget aufzustocken. Der digitale Wandel hat ein Finanzierungsmodell geistiger Arbeit zusammenbrechen lassen und in dieser Leerstelle muss ein neues Modell aufgebaut werden, eines, in dem sich die Menschen als aktive Leser*innen verstehen, und weniger als Produkt. Die Entwicklung ist nicht nur mit finanziellen Opfern verbunden, sondern auch mit einem Zuwachs an Emanzipation."

Rasmus Peters denkt in der FAZ zugleich über Digitalisierung in der Kulturwelt nach, die durch Corona noch beschleunigt wird und für ihn unweigerlich zu Kommerzialisierung führt: "Weil die digitale Umgebung Kunst allgemein zugänglich macht, wird sie zur Regel und nicht zur Ausnahme. Gleichzeitig festigt jeder Konzertstream und jede virtuelle Museumstour den Einfluss wirtschaftlich organisierter Digitalkonzerne, weil die Veranstalter auf deren Plattformen angewiesen sind. Bühne und Museum sind nicht dem Verwertungsdruck entzogen. Um ausreichend Publikum zu erschließen, wird das Ausweichen und Ausweiten von Kunst auf digitale Medien alternativlos sein, weil sich die Gesellschaft zunehmend digital organisiert."
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Gesellschaft

Anna Prizkau, FAZ-Redakteurin, hat als Russlanddeutsche Ausgrenzungserfahrungen gemacht. Von Antirassisten wie Kübra Gümüşay oder Mohamed Amjahid, über die sie im Feuilletonaufmacher der FAS schreibt, ist sie allerdings nicht mit gemeint. Vor allem stört sie deren Sprache: "Da stehen dann auch Worte wie 'markiert' oder 'rassifiziert', die in ihrer ausgrenzenden Kälte nach einem alten Deutschland klingen. An diese dunkle Zeit muss man auch denken, wenn man das Buch 'Wir müssen über Rassismus sprechen' von Robin DiAngelo aufschlägt. Die Amerikanerin  ist  so  etwas  wie  ein  Idol für viele der Antirassismus-Kämpfer Deutschlands. In ihrem Buch, der deutschen Übersetzung, aber stehen Worte wie 'multirassisch' oder 'Rassenfragen' - und das in unserem Land mit seiner Geschichte zu lesen fühlt sich nicht richtig an, nicht gut."

Die französische Regierung will durch neue Gesetze den Laizismus stärken. Der Politologe Alain Policar hält davon im Gespräch mit Rudolf Balmer von der taz sehr wenig: "Die Staatsführung geht davon aus, dass die weltlichen Regeln von einem unklar identifizierten Feind bedroht sind. Bezeichnend dafür ist die gegenwärtige Polemik über den 'Islamo-gauchisme' (auf Deutsch etwa 'Islam-Linke', Anm. der Redaktion). Wer ist da gemeint? Islamistische Terroristen und Komplizen solcher Staatsfeinde, muslimische Linke, mit Muslimen solidarische Linke? Ich sehe dahinter eine unerfreuliche Strategie, in der Manier eines Donald Trump einen inneren Feind zu bestimmen und politische Gegner als dessen Alliierte zu diskreditieren."

Wer zwanzig Jahre nach dem 11. September immer noch glaubt, der islamische Extremismus lasse sich mit noch mehr Religion bewältigen statt mit Laizismus, dem empfiehlt Kacem El Ghazzali in der NZZ das Buch "Der alltägliche Islamismus" der jemenitisch-schweizerischen Politikwissenschafterin Elham Manea. Der "politische Islam war nicht nur eine Reaktion auf die Ideologien der westlichen Moderne (Sozialismus, Liberalismus), sondern auch auf die authentischen alternativen Traditionen der verschiedenen muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die eine Art Autonomie zu bewahren versuchten. Elham Manea weist in ihrem Buch darauf hin, dass dieser 'islamische Aktivismus' in Wirklichkeit die Ursache des Problems ist - und nicht die Lösung, wie man im Westen gerne glaubt. Denn hier werden Vertreter des politischen Islam oft als 'gemäßigt' wahrgenommen, als dialogbereite Partner, die dem Jihadismus und dem Radikalismus entgegenwirken."

Die Organisierte Kriminalität organisiert sich sehr wohl in Clans, der Begriff ist nicht rassistisch, schreibt Fabio Ghelli in der taz: Aber "Kriminelle Clans sind kein arabisches, türkisches oder italienisches Phänomen. Sie sind ein globales und gleichzeitig endemisches Phänomen - also auch ein deutsches. Sie sind kein toxischer Fremdkörper in einem gesunden System. Sie sind Teil des Systems."

Wokeness in der westlichen Welt zu praktizieren ist ein Kinderspiel. Wie sieht es aber im Rest der Welt aus, fragt der Historiker Julien Reitzenstein in der Welt. "Muss man den Bevölkerungen der muslimischen Staaten Südostasiens, der arabischen Welt oder auch in Afrika vorwerfen, dass sie in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit nicht woke sind? Muss man sie sanktionieren? Und wie ist es mit den Machismo-Gesellschaften Mittel- und Südamerikas? Soll man verlangen, dass sich diese Kulturen jenen Blaupausen anpassen, die woke-weiße privilegierte Menschen von einer gerechten Welt zeichnen? ... Es ist deshalb an der Zeit, eine ehrliche Debatte zu führen: Erwarten die Verfechter der woke culture, dass auch die Menschen in Mali, Afghanistan und dem brasilianischen Regenwald ihren Konzepten und Werten folgen? Dieser moralische Anspruch wäre jenem der Kolonisatoren nicht unähnlich. Oder sind diese Menschen zu rückständig für solch fortschrittliche Konzepte? Dann könnte man an die paternalistische Arroganz der Kolonisatoren denken und fragen, ob die woke culture-Idee hier nicht über ihre eigenen Füße stolpert."

In der SZ geht Julia Werner die neudeutsche Definition von der "Übergriffigkeit" auf die Nerven, die jede ungeplante Nähe ins Reich der Aggression verbannt: "Das Verweisen auf den Übergriff ist in Wahrheit eine sehr bequeme Art, sich aus allen menschlichen Verantwortungen zu stehlen: Die Freundin hat ja gesagt, man müsse ihr nicht in der Notaufnahme beistehen, also geht man auch nicht hin. Der Freund hat ja ausdrücklich erklärt, er würde die Wohnungsauflösung des verstorbenen Vaters schonganz alleine schaffen. Wenn die Freunde dann trotzdem vor der Tür stehen oder am Krankenbett sitzen - dann sind das Momente nicht des unverhofften Glücks, sondern eines absoluten Kontrollverlustes, also der größten Sorge der neuen Übergriffsfanatiker, die wirklich immer noch glauben, im Leben ließe sich alles planen und kontrollieren."

Einen Fall von Übergriffigkeit macht der Historiker Julien Reitzenstein in der NZZ auf der Homepage des "Projekts Ihnestr. 22" aus, das sich mit den Opfern des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) an die Ihnestrasse 22 in Berlin-Dahlem beschäftigt. Dort "ist zu lesen: 'In der Ihnestr. 22 forschten Wissenschaftler_innen schließlich auch an den Körpern von Personen, die in nationalsozialistischen Vernichtungslagern und Heilanstalten ermordet wurden. Insbesondere Sinti_zze und Rom_nja, J_üdinnen, schwarze Personen und Menschen mit Behinderung fielen den Arbeiten des KWI-A zum Opfer.' Solches darf man da mehrfach lesen. Und ja, dort steht tatsächlich: J_üdinnen. In dieser Ausprägung findet man geschlechtergerechte Sprache selbst an der progressiven FU nicht allzu oft. Menschen aus unserer Mitte geschah unermessliches Unrecht. Man nahm ihren Besitz, ihre Familien, ihre Würde, ihr Leben, schändete ihre Leichen - und versucht nun den Ermordeten mit geschlechtergerechter Sprache wozu genau zu verhelfen? Gerechtigkeit? Das wirkt geschmacklos, das ist übergriffig und vor allem - wem ist damit geholfen?"
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Kulturpolitik

Die Rückgabe afrikanischer Artefakte ist komplizierter, als viele hier wahrhaben wollen. "Es kommt wirklich sehr darauf an, wen man fragt", erklärt die Ethnologin Heike Behrend im Interview mit der Welt. "Bénédicte Savoy hat, soweit ich das beurteilen kann, vor allem mit Frauen und Männern in Afrika gesprochen, die wohl eher der nach westlichem Vorbild geprägten Elite angehören. Ich dagegen arbeite meistens mit Leuten zusammen, die dieser sozialen Schicht nicht angehören. In vielen Regionen Afrikas hat, darüber schreibe ich auch in meinem Buch, ein radikales christliches Revival stattgefunden, zum Teil von Kirchen aus den USA beeinflusst und finanziert. Vor diesem Hintergrund wurde auch das Verhältnis zur eigenen Tradition neu definiert und radikalisiert. Tatsächlich lehnen viele dieser Christen die eigenen Traditionen als 'satanisch' ab. Das gilt auch für die Objekte, die sie mit diesen Traditionen verbinden. Viele Objekte, die in Afrika und bei uns in den ethnologischen Museen zu finden sind, würden sich nicht unbedingt einer Wertschätzung erfreuen, im Gegenteil, sie würden als Objekte des Teufels abgelehnt. Es hat zum Beispiel in Uganda zahlreiche ikonoklastische christliche Bewegungen gegeben, die die Objekte, die sie mit der eigenen Tradition in Verbindung brachten, öffentlich verbrannt haben."
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Politik

Raffi Khatchadourian erzählt in einer epischen New-Yorker-Reportage die Geschichte der Uigurin Anar Sabit, die wegen ihrer kasachischen Herkunft in die Fänge von Xi Jinpings Repressionssystem geriet. Nebenbei erfährt man in der Reportage einiges über die Überwachungssysteme in Xinjiang: "Forscher der Organisation IPVM, die sich mit Videoüberwachung befasst, entdeckten Beweise dafür, dass das chinesische Ministerium für öffentliche Sicherheit 2017 eine Vorgabe machte: Gesichtserkennungssoftware, die mit Überwachungskameras verwendet wird, musste darauf trainiert werden, uigurische Gesichtszüge zu erkennen. Mehrere führende chinesische Hersteller begannen schnell, die Technologie zu entwickeln - ein 'Uiguren-Alarm', wie ein System in einem Huawei-Bericht genannt wurde. Obwohl ethnisch definierte Überwachungssysteme von zweifelhafter Genauigkeit sind, wurden sie in mindestens einem Dutzend Gerichtsbezirken außerhalb Xinjiangs eingesetzt."
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Europa

Felix Ackermann erzählt in der FAZ, wie sich Alexander Lukaschenko gegen die Freiheitsbewegung in Belarus wehrt, indem er gegen die polnische Minderheit im Land mobilisiert und antisemitische Klischees bedient: "Der Ton, in dem der in Düsseldorf lehrende deutsch-belarussische Historiker Alexander Friedmann kürzlich in der von der Präsidialverwaltung herausgegebenen Zeitung Sowetskaja Belarus angegriffen wurde, erinnerte an die antijüdischen sowjetischen Kampagnen der späten vierziger Jahre, als kurz nach dem Holocaust Juden als Kosmopoliten verfolgt wurden."
Archiv: Europa