9punkt - Die Debattenrundschau

Bereitschaft für eine alternative Wahrheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2021. In der taz erklärt Anne Applebaum, warum sie über Populismus schreibt: "Ich versuche zu zeigen, wie lächerlich und falsch die Idee ist, dass autoritärer Populismus das sogenannte wahre Volk repräsentiert." Wie multidirektional ist die "multidirektionale Erinnerung" bei Michael Rothberg wirklich, fragen die Ruhrbarone. Alexei Nawalny ist in den Hungerstreik getreten um gegen die Bedingungen seiner Haft zu protestieren, berichtet die taz. Der Guardian ist empört über den "Race Report" der britischen Regierung, der den Nachfahren ehemaliger Sklaven zu ihrer britischen Identität gratuliert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2021 finden Sie hier

Ideen

Populismus arbeitet immer mit der Enttäuschung der Menschen, mit Verlusten, die sie spüren oder befürchten, sagt Anne Applebaum in einem langen Interview mit Peter Unfried in der taz. Aber in ihrem Buch "Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist" wolle sie sich eher die Eliten ansehen, die den Populismus in die Tat umsetzen: "Ich versuche zu zeigen, wie lächerlich und falsch die Idee ist, dass autoritärer Populismus das sogenannte wahre Volk repräsentiert gegen die sogenannten Eliten. Alle Leute, die für diese Bewegungen arbeiten, sind hochgebildet, bestens vernetzt und kommen oft von Elite-Universitäten. Wer hat die Kampagnen für Trump gemacht und die Propaganda erfunden? In den meisten Fällen hochgebildete Leute von der Ostküste. Wenn Sie sich die Propagandisten der PiS-Partei in Polen anschauen, ist es genau das gleiche. Das sind keine übersehenen armen Provinzmenschen, die beim Übergang aus dem Kommunismus vergessen wurden, das sind hochgebildete und alles andere als arme Leute. Es ist eine absurde Vorstellung, dass diese Leute die Vergessenen repräsentieren."

Ebenfalls in der taz ist jetzt aus dem Themenheft "Futurzwei" ein langes Gespräch mit Peter Sloterdijk freigeschaltet, in dem er seine Zeit als Sannyasin im Bhagwan Shree Rajneesh um 1980 als Übertritt von der einen in die andere Sekte beschreibt: "Damals gab es eine Phase, als bei uns die marxistisch codierten Rechthabe-Gefühle gegenüber dem Lauf der Welt am Verblassen waren, aber die Bereitschaft für eine alternative Wahrheit immer noch aktuell blieb, ob sie aus Indien kam oder von einem anderen Ende der Welt."

Thomas Wessel liest für die Ruhrbarone Michael Rothbergs Buch "Multidirektionale Erinnerung". Darin findet er viel Kritikwürdiges, aber auch starke Passagen, gerade über W.E.B Dubois, dessen Innehalten vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos gewissermaßen der Inbegriff von Rothbergs Idee sei: Das Erkennen des eigenen Leids im Leid des anderen. Aber Rothberg blendet auch Entscheidendes aus, so Wessel: "Neun Jahre nach seinem Besuch des Warschauer Ghettos  -  das sind fünf Jahre nach Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Untaten, fünf Jahre auch nach dem ungarischen Freiheitskampf, den wiederum Chruschtschow zusammenschießen ließ  -  trat Du Bois der kommunistischen Partei bei. Warum erwähnt Rothberg das alles nicht? Ist auch er, was er Du Bois attestiert, nicht 'gänzlich frei von Taktik und politischem Kalkül'? Will er die postkolonialen Linken, deren Diskurse auf Identität geeicht sind, nicht schon beim Einstandsbesuch überfordern?"

"Identitätspolitik ist nicht, wie es ein Gerücht will, ein anderer Name für den Kampf gegen die Unterdrückung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen. Vertreterinnen und Vertretern von Identitätspolitik geht es, im Gegenteil, um den - narzisstischen - Gewinn, den die Unterdrückung 'ihres' jeweiligen Kollektivs abwirft", schreibt der Psychoanalytiker Sama Maani im Standard. Er argumentiert mit dem afroamerikanischen Autor Adolph L. Reed: "Reed schreibt seit Jahrzehnten gegen den 'race reductionism' und jene Identitätspolitik an, die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner unter Ausblendung der Klassenfrage als homogene Masse darstellt. Und deren Nutznießer, wie er schon 1979 für den Zeitraum zwischen den späten 1960ern und dem Ende der 1970er-Jahre nachweisen konnte, schwarze Eliten waren - und heute noch sind."

Außerdem: Im anderthalbseitigen Aufmacher des FAZ-Feuilletons erzählt der Historiker Frank Rexroth aus nicht ganz nachvollziehbarem Anlass die Entstehung des Individuums im Mittelalter am Beispiel des Mönchs Abaelard: "Die Erfahrung der menschlichen Zerrissenheit und die Theorie vom Individuum traten in der europäischen Geschichte in allernächster Nachbarschaft voneinander auf, Hand in Hand sozusagen, oder besser: wie siamesische Zwillinge. Zufall ist ausgeschlossen." In der NZZ erinnert Hans Ulrich Gumbrecht an Reinhart Koselleck, dessen Begriff "Hypokrisie der Aufklärung" viel zur heutigen Debatte beitragen könne, wenn er auch nicht sagt, was genau. Und Hannes Stein erklärt bei den Salonkolumnisten, was "Cancel Culture" alles nicht ist.
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Urheberrecht

Seit kurzem arbeitet die "Clearingstelle Urheberrecht im Internet" (CUII), als Teil der weitreichenden EU-Urheberrechtsreform. Diese Kommission kann Server und Webseiten abschalten, wenn sich Rechteverwerter wegen Urheberrechtsbrüchen beschweren. Es handelt sich um ein willkürliches System, weil es jenseits von Gerichten operiert, schreibt Adrian Beck bei hpd.de. "Wir summieren: Jede Organisation, die Mitglied im CUII ist, kann einen Sperrantrag für jeden beliebigen Inhalt stellen. Die Bundesnetzagentur findet DNS-Sperren ganz geil, wird also aller Wahrscheinlichkeit nach jeden dieser Anträge erstmal durchwinken. Für Nutzer:innen existiert weder ein Rechtsweg noch die Möglichkeit, ihren Dissent 'über den Geldbeutel' auszudrücken. Für diesen Zustand gibt es einen Begriff: Selbstjustiz."
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Wissenschaft

Der Philosoph Dieter Schönecker begründet in der Welt, warum er dem "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" (unsere Resümees) beitrat, auch wegen der Polarisierung in den sozialen Medien, die er zwar nach eigenem Bekenntnis nicht nutzt, aber doch einzuschätzen weiß: "Als Anfang Februar 2021 das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gegründet wurde, brach, wie zu erwarten, ein Twitter-Sturm los, und wie ebenfalls nicht anders zu erwarten wurde das Netzwerk sofort als rechts diffamiert. So zwitscherte der Göttinger Historiker Tobias Weidner in Anspielung auf seinen Kollegen Andreas Rödder, der ebenfalls Mitglied im Netzwerk ist, das Netzwerk müsse sich umbenennen in 'Rödders Rechtsaußen-Resterampe'. Ist das differenziert?"
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Europa

Alexej Nawalny ist inzwischen wegen unerträglicher Schmerzen und der Folter durch Schlafentzug in den Hungerstreik getreten, berichtet Inna Hartwich in der taz. Das Gefängnissystem, der Kern des russischen Machtsystems, reagiert mit kalter Indifferenz und Drohungen: "Nawalny hat innerhalb von zwei Wochen in Pokrow bereits sechs Verweise kassiert. Einmal sei er zehn Minuten vor dem Aufstehbefehl aufgestanden, einmal habe er beim Treffen mit seinen Anwälten ein T-Shirt getragen, einmal habe er die Teilnahme an einem Videovortrag verweigert. Bereits ab zwei Verweisen könnte ein Häftling in einen Strafisolator kommen. Eine Schreckenskammer mit noch unmenschlicheren Bedingungen."

Unterdessen versucht Putin seine nachlassende Popularität mit militärischen Drohungen gegen die Ukraine zu kompensieren. "Biden sichert Ukraine 'unerschütterliche Unterstützung' zu", meldet heute unter anderem Spiegel online. Deutschland und Frankreich, als die am "Normandie-Format" beteiligten Nationen, halten sich dagegen wie immer zurück und behandeln Putin als Partner, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog: "Statt etwa die Frage des Weiterbaus der Gaspipeline Nord Stream 2 zumindest als Druckmittel einzusetzen, hält die Bundesregierung in unerschütterlicher Nibelungentreue bedingungslos an deren Fertigstellung fest. Nicht einmal der versuchte Giftmord an Alexej Nawalny und seine willkürliche Einkerkerung in einem Straflager nach seiner Rückkehr nach Russland hat die EU zu einer grundlegenden Änderung ihrer Haltung gegenüber dem Kreml veranlassen können."

Konservatismus ist die Abwesenheit einer Idee und die Anwesenheit einer Praxis der Macht, meint der Politologe Thomas Biebricher in der taz mit Blick auf die CDU, die gerade ihren Nimbus als Partei der Krisenbewältigung verliert und im Wahljahr 2021 in die tiefste Sinnkrise stürze: "das beharrliche Management immer neuer Krisen, deren Folgeprobleme in Nachtsitzungen in Brüssel, Minsk oder Berlin klein geraspelt wurden... verkörperte ideal die Kanzlerin, die 'die Dinge vom Ende her denkt' und die Not des 'Auf-Sicht-Fahrens' in unübersichtlichen Situationen zur Tugend eines rein prozedural bestimmten Konservatismus erhob. Die Grundlage der christdemokratischen Hegemonie bestand dabei nicht nur in der Selbstinszenierung als seriöse 'Kraft der Mitte', die den Laden zusammenhält, sondern auch in der Apostrophierung des ultrapragmatischen Dauerkrisenmanagements als einzig denkbare Art der Politik: einer Politik, die sich jeglichen inhaltlichen Gestaltungsanspruch über den Moment hinaus ausgetrieben hat."

Die britische Regierung hat einen "Race Report" (hierals pdf-Dokument) vorgelegt, indem sie tut, was konservative britische Regierungen am besten können: sich selbst beweihräuchern. Der Guardian ist über die Befunde natürlich empört. Peter Walker and Nazia Parveen resümieren den Bericht so: "Die Kommission sagt, dass es zwar immer noch Rassismus und rassistische Ungerechtigkeit gibt, aber 'wir sehen nicht länger ein Großbritannien, in dem das System willentlich gegen ethnische Minderheiten manipuliert wird'. Mehr als 200 Seiten später heißt es in der Schlussfolgerung, dass 'ein gewisses Maß an Optimismus gerechtfertigt ist' und dass 'zu viele Menschen in der progressiven und antirassistischen Bewegung zögern, die Errungenschaften ihrer eigenen Kämpfe in der Vergangenheit anzuerkennen'."

Der Guardian-Kolumnist David Olusoga stört sich unter anderem daran, dass der Bericht den Begriff des "strukturellen Rassismus", der die Gesellschaft präge, ablehnt. Noch mehr empört ihn allerdings eine Passage, in der gesagt wird, dass die Zeit der Sklaverei nicht nur eine Zeit  der Profitgier und des Leidens war, sondern dazu beigetragen haben, eine afrikanisch-karibisch-britische Identität zu schaffen. Hier setzten die Autoren (die übrigens großenteils schwarz oder asiatischer Herkunft sind) "vielleicht unwissentlich ein Argument ein, das vor 200 Jahren von den Sklavenhaltern selbst zur Verteidigung der Sklaverei verwendet wurde: die Idee, dass schwarze Menschen, indem sie kulturell britisch wurden, irgendwie Nutznießer des Systems waren".
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