9punkt - Die Debattenrundschau

Ein sehr großes Tier mit Rüssel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2021. Es gibt gar keine "Cancel Culture", behaupten ihre Verfechter gern. Es gibt sie doch, fürchtet Vojin Saša Vukadinović in der FAZ und nennt Beispiele. Die identitäre Linke liegt jetzt überhaupt überall unter dem Mikroskop und schneidet dabei nicht so gut ab.  Der Politologe Armin Pfahl-Traughber nimmt die neumodischen Diskurse in der Zeit und bei hpd.de auseinander, Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Von Norbert Bolz in der Welt und und Bari Weiss in der SZ ganz zu schweigen. Die Zeit hat außerdem herausgefunden, dass es in Deutschland in der ersten Welle wesentlich mehr Corona-Erkrankungen gab, als statistisch erfasst.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2021 finden Sie hier

Ideen

Es gibt gar keine "Cancel Culture", behaupten ihre Verfechter gern. Es gibt sie sehr wohl, antwortet Vojin Saša Vukadinović in der FAZ, und sie richtet sich mit Vorliebe gegen Frauen, wenn diese sich einem genderkritischen Feminismus zurechnen. Er nennt das Beispiel der Philosophin Kathleen Stock, die zusammen mit Kolleginnen von Transaktivisten beschimpft und bedroht wird, weil sie nicht glaubt, dass es eine 'angeborene Geschlechtsidentität' gebe, der das biologische Geschlecht ohne medizinischen Befund anzupassen sei. Die Bewegung greift auf Deutschland über: "Stock hätte dieses Frühjahr am Berliner Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) auf einer Tagung zu Redefreiheit referieren sollen. Nachdem eine andere Referentin dem Organisationsteam mitgeteilt hatte, sie würde sich in Stocks Nähe (es handelte sich bezeichnenderweise um eine Online-Zusammenkunft) 'unwohl' fühlen, wurde die Philosophin kurzerhand ausgeladen und ihr Name vom Programm gestrichen. Das ZAS erklärte, der Vortrag sei 'mit den Werten' der Institution 'nicht vereinbar' gewesen, obwohl der Eingang des Abstracts mit dem Adjektiv 'wonderful' kommentiert worden war."

Der Politologe Armin Pfahl-Traughber analysiert in der Zeit in etwas trockener Prosa den Diskurs der identitären Linken. Neben dem Kultur- macht er den Menschenrechtsrelativismus als ein Kennzeichen aus: "Identitätslinke lehnen Menschenrechte keineswegs ab; in Bezug auf Minderheitenkulturen bekennen sie sich sogar ausdrücklich zu ihnen. Dennoch werden dortige Menschenrechtsverletzungen häufig ignoriert. Antisemitismus, Frauendiskriminierung oder Homosexuellenhass unter Muslimen sind oft Tabuthemen. Zudem kursiert unter Identitätslinken die Auffassung, jede Berufung auf Menschenrechte erfolge von einem 'überlegenen Standpunkt' aus. So wäre auch hier die Homogenität einer Gruppe wichtiger als die Einhaltung von Menschenrechten."

Armin Pfahl-Traughber durchleuchtet außerdem bei hpd.de den Begriff des "islamo-gauchisme", den er mit "Islam-Linke" übersetzt. Er hält den Begriff wie viele Begriffe in diesen Debatten zwar für diffus, aber auch substanziell. Auch in Deutschland lasse sich "durchaus ein Einklang von bestimmten Islamisten und bestimmten Linken feststellen. Dies hat für die Diskussionskultur erschreckende Konsequenzen." Besonders beobachtet er, "dass Bestandteile eines linken Selbstverständnisses immer mehr erodieren: Aufklärung und Frauenrechte, Individualismus und Menschenrechte, Religionskritik und Säkularität."

Auch Stefan Laurin setzt sich in einem längeren Essay bei den Ruhrbaronen mit der modischen akademischen Linken und ihren identitären Ideen auseinander, die die Ideenwelt der Postmoderne zu einem sehr amerikanischen Convenience Food vereinfacht. Besonders fällt ihm die Sprach- und Benennungsobsession auf: "In der postmodernen Welt ist Sprache nicht vor allem Mittel, um sich mit anderen auszutauschen. Sie ist vielmehr eine Möglichkeit der Abgrenzung mit fast magischen Fähigkeiten. In der Nachfolge des sprachlichen Idealismus und der Sprechakttheorie geht man davon aus, dass Sprache die Wirklichkeit schafft. Das tut sie ohne Zweifel in einem bestimmten Maße, aber sie kann nicht dauerhaft die Wirklichkeit brechen. Eine Elefant ist keine Maus, auch wenn man ihn so nennt. Tut man es ständig, ändert höchstens das Wort 'Maus' seine Bedeutung, aber der Elefant bleibt ein sehr großes Tier mit Rüssel und wird nicht zum kleinen Nager."

Von der intellektuellen marxistischen Linken ist nur ein Haufen erfolgloser, "frustrierter Selbsthasser" in der Folge Rousseaus geblieben, klagt der Medientheoretiker Norbert Bolz in der Welt: "Der Gesellschaft wird der Prozess gemacht, indem sich nicht nur der absolute Verlierer, sondern eben auch der Bürger mit schlechtem Gewissen zum Gewissen der Gesellschaft aufwirft. Dabei klagt man nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen der Empfindsamen und Beleidigten, der Minderheiten und Migranten an. Hier funktionieren Mitleid und Engagement für Gleichheit als Masken für tyrannische Impulse. So resultiert ein Absolutismus der Tugend, den man heute politische Korrektheit nennt und der die bürgerliche Welt in Schockstarre versetzt."

Cancel Culture hat in Deutschland Tradition (und sich als "deutscher Exportschlager" erwiesen!), schreibt Tilman Krause indes mit Blick in die Geschichte in der Welt: "Die erste große Manifestation des neuen Moralismus in Deutschland ist das Wartburgfest, das Studenten (damals noch ohne weibliche Kommilitonen) 1817 veranstalteten. Dabei präsentierten sich deutsche 'Burschenschafter' nicht nur als Befürworter der deutschen Einheit und als Kritiker der europäischen Fürstenherrschaft. Sie verbrannten auch erstmals in großem Stil Schriften von Leuten, die ihnen unliebsam waren, weil sie ihren politischen Zielen im Wege standen."
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Europa

Woran liegt die überproportionale Hinwendung von Arbeitern zur AfD, fragt Malte Lehming im Tagesspiegel: "Der Soziologe Klaus Dörre von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena sagt: 'Die AfD macht die Unsichtbaren sichtbar.' Sie gibt den Arbeitern das Gefühl, in der Öffentlichkeit eine Stimme zu haben, 'der Maßstab für Normalität zu sein'. Die Nicht-Repräsentanz ihrer Lebensentwürfe in der medial vermittelten Öffentlichkeit empfinden sie als degradierend. 'Diese sozial-kulturelle Abwertung treibt viele in eine Protesthaltung, sie landen schlimmstenfalls bei der AfD.' Wenn die postmateriellen, global vernetzten und kulturell liberalen Großstädter nicht bald eine Form finden, in der sie Menschen mit eher traditionellem Wertekanon erreichen, könnten sich die Rechtspopulisten dauerhaft im Parteienspektrum etablieren."

Außerdem: Bitterböse rechnet die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy in der SZ mit ihrem Land ab: "Gleichzeitig britisch und geistig gesund zu sein, war nie leicht, langsam wird es unmöglich. Während immer deutlicher wird, dass uns die Umsetzung des Brexit zerstören wird, privatisieren wir unsere Krankenversicherung und stecken öffentliches Geld in die Presse. Unsere Regierung bezahlt für Advertorials, die uns erzählen, wie gut es der Wirtschaft geht, obwohl das BIP fast zehn Prozent im Minus ist."
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Medien

Nicht nur bei der New York Times wird der "Liberalismus der alten Schule durch eine neue Ideologie ersetzt, bei der es eine Fixierung auf (…) Identitätspolitik gibt", sagt Bari Weiss, einst New York Times (Unsere Resümees), heute Welt, im SZ-Interview und erläutert: "Seit die Anzeigen wegbrechen, sind es nicht mehr die Werbekunden, die ein Medium gewinnen muss. Der wirtschaftliche Erfolg beruht auf digitalen Abonnenten, die oft sehr engagiert sind. Das führt dazu, dass ein Medium seinen Lesern das gibt, was sie bei der Stange hält. Und das ist meistens Aufregung, man sehe sich nur an, was Sender wie MSNBC oder Fox News jeden Abend veranstalten. Viele Leute denken, dass eine Institution wie die New York Times immun gegen diese Entwicklung ist. Aber das ist sie nicht. Und wenn man davon ausgeht, dass 95 Prozent der Abonnenten linksliberal eingestellt sind, dann ist es kein Wunder, dass ein Artikel, der Trump verteufelt, besser ankommt als einer über die Dissidenten in Hongkong."

Außerdem: Während der Präsidentschaft Trumps steigerte die NY Times die Zahl der verkauften Abonnements von 2,3 auf 7,5 Millionen, sekundiert Alan Cassidy, der die Ereignisse in der Redaktion in den letzten Jahren für die SZ resümiert: "Das Wachstum bei den Abonnenten ging einher mit einem Ausbau der Redaktion, die inzwischen 1700 Mitarbeiter umfasst." In der FAZ sammelt Nina Rehfeld Informationen über die ominöse Epoch Times, eine Zeitung,die aus der Falun-Gong-Bewegung entstanden ist, bis heute mit ihr in Verbindung steht und durch trumpistische Propaganda auffällt.
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Politik

Wenn in den USA eine der beiden Parteien in einem Zweiparteiensystem die politischen Institutionen untergräbt, was für eine Demokratie ist das noch?, fragt Daniel Haufler in der FR: "Die Republikaner schlagen einen Weg ein, den üblicherweise Autokraten nutzen - unterstützt durch Trollarmeen aus Russland oder China, die durch Desinformation das Ansehen der demokratischen Institutionen in Zweifel ziehen. Eine Tendenz zu Illiberalität ist bei den Republikanern nicht neu. Aktuell versuchen sie wieder einmal, das Wahlrecht, insbesondere von Minderheiten, einzuschränken, wo sie nur können. Sie wollen die von Wählern der Demokraten bevorzugte Briefwahl abschaffen - neben Georgia, auch in Pennsylvania oder Iowa. In Arizona haben sie ein Gesetz eingebracht, das die automatische Zusendung der Wahlunterlagen verbieten soll. Sie schließen in mehreren Staaten Wahllokale in Gegenden, in denen vor allem Arme und Schwarze oder Latinos leben; sie verlangen bestimmte Ausweise, die Angehörige von Minderheiten oft nicht besitzen, und ziehen etliche Wahlkreisgrenzen so, dass sie ihre Kandidatinnen und Kandidaten begünstigen."
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Wissenschaft

Der ökologische Zustand der Erde ist "erbärmlich", schreibt der Umweltforscher Josef Settele in einem recht ausgewogenen Text in der Welt, in dem er den Zusammenhang zwischen Klimawandel, Artensterben und Pandemien erläutert: "Diese drei Komponenten, die ich die 'Triple-Krise' nenne, bedingen und befeuern sich wechselseitig. Durch Rodung mit Kettensägen oder durch Brände verschwindet Lebensraum für Wildtiere, damit dort Palmöl angebaut werden kann oder Wohnungen errichtet werden können. Die Pufferzonen zwischen Wildnis und Zivilisation schwinden, Mensch und Wildtier kommen sich ungewollt immer näher, von den hässlichen Wildtiermärkten in Asien und Afrika ganz zu schweigen. (…) Das Coronavirus und Covid-19 sind eine Lappalie gegen das, was noch im Dschungel auf uns lauert. Alarmismus? Mitnichten. Die Erderwärmung sorgt dafür, dass eingeschleppte Mücken-, Hornissen- und Zeckenarten, die für Menschen äußerst gefährliche Krankheitserreger in sich tragen, in Europa Fuß fassen, weil sie die Winter locker überleben."
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Geschichte

Heute vor 150 Jahren begannen die Tage der Pariser Commune. Rudolf Walther schildert in der taz eine Art sympathisches Chaos, das aber bald mit schlimmen Folgen gekapert wurde: "Im 'Manifest der Fédération des Artistes', an dem auch der Maler Gustave Courbet (1819-1877) mitwirkte, hieß es im April 1871: 'Das Komitee wird zur Herstellung eines gemeinschaftlichen Luxus zum Glanz der Zukunft der Weltrepublik […] beitragen.' Diese utopischen Projekte verdienen es, so wenig vergessen zu sein wie Lenins Kommuneinterpretation in 'Staat und Revolution' (1917/18) unterschätzt werden sollte - mit all ihren verheerenden Folgen. Lenin bastelte im revolutionären Handgemenge aus den Erfahrungen der Kommune und Marx' Kommentar eine Art Fahrplan für jeden kommenden Aufstand. So begründete er die angebliche Notwendigkeit einer 'Diktatur des Proletariats' - und einer Partei, die in dessen Namen auftritt und zur alleinigen Machtausübung entschlossen ist."

Außerdem: Bis heute prägen "Emotionen und ein Hang zum Sakralen" die deutsche Erinnerungskultur und erschweren somit die Analyse und führen zu Abwehr, schreiben der Historiker Jörg Hackeschmidt und die Politikwissenschaftlerin Caroline König in der NZZ. Sie fordern, Deutschland müsse ein positives "Selbstverständnis als Nation" ausbilden.
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Gesellschaft

Der Mythos von der vorbildlichen deutschen Corona-Bewältigung zumindest in der ersten Welle bröckelt zusehends. In der Zeit berichtet Annika Joeres nach ausführlichen Recherchen, dass in Deutschland in der ersten Welle wesentlich mehr Menschen an Corona erkrankt sind als in den offiziellen Statistiken angegeben wurde, ganz einfach, weil nicht bestätigte Verdachtsfälle nicht nachgeprüft wurden: "Das RKI räumt auf Anfrage ein, dass bei den 'veröffentlichten Meldedaten immer von einer gewissen Untererfassung auszugehen ist'. Theoretisch wäre das RKI in der Lage, bundesweit die Verdachtsfälle über die Gesundheitsämter zu ermitteln und zu veröffentlichen. 'Aufgrund begrenzter Ressourcen der Gesundheitsämter werden (...) bestätigte Covid-19-Fälle priorisiert', schreibt das RKI. Weiter kommentieren möchte das Institut die Zahlen nicht, auch das Gesundheitsministerium und Jens Spahn wollen sich nicht zu der offenbar steileren ersten Welle äußern." In vielen anderen Ländern, etwa Großbritannien oder Frankreich, wurden die Verdachtsfälle dagegen mitgezählt.
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