9punkt - Die Debattenrundschau

Selbst mit Posaunen und Trompeten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2021. Wie wär's wenn die Deutschen mal mit dem Schreiben von Dissertationen, diesem "Stumpfsinn für Fortgeschrittene", aufhören würden, fragt die SZ. In der FAZ sucht Ralf Fücks nach den Gründen für die Russland-Liebe der Deutschen. In der taz verteidigt die SPD-Abgeordnete Maja Lasić das Berliner Neutralitätsgesetz. Der Spiegel liest neue Bücher zu Postkolonialismus und Mbembe-Debatte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.02.2021 finden Sie hier

Europa

Die rechtspopulistische Regierung in Polen zeigt, dass man mit Leitungsschutzrecht-Argumenten sogar die Presse selbst treffen kann. Im Internet tätige Medien sollen neuerdings eine "Solidaritätssteuer" auf Werbeeinnahmen entrichten, gegen die die Medien mit geschwärzten Titeln protestierten, berichtet Gabriele Lesser in der taz: "Laut Premier Mateusz Morawiecki von der PiS soll der 'Solidaritätsbeitrag' vor allem Konzerne wie Facebook, Google, Twitter und Amazon treffen, die in Polen zwar viel Gewinn erwirtschafteten, aber kaum Steuern zahlten. Experten zufolge würden diese Konzerne jedoch höchstens 50 bis 100 Millionen Zloty (zirka 11 bis 22 Millionen Euro) mehr Steuern in Polen bezahlen, wenn überhaupt. Die Hauptlast in Höhe von jährlich rund 800 Millionen Zloty (knapp 180 Millionen Euro) zusätzlicher Steuern entfiele auf die ausschließlich in Polen aktiven Medienunternehmen. Dabei ist deren Wirtschaftslage nach fast einem Jahr Coronalockdown schlecht: Die großen Reklameaufträge brachen fast überall weg, die Auflagen sanken."

Die Russen kehren zurück in die bleierne Zeit, schreibt ein ziemlich deprimierter Markus Ziener in der NZZ. "Das Leben in Russland ist in diesen Wochen ein weiteres Stück unfreier geworden. Wer seine Meinung sagt, zahlt einen Preis. Und dieser Preis steigt nahezu stündlich. Inzwischen genügt schon ein weitergeleiteter Tweet, um in einer Zelle zu landen, die dreifach überfüllt ist und in der es eine einzige offene Toilette gibt. Freundlicherweise hat die Staatsmacht den Gefangenen ihre Handys gelassen, damit die Kunde über die Behandlungsmethoden auch fleißig zirkuliert. Putins Russland hat nichts zu verbergen, ja nicht einmal mehr einen Schein zu wahren, es will nur noch klarstellen: Wer sich mit uns anlegt, der muss sich auf einiges gefasst machen. ... Soll das also der Weg in Russlands Zukunft sein? Eine Sowjetunion 2.0, die Angst vor ihren Bürgern hat, diese kleinhält, entmündigt und wegsperrt?"

Doch gegen die deutsche Russland-Liebe ist kein Kraut gewachsen. Das Nord Stream 2-Projekt ist wirtschaftlich und klimapolitisch Unsinn. Sein Zweck ist allein die Überbrückung der Ukraine als Transferland, schreibt der ehemalige Grünen-Politiker Ralf Fücks in der FAZ. Und nun begründet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Projekt noch mit der deutschen historischen Verantwortung (unser Resümee): "Das ist maßlos überhöht und offenbart doch eine tiefere Wahrheit: Nord Stream 2 ist das Symbol für die deutsch-russischen Sonderbeziehungen, eine vertrackte Mischung aus Ökonomie, Politik und Sentiment. Laut einer Umfrage vom November 2019 wünschen sich zwei Drittel der Deutschen eine engere Zusammenarbeit mit Russland. Dass Wladimir Putin an der Spitze eines autoritären, bis auf die Knochen korrupten Regimes steht, irritiert ebenso wenig wie der unerklärte Krieg gegen die Ukraine und die russische Waffenbrüderschaft mit dem Schlächter Assad."
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Medien

Der jahrzehntelange New-York-Times-Redakteur Donald McNeil wurde gefeuert, weil er vor Studenten (denen die Eltern eine 5.500 Dollar teure Reise mit dem Journalisten nach Peru spendiert hatten) in einer Diskussion über das Wort "Negro" dieses Wort ausgeprochen hatte (unsere Resümees). Ben Smith, der Medienkolumnist der Times, darf in seiner Kolumne einen recht externen Standpunkt vertreten. Für ihn sagt die Affäre etwas über den Status der Times in der amerikanischen Medienlandschaft aus: "Diese intensive Aufmerksamkeit, kombiniert mit einem blühenden Online-Abo-Geschäft, das das Unternehmen stärker an die Ansichten linksgerichteter Abonnenten bindet, mag dazu führen, dass es auf eine immer linkere Spur gedrängt wird und zu einer Art amerikanischen Version des Guardian wird, das Gegenteil seine eigentlich breiter aufgestellten Strategie."

"Nach der bösen, glitzernden Trump-Familie kommt die diverse, liebe Mannschaft um Joe Biden, um die USA zu retten", ätzt in der NZZ Sarah Pines in Richtung der amerikanischen Medien, die der neuen Regierung schmeicheln: "Zahlreiche Berichte und Artikel der New York Times, der Washington Post und von CNN zeichnen Biden und seine Entourage als 'breakout stars' (Zitat NYT): Quasi über Nacht sind sie da, die Weltenretter, bunt zusammengewürfelt, schicksalsgebeutelt und kämpfend, stets auf der Seite des Guten."
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Wissenschaft

Viel dazu gelernt hat die Wissenschaft seit dem Plagiatsskandal von Guttenbergs Doktorarbeit nicht, meint Tanjev Schultz in der SZ. Das liege vor allem daran, dass viel zu viele Doktorarbeiten geschrieben würden, oft "fürs eigene Prestige, für ein besseres Einstiegsgehalt, die schnellere Karriere oder um in der eigenen Kleinstadt zum Grüppchen der Honoratioren aufzuschließen. Und so lesen sich viele Doktorarbeiten dann auch. Stumpfsinn für Fortgeschrittene, ohne wissenschaftlichen Mehrwert und zum Schaden jener Promovierenden, die tatsächlich interessante oder sogar brillante Ergebnisse erarbeiten. Die gibt es ja auch."
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Stichwörter: Plagiate

Kulturpolitik

In der SZ rauft sich Gerd Matzig die Haare, wenn er im Spiegel liest, wie Grünenfraktionschef Anton Hofreiter dem angeblich unökologischen Einfamilienhaus an den Kragen will. "Die Grünen missverstehen diese Wohnform in aller Grimmigkeit. Sie waren mal zuständig für die Utopie vom besseren, nicht nur vom richtigeren Leben. Wann sind daraus diese dystopisch schlecht gelaunten Sturmtruppler geworden", fragt er und erinnert: "Man kann inzwischen auf dem Land leben, völlig energieeffektiv, ja auch in Plusenergiebauweise, nahe an der Natur, und dennoch in der Stadt arbeiten - von zu Hause aus. Nennt sich Digitalisierung."
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Politik

Der Iran ist nicht arm, die Deviseneinnahmen der letzten Jahre waren beträchtlich, und dennoch ist die Not groß, schreibt der Teheraner Autor Amir Hassan Cheheltan in der FAZ. "Was passiert mit diesen Einkünften? In wessen Hände gelangen sie? Niemand weiß es, und niemand spricht es offen an. Obwohl Hinweisgeber gesetzlichen Schutz genießen, findet niemand in der am Boden liegenden Zivilgesellschaft den Mut, Korruption anzuprangern. Ein Experte sagt: 'Dass in unserem Land alle Akten mit dem Vermerk der Geheimhaltung oder mit hoher nationaler Sicherheitsstufe versehen werden, heißt für uns: Gebt keine Hinweise mehr.' So verfahren ist die Lage inzwischen, dass selbst mit Posaunen und Trompeten das hohe Maß an Misswirtschaft nicht mehr offenzulegen wäre."
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Stichwörter: Iran, Cheheltan, Amir Hassan

Gesellschaft

Tapfer hält die Berliner SPD am Neutralitätsgebot des Staats fest, das ein Kopftuch für Lehrerinnen an Schulen ausschließt. In den Prozessen von Arbeitsgerichten hat der Berliner Senat immer wieder verloren - aber sie ficht die Urteile vor dem Bundesverfassungsgericht an. Die SPD-Abgeordnete Maja Lasić begründet diesen Schritt im Interview mit Anna Klöpper von der taz aus der sozialdemokratischen Tradition: "In einer pluralen Gesellschaft wie Berlin hat man die Wahl, sich entweder auf das bloße Nebeneinander verschiedener Lebensentwürfe zu beschränken, oder man sucht die Klammer, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Und wenn man diese gemeinsame Klammer und unsere gemeinsamen Werte sucht, spielt ein neutraler Staat, der über allem schwebt und in seinem Agieren die gemeinsamen Werte verkörpert, eine zentrale Rolle."

Bloß nicht aufhören mit den Corona-Einschränkungen. Man könnte sie gleich weiter laufen lassen, um die Toten aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe vermindern zu helfen, suggeriert Joachim Müller-Jung in der FAZ unter Bezug auf eine neue Studie zum Thema. "Kurz gesagt: Die Zahl der Opfer ist noch viel gewaltiger als bislang angenommen. Schätzungsweise 8,7 Millionen Menschen waren im Jahr vor Beginn der Covid-19-Krise vorzeitig an den Folgen der fossilen Brennstoffemissionen gestorben. Viermal so viel, wenn man so will, wie die offizielle Pandemie-Sterbebilanz für das Jahr 2020 ausweist. Jeder fünfte Todesfall weltweit stand demnach im Zusammenhang mit der Kohle-, Gas- und Ölverbrennung. Und besonders betroffen, neben Süd- und Ostasien sowie dem Osten der Vereinigten Staaten: Europas Ballungszentren." Müller-Jung rät, weniger Fleisch zu essen und das Rad zu nutzen.
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Ideen

Tobias Rapp liest für den Spiegel Michael Rothbergs Buch "Multidirektionale Erinnerung", das im Hintergrund der Mbembe-Debatte eine wichtige Rolle spielte. In den USA ist es bereits 2009 erschienen und versucht postkoloniale und Holocauststudien zu versöhnen: "Wer die Begrifflichkeiten und Ansätze des Postkolonialismus ernst nimmt und nach Deutschland importieren möchte, tut gut daran, den Blick zu weiten", so Rapp. "Tatsächlich lag das große koloniale Projekt der Deutschen im europäischen Osten. 'Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein', sagte Adolf Hitler in seinen "Tischgesprächen". Dem lagen nicht nur Nazifantasien vom 'Lebensraum' im Osten zugrunde. Es ist unüblich, den deutschen Drang nach Osten als "Kolonialismus" zu bezeichnen. Dabei trägt er durchaus kolonialistische Züge." Auch Rothberg arbeite sich am Thema der "Einzigartigkeit" des Holocaust ab, die er nicht erfassen könne, so Rapp, und empfiehlt als weitere Lektüre Steffen Klävers' Studie "Decolonizing Auschwitz?"

In der Coronakrise sollen wir alle solidarisch sein. Aber eigentlich geht es um Gehorsam, meint Reinhard K. Sprenger in der NZZ. "In der Diskussion um Freiheitsrechte für Geimpfte hört man immer wieder, es sei ein Gebot der Solidarität, Geimpfte nicht zu bevorzugen. Sie hätten nur Glück gehabt, früher geimpft worden zu sein. Was aber hat ein Nichtgeimpfter davon, wenn einem Geimpften Freiheitsrechte verweigert werden?" (Ähm, sein Leben? Jedenfalls solange ein Geimpfter das Virus weitergeben kann?)

Weiteres: Clemens Klünemann liest für die NZZ Pascal Orys neu erschienenes Buch "Qu'est-ce qu'une nation?"
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