9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.02.2021. Die Zeit hat ein großes Dossier zur internationalen Vernetzung militanter bis terroristischer Rechtsextremisten zusammengestellt. Die Welt erzählt, wie sich Privatmedien in Polen gegen die Gängelung der rechtspopulistischer Regierung wenden. Bülent Mumay fragt in der FAZ ob der nationalistische Autokrat Erdogan Studierende zusammenprügelt, um von der Wirtschaftskrise abzulenken. Richard Herzinger fragt in seinem Blog, warum ein Pate des Rechtsextremismus ausgerechnet von Frank-Walter Steinmeier hofiert wird - und ausgerechnet mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit. Und das alles für Nord Stream 2.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.02.2021 finden Sie hier

Politik

Die Zeit hat ein großes Dossier zur internationalen Vernetzung militanter bis terroristischer Rechtsextremisten zusammengestellt. Langst hat man sich vom Nationalismus verabschiedet und vernetzt sich im Namen der "weißen Rasse". Einer ihrer Anführer und Theoretiker ist James Mason, 68, Autor des Buchs "Siege" (Belagerung), dessen Theorie klingt, als sei sie vom Islamischen Staat abgeschaut: "Die klassischen faschistischen Gruppen und Parteien des 20. Jahrhunderts waren hierarchisch aufgebaut, mit einem Anführer an der Spitze, mit Befehlsketten und militärischen Strukturen. In 'Siege' vertritt James Mason ein anderes Konzept: Am besten, man organisiere sich in kleinen Zellen. Oder man attackiere ganz allein, denn manchmal seien zwei schon einer zu viel. 'Das gesamte weiße Amerika', schreibt Mason, 'ist unsere Armee.'"
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Europa

Die deutsche Sozialdemokratie lügt sich Osteuropa immer gern weg, um Putin direkt bezirzen zu können. So hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ausgerechnet die deutsche Verantwortung bemüht, um die Gaspipeline Nord Stream 2 zu rechtfertigen. Man dürfe nicht vergessen, dass "mehr als zwanzig Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion dem Krieg zum Opfer gefallen sind", hat er neulich doziert. Richard Herzinger schreibt dazu in seinem, Blog: "Insgesamt steht außer Zweifel, dass der Sieg über Hitlerdeutschland zu einem bedeutenden Teil dem Abwehrkampf der Völker der Sowjetunion zu verdanken ist, und dass diese im Krieg unter den alliierten Nationen die weitaus größte Zahl an Opfern zu beklagen hatten. Die Sowjetunion bestand aber eben nicht nur aus Russland, sondern auch aus Nationen wie der Ukraine und Belarus, die ihrerseits die größte Last der deutschen Okkupation zu tragen hatten - war doch ihr Territorium zu einhundert Prozent besetzt, dasjenige Russlands dagegen zu etwa zehn Prozent."

Gegen die von der polnischen Regierung als "Solidaritäts- und Pandemiesteuer" geplante Werbesteuer, die den polnischen Medien weitere Redaktionsbudgets entziehen soll, traten die meisten unabhängigen Fernseh- und Radiosender, Online-Portale und Websites gestern in den Streik, meldet die Welt, die auch den offenen Brief an die polnischen Behörden und Politik abdruckt. Darin heißt es: "Ihre Einführung wird bedeuten: 1. Schwächung oder sogar Schließung eines Teils der in Polen tätigen Medien, was die Möglichkeiten der Öffentlichkeit, die für sie interessanten Inhalte auszuwählen, erheblich einschränken wird; (…) 3. Vertiefung der ungleichen Behandlung von Unternehmen, die auf dem polnischen Medienmarkt tätig sind. Während die staatlich kontrollierten Medien jährlich zwei Milliarden Zloty aus Steuergeldern erhalten, sollen private Medienunternehmen mit einem zusätzlichen Tribut von einer Milliarde Zloty belastet werden."

Bülent Mumay erzählt in seiner FAZ-Kolumne, mit welcher Schärfe Tayyip Erdogan protestierende Studenten verfolgt. Vielleicht braucht er ein neues Gezi, fragt er sich: "Aufgrund der Wirtschaftskrise mühen sich mehr als vierzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung ab, ihre Familien mit dem Mindestlohn von rund 400 Euro über die Runden zu bringen. In Istanbul lassen 53 Prozent der Menschen eine Mahlzeit ausfallen. Aus purer Not! Diebe entwenden aus Wohnungen heutzutage keine kostbaren Dinge, sondern Sonnenblumenöl, dessen Preis sich binnen Jahresfrist verdoppelt hat. Erdogan will nicht, dass über diese Fakten gesprochen wird."
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Gesellschaft

Es liegen nun Gesetze zur Liberalisierung der Sterbehilfe vor, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts fällig ist und den Einfluss der Kirchen weiter vermindert. Beide findet Barbara Dribbusch in der taz gangbar und stellt sich gegen die Theorien der Gegner: "Die KritikerInnen der liberalisierten Sterbehilfe verweisen auf deren gesellschaftliche Nebenwirkungen und das Risiko, dass die Schwelle zum Suizid abgesenkt und die Akzeptanz von Pflegebedürftigkeit schwinden könnte. Aber wenn der wichtigste Maßstab für ethisches Handeln das konkrete Leid und dessen Linderung sein sollte, dann muss die - empirisch nicht belegbare - Sorge vor irgendeinem Wertewandel zum Schlechten durch Suizidhilfe hintenanstehen."

Der Rechtsprofessor Uwe Kischel erklärt in der FAZ, warum es falsch sei, den Begriff der "Rasse" aus dem Grundgesetz zu streichen. Das Argument, dass der Begriff selbst in der Ablehnung den Rassismus perpetuiere, will er nicht gelten lassen. Denn: Das Recht sei darauf angewiesen, "das, was es bekämpfen will, stets klar zu benennen, gerade auch dann, wenn das Benannte für besonders abstoßend gehalten wird. Und auch im Hinblick auf die zahlreichen internationalen Menschenrechtsdokumente, die sich gegen Rassendiskriminierung wenden und dabei den Begriff der Rasse verwenden, ist die juristische Leerstelle, die durch eine Streichung in Deutschland entstünde, kaum nachzuvollziehen."
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Kulturpolitik

Am Samstag hatte Peter Laudenbach in der SZ über das Zerwürfnis zwischen dem Regisseur Ersan Mondtag und der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" berichtet. Eine gemeinsam geplante Performance wurde abgesagt, Mondtag, der in dem Projekt auch Aussagen des AfD-Politikers Björn Höcke zitieren wollte, warf der Stiftung daraufhin "Zensur" vor. (Unser Resümee), mehr auch heute in Efeu.

Heute nun nimmt sich Peter Laudenbach in der SZ die Historikerin und Stiftungsdirektorin Gundula Bavendamm direkt vor: Rechts sei sie zwar nicht, behauptet er, aber sie habe ihren Vater -  den Ex-Journalisten Dirk Bavendamm, der sich im "trüben Milieu zwischen akademisch verbrämtem Geschichtsrevisionismus und offenem Rechtsextremismus" bewege - als Direktorin des Alliiertenmuseums in den 10er Jahren neben anderen Ehrenamtlichen Akten studieren und sortieren lassen. Für Laudenbach sollte das Folgen haben: "Gundula Bavendamm hat in der Frage, ob ihre Loyalität eher ihrem Vater Dirk Bavendamm oder einer von ihr geleiteten Institution gehört, mindestens einmal die falsche Entscheidung getroffen. Damit wird ihr Verbleib im Amt zur Belastung für die Vertriebenen-Stiftung. Bereits Gundula Bavendamms respektloser und konfuser Umgang mit dem von ihr erst engagierten und dann rüde gefeuerten Regisseur Ersan Mondtag ließ Zweifel daran aufkommen, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen ist."

Dass Nawapan Kriangsak, Tochter des illegal mit Khmer-Kunst handelnden und im vergangenen Jahr verstorbenen Sammlers Douglas Latchford, sich nun entschieden hat, dessen Sammlung an Kambodscha zurückzugeben, begrüßt die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin zwar in der Welt. Bis heute sei jedoch nicht bekannt, "wie viele Dutzend oder gar Hundert (oder sind es gar Tausend?) weiterer Kulturschätze Kambodschas, die während des Bürgerkriegs zwischen 1970 und 1990 und unter Veranlassung oder Mitwirkung Latchfords gestohlen wurden, sich unerkannt in Museen und Privatsammlungen weltweit befinden." Und: "Zudem stellt sich die Frage, ob es eigentlich reicht, wenn die Rückgaben in einer staatlichen musealen Sammelstelle in der Hauptstadt enden. Die antiken Tempelstätten der Khmer waren (und sind) bis heute Stätten der Verehrung der lokalen, ländlichen und ohnehin armen Bevölkerung. Es sind diese Menschen, denen die als beseelt verstandenen Götterbilder geraubt wurden. Sie haben keine Lobby."
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Ideen

Die Feministin Luise F. Pusch ist eine Pionierin des Genderns - schon in den Achtzigern schrieb sie erste Bücher dazu. In der Zeit erklärt sie, wie verschiedene Formen des Genderns entstanden (Binnen-i, Unterstrich, Sternchen) und wie sie die Sprache auch weiterhin permanent verbessert: "Ich war zunächst irritiert von dem Sternchen. Da aber die Gleichstellungsämter sich dafür starkmachen und SprecherInnen in Rundfunk und Fernsehen den Knacklaut benutzen, habe ich umdisponiert und schlage eine Fusion von Binnen-I und Sternchen vor: ein Sternchen über dem kleinen i, so wie wir früher statt des i-Punkts ein Herzchen malten. Bis dieses Zeichen auf unseren Tastaturen erscheint, behelfen wir uns mit einem Zirkumflex (Leserîn), einem Ausrufezeichen (Sänger!nnen) oder Ähnlichem."

Rainer Forst erinnert in der Zeit an John Rawls, der in diesen Tagen hundert Jahre alt würde und dessen "Theorie der Gerechtigkeit" vor fünfzig Jahren erschien: "Die Radikalität der Rawlsschen Theorie liegt im Differenzprinzip begründet, das oft verkürzt wird. Denn es besagt nicht, dass die Regelung gerecht ist, die den Schlechtestgestellten 'auch etwas' bringt; es fordert vielmehr, dass eine jede Ungleichverteilung von Gütern die extrem hohe Rechtfertigungsschwelle überqueren muss, nach der zu zeigen ist, dass eine Ungleichverteilung den Schlechtestgestellten mehr an Gütern einbringt als eine Gleichverteilung."

Am Dienstag forderte der Schriftsteller Thomas Brussig in der SZ mehr Diktatur während der Pandemie (Unser Resümee). Die Hoffnung, es handele sich dabei um Subversion, gibt Rene Schlott, schnell auf, um Brussig dann ebenfalls in der SZ recht zaghaft zu widersprechen: "Brussig macht eine 'weiche Stelle' unseres Systems aus und meint die Unfähigkeit, den ganzen pandemischen Werkzeugkoffer auszupacken. Nach dem Infektionsschutzgesetz sind derzeit 20 freiheitsbeschränkende 'Schutzmaßnahmen' in Kraft. Wer mehr will, sollte konkreter werden. Welche Maßnahmen fehlen Brussig neben der bereits möglichen 'zwangsweisen Absonderung von Quarantänebrechern' in geschlossenen Einrichtungen, nächtlichen Straßensperren und verdachtsunabhängigen Personenkontrollen? Die Abriegelung Thüringens nach dem Vorbild Tirols? Das Sprechverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln nach dem Vorbild Mallorcas? Die Genehmigung von Einkaufszeiten nur nach Antrag bei der Polizei nach dem Vorbild Griechenlands? Die Demokratie macht all dies möglich."

Die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges und ihre Kollegin Sandra Kostner, Mitinitiiatorin des "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" streiten sich, moderiert von Michael Angele, im Freitag über zugelassene Diskurse an Universitäten. Hentges bestätigt, dass sie bestimmte Themen an der Universität nicht diskutiert sehen will, etwa die Aussage "'Der Islam gehört nicht zu Deutschland.' Oder die Rede von kriminellen Ausländern, von kriminellen Flüchtlingen. Die Frage nach der Gewalttätigkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ... Generell die Reproduktion von Stereotypen." Kostner antwortet: "Wenn ich Gruppen als vulnerabel bezeichne und ihnen deshalb nicht zutraue, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen, die sie als verletzend empfinden könnten, dann verhalte ich mich wie eine Helikoptermutter, die genau zu wissen meint, was das Beste für das unmündige Kind ist."

Das Kunstkollektiv Peng! fordert in einer Kampagne seit gestern Mitarbeiter von BioNTech auf, die Formel für den Corona-Impfstoff zu verraten. Im Zeit-Online-Gespräch mit Caspar Shaller erklärt Robin Barnabas, designierter Pressesprecher von Peng!, warum sie dazu aufrufen, geistiges Eigentum widerrechtlich öffentlich zu machen: "'2021 werden 9 von 10 Menschen auf der Welt keine Impfung bekommen, fast alle davon im globalen Süden, während in den reichen Ländern fast alle Menschen geimpft sein werden.' Die größte Hürde dabei sei die schleppende Produktion. Hersteller in Entwicklungsländern, die eigentlich über die technischen Voraussetzungen verfügten, schnell und günstig Impfstoffe gegen Covid-19 zu produzieren, würden vom herrschenden Patentschutz ausgebremst. Die Regierungen von Indien und Südafrika - beides Länder, die über erfolgreiche Pharmaindustrien verfügen und auf die Produktion von Generika spezialisiert sind - haben bei der Welthandelsorganisation einen Antrag eingereicht, den Patentschutz für die Zeit der Pandemie auszusetzen, sogenannte Waivers zu erwirken. Der Vorstoß wird jedoch von den USA und der EU, und damit auch Deutschland, blockiert."
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