9punkt - Die Debattenrundschau

Neutralistische Tendenzen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2021. Europa ist ein Supertanker mit 27 Kapitänen an Bord. Möge er die Kraft haben, dem Rechtspopulismus zu widerstehen, hofft Geert Mak in der FR. Die übergreifende Bürgernummer kommt nun doch. Golem.de und Netzpolitik sind kritisch. In der SZ fragt der Historiker Norbert Frei, ob Donald Trump jetzt noch die Kraft hat, die Republikanische Partei zu spalten. Wer redet eigentlich über Armin Laschets außenpolitische Äußerungen, fragt Richard Herzinger im Perlentaucher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.01.2021 finden Sie hier

Europa

Stephan Ernst, der Mörder des Politikers Walter Lübcke erhält zwar lebenslang, nicht aber sein Mitangeklagter Markus H. Konrad Litschko nennt das Urteil in der taz "mutlos und bitter": "Mit Walter Lübcke wurde erstmals in der Bundesrepublik ein Politiker durch einen Rechtsextremen erschossen. Das Gericht fand dazu keine Worte, ordnete die Tat nicht gesellschaftlich ein. Auch das ist befremdlich. Dafür verurteilt es nun einen Einzeltäter - einen, der allerdings so allein nicht war, sondern im Internet, an AfD-Stammtischen oder auf einem Aufmarsch in Chemnitz in seinem Hass bestärkt wurde." Litschkos ausführlicher Bericht von der Urteilsverkündung ist hier.

"Europa hat alle Fähigkeit zu einer Weltmacht, aber durch das Veto der Mitgliedsstaaten kann es nicht handeln wie eine Weltmacht. Die EU ist ein Supertanker mit 27 Kapitänen am Ruder", sagt der niederländische Schriftsteller Geert Mak im großen FR-Gespräch mit Peter Riesbeck über Rechtspopulismus in den Niederlanden, den Brexit und die Gefahr von Fake News: "'Post-Truth is Pre-Fascism', auf das Zeitalter nach der Wahrheit folgt die Ära vor dem Faschismus, da stimme ich dem Historiker Timothy Snyder zu. Ich kenne die Vorbehalte gegen die Verwendung des Begriffs 'Faschismus', er dient oft als Pauschalurteil. Aber die Sehnsucht nach einem 'Führer', der Ausschluss von 'Wir' gegen 'Sie' erlebt in Teilen der Bevölkerung eine bedrohliche Renaissance. Wenn die ökonomische Erholung in Europa nach der Pandemie nicht gelingt, sehe ich eine ernsthafte Gefahr neuer nationalsozialistischer Bewegungen. Ich weiß um die Bedeutung des Begriffs, aber ich halte die Bedrohung für real."

Die deutsche Öffentlichkeit ist an Außenpolitik wenig interessiert, und so kümmerte es sie auch nicht besonders, dass Armin Laschet, der mögliche Kanzlerkandidat der CDU, jahrelang ein eifriger Lautsprecher der Kreml-Propaganda war - seine Positionen hat er inzwischen ein wenig abgeschwächt. Er ist nicht allein, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher: "Tatsächlich wachsen in Deutschland neutralistische Tendenzen, die sich in einer tiefen Skepsis gegenüber der deutschen Nato-Integration äußern. Dies betrifft in erster Linie die SPD, die das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ablehnt. Führende Sozialdemokraten befürworten zudem einen Rückzug Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe im Rahmen des atlantischen Bündnisses. Die Nähe einer Reihe von maßgeblichen SPD-Politikern zum Kreml ist notorisch."

Armin Laschet ist wie die meisten maßgeblichen Politiker auch für die Gas-Pipline Nordstream 2, mit der Russland die osteuropäischen Länder überbrückt. Die politischen Nebenfolgen benennt Reinhard Veser in der FAZ: "Die Ukraine verliert damit nicht nur bedeutende Einnahmen, sondern vor allem politische und militärische Sicherheit. Solange das Regime in Moskau wirtschaftlich davon abhängig ist, dass das wichtigste Exportgut Russlands störungsfrei durch die Ukraine fließt, ist es unwahrscheinlich, dass es seinen hybriden Dauerkrieg gegen das Land politisch oder militärisch eskalieren lässt. Fällt diese Abhängigkeit weg, haben Wladimir Putin und seine Leute freie Hand."

Von den Repressionen des belarussischen Regimes berichtet in einem offenen Brief in der SZ der in St. Petersburg lebende weißrussische Schriftsteller Sasha Filipenko: "Im Jahr 2020 gab es in Belarus 480 Festnahmen von Journalisten, die zu 97 administrativen Verhaftungen führten. Insgesamt haben Journalisten in Belarus mehr als 1.200 Tage hinter Gittern verbracht. Seit dem 9. August 2020 wurden mindestens 62 Fälle von körperlicher Gewalt gegen Journalisten registriert, darunter der gezielte Schusses auf die Nascha Niwa-Reporterin Natalja Lubnewskaja.Die russische Zeitung Nowaja Gaseta, die auch über die Proteste in Belarus berichtet, hat herausgefunden, dass bestimmte Spezialeinheiten der Polizei für jeden gefangenen Kameramann oder Fotografen eine Prämie erhalten." Was will Lukaschenko verbergen, fragt er: "Vielleicht, dass nach den Wahlen mehr als tausend Strafverfahren gegen Beteiligte an den Wahlkampagnen seiner politischen Gegner eingeleitet wurden. Oder dass in Belarus derzeit 187 Personen als politische Gefangene gelten, einschließlich der Präsidentschaftskandidaten Wiktor Babariko und Sergej Tichanowski." Ebenfalls in der SZ berichtet Francesa Polistina von den Repressionen gegen die belarussische Literaturszene. (Unser Resümee).
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Überwachung

Die Betreiber des einstigen Volkszählungsprotests werden im Grabe rotieren, aber heute kümmert's niemanden: Der Bundestag hat die die Einführung einer übergreifenden Bürgernummer beschlossen, berichtet Friedhelm Greis bei golem.de. Sie soll nicht ganz so umfassend genutzt werden, wie ursprünglich geplant, und es gibt Sicherheitsmechanismen für die Weitergabe von Daten. Aber "trotz der beschlossenen Änderungen besteht nach Ansicht der Opposition immer noch ein hohes Risiko, dass das Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird. Denn der juristische Knackpunkt bei dem Gesetz ist die Frage, ob durch die umfassende Nutzung der Steuer-ID ein mehr oder weniger 'einheitliches Personenkennzeichen' entsteht. Eine solche Identifikationsnummer erklärte das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Volkszählungsurteil von 1983 für unzulässig. Allerdings ist die Frage umstritten, inwieweit ein solches Merkmal genutzt werden kann, wenn es nur für bestimmte Bereiche gilt."

Sehr ausführlich und differenziert kommentiert Dirk Burczyk, Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag, den Entwurf bei Netzpolitik. Trotz der eingebauten Sicherheitsmechanismen bleibt er kritisch: "Dass nun ausgerechnet die Steuer-ID, die seit 2008 alle Einwohner*innen mit dauerhaftem Aufenthalt und Kinder mit Geburt erhalten, nun als PKZ dienen soll, bestärkt die berechtigten Sorgen vor einer Zweckentfremdung von PKZ und Zentralregister. Denn schon die Einführung der Steuer-ID war umstritten und konnte erst durchgesetzt werden, als die alleinige Nutzung für Steuerzwecke zugesichert wurde."
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Politik

Wie geht es nun mit dem Trumpismus weiter, fragt sich der Historiker Norbert Frei in der SZ: "Bleiben die Republikaner zusammen, könnten Trumps Gesinnungsfreunde im Kongress die Führung übernehmen; bricht die Partei auseinander, könnte eine Trump-Bewegung entstehen - eine Antiparteien-Partei mit ihm als Anführer oder auch nur als entrückter Symbolfigur. Das Ende des Zweiparteiensystems, schließlich des hergebrachten Machtgefüges der USA, käme in Sicht."
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Internet

"Lieber Herr Döpfner, vielen Dank für Ihren freundlichen und offenen Brief", antwortet Ursula von der Leyen in einem nicht weniger ausufernden Brief in der Welt Mathias Döpfner, der von ihr ebenda forderte, Google. Facebook und Co. zu entmachten. Wir tun ja schon einiges, um Verbraucher zu schützen, schreibt sie: "In unserem Digital Services Act treffen die großen Internetplattformen, also solche, die in der EU mehr als 45 Millionen Nutzerinnen und Nutzer haben, besondere Pflichten. Beispielsweise müssen sie ihren Nutzerinnen und Nutzern künftig die Möglichkeit anbieten, Hinweise auf weitere Inhalte zu unterbinden, wenn diese auf Profiling beruhen, also dem systematischen Auswerten ihrer Daten durch Computerprogramme. (…) Wir werden noch in diesem Jahr in Absprache mit unseren Mitgliedsstaaten eine sichere europäische Identität vorschlagen - und unseren Bürgerinnen und Bürgern so eine Alternative anbieten, mit der sie sich mit gutem Gewissen im Internet bewegen können - sei es, um Steuern zu zahlen, sich an der Uni anzumelden oder ein Elektroauto zu mieten."
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Geschichte

Im Tagesspiegel begrüßt der Historiker Mischa Honeck Joe Bidens Entscheidung die von Trump eingesetzte 1776-Kommission, die einen "patriotischen Geschichtsunterricht" in den USA durchsetzen sollte, zu liquidieren. Über die konservativen Verteidiger, die "von einem fairen Wettbewerb zweier Denkschulen" sprechen, kann er nur den Kopf schütteln: "Es ist der eklatante wissenschaftliche Regelbruch, der das Vorgehen von Trumps Weißwäschern kennzeichnet. Ihr propagandistisches Pamphlet enthält keine einzige Fußnote. Hinzu kommt, dass sich unter den Autoren kein einziger professioneller Historiker befindet. ... Trumps Präsidentschaft, so könnte man mit einer Prise Sarkasmus resümieren, hatte ihren logischen Endpunkt erreicht: von Fake News zu Fake History."
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Kulturpolitik

2016 einigte sich die Franz-Hofmann-und-Sophie-Hagemann-Stiftung mit den Nachfahren des jüdischen Musikinstrumentenhändlers Felix Hildesheimer darauf, diesen eine Entschädigung von 100.000 Euro für eine Guarneri-Geige zu zahlen, die dem Händler laut Limbach-Kommission klar "NS-verfolgungsbedingt entzogen" worden sei, weiß Jörg Häntzschel in der SZ. Bis heute weigert sich die Stiftung allerdings zu zahlen: "Nun, da sie zahlen soll, nutzt sie nicht nur die Schwäche der Kommission aus, sie sät darüber hinaus Zweifel an deren Integrität. Vor allem aber führt sie diese als 'zahnlosen Tiger' (Handelsblatt) vor. Nachfahren jüdischer Sammler werden zögern, vor die Kommission zu ziehen; Institutionen könnten sich ermutigt fühlen, die Empfehlungen ebenfalls zu ignorieren."
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Gesellschaft

In der FR antwortet Katja Thorwarth auf Fatina Keilani, die kürzlich im Tagesspiegel kritisiert hatte, dass der Rassismusvorwurf zu einer Art Geschäftsmodell verkommen sei (unser Resümee). Ergänzen wir, "dass die Bedrohung der Pressefreiheit seit Jahren aus einer völlig anderen Ecke kommt. Nämlich aus der extrem rechten Ecke, die bei gefühlt jedem Kommafehler in einer Bildunterschrift eine Klage raushaut."

Im Zeit-Online-Interview mit Nils Erich verteidigt die Duden-Chefredakteurin Kathrin Kunkel-Razum den Vorstoß des Online-Dudens, künftig Personen- und Berufsbezeichnungen zu gendern. "Wir streiten damit nicht ab (…), dass die maskulinen Formen auch geschlechterübergreifend verwendet werden können". Aber: "Was bedeuten überhaupt 'Normen zur deutschen Sprache'? Der einzige Sprachbereich, wo richtige Normen festgeschrieben sind, ist die Orthografie, also die Rechtschreibung. Diese Normen legt auch nicht der Duden fest, sondern eine staatlich übergreifende Institution, nämlich der Rat für deutsche Rechtschreibung. Selbst da gibt es Spielraum für Interpretationen, wie bei Gesetzen, weil nicht alles ganz hundertprozentig klar geregelt werden kann."
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