9punkt - Die Debattenrundschau

Neubauvermeidung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2021. Statt ein Islamkolleg zu gründen, sollte der Staat den bekenntnisorientierten Religionsunterricht lieber ganz abschaffen, fordert Wolfgang Hummes in hpd.de. Im Standard insistiert die Philosophin Eva von Redecker, dass Individualismus doch keine ganz schlechte Idee ist. Seit Neujahr sind Max Beckmann, George Orwell und Kurt Weill gemeinfrei, wenn auch letzterer nicht ganz, notiert Netzpolitik. In der taz freut sich Charlotte Wiedemann über die neue "jüdische Diversität", die dem Zentralrat der Juden alle Autorität in Antisemitismusfragen nimmt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.01.2021 finden Sie hier

Urheberrecht

Seit Neujahr gemeinfrei "Stillleben mit Türkenbund (1926)" von Max Beckmann.



Urheberinnen müssen siebzig Jahre tot sein, bis ihre Werke gemeinfrei werden. Darum ist Neujahr auch der Tag der Gemeinfreiheit, die stets am Jahresanfang nach dem siebzigsten Todestag einsetzt. Anna Biselli gibt bei Netzpolitik einen Überblick. "Einer der bekanntesten Autoren aus der Liste dürfte George Orwell mit seinen Dystopien 'Animal Farm' und '1984' sein. Ein weiterer bekannter Autor ist George Bernard Shaw. Ebenfalls im Jahr 1950 verstorben ist der Komponist Kurt Weill. Von ihm stammt unter anderem die Musik zur 'Dreigroschenoper'. Leider bedeutet das im Falle von Weill noch nicht, dass Aufführungen seiner Werke nun alle frei verfügbar wären. Denn beispielsweise können Aufnahmen von Orchestern, die seine Musik nach seinem Tod aufgeführt haben, weiterhin geschützt sein, je nachdem, wann und wo die Aufnahme entstanden ist. Diese Schutzfristen wurden in der EU erst vor wenigen Jahren ebenfalls auf siebzig Jahre verlängert."
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Kulturpolitik

Dass die Theater geschlossen bleiben, kann Peter von Becker ja noch verstehen, aber könnte man nicht wenigstens die Museen wieder öffnen, fragt er im Tagesspiegel: "Museen sind wie Buchläden Orte der stillen Information und Kontemplation. Mangels Reisen gibt es derzeit kaum Touristen. Museen bieten meist hohe, große, klimatisierte Räume, Zeitfenster und Online-Tickets gehören längst zum Repertoire, Masken sind Pflicht und die über den Tag verteilten Besucher verursachen nirgendwo massenhafte Kontakte. Für Erwachsene und Kinder aber blieben diese Refugien der Anregung, Wissensvermittlung und Fantasie in der Pandemie ohne Sinn verschlossen. Jeder Supermarktbesuch wirkt im Vergleich viel gefährlicher. Kulturstaatsministerin Monika Grütters und ihre Kolleginnen und Kollegen in den Landeskultusministerien sollten darum fordern: Öffnet wieder die Museen!"

Sehr kritisch liest Arnold Bartetzky die europäische "Neue Leipzig-Charta" der für Stadtentwicklung zuständigen Minister der Europäischen Union. "Was das Papier ganz besonders vermissen lässt, ist denn auch die Einsicht, dass die Neubauvermeidung eines der obersten Gebote der Stadtentwicklung sein sollte. Europas Städte sind schon gebaut. Sie sind nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine materielle und energetische Ressource, die es endlich zu schonen gilt. Ein Austausch weiter Teile des Bestandes mit ihrer gespeicherten grauen Energie durch vermeintlich energieeffizientere Bauten ist ökologisch genauso schädlich wie hektisch aus dem Boden gestampfte Neubausiedlungen."
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Religion

Wolfgang Hummes, Verfasser des Buches "Brauchen wir Gott im Grundgesetz? Plädoyer für eine religionsbefreite Verfassung" schreibt bei hpd.de sehr skeptisch über das Islamkolleg in Osnabrück, einer staatlich finanzierter Einrichtung für die Ausblidung muslimishcer Religionslehrer, von der sich die Politik einen integrationsfördernden, aber nach wie vor bekenntnisorientierten Religionsunterricht erhofft. Viel zu vielfältig sei der von Migration geprägte Islam in Deutschland, wendet Hummes ein: "Es kommt hinzu, dass sich besonders die Jugend ihre politische und religiöse Meinung und Haltung weniger in den regionalen Moscheen als vielmehr über das Internet bildet. Um die dort leicht zugänglichen Verkündigungen zu verstehen, bedarf es auch nicht der Beherrschung der deutschen Sprache. Man kann alles in der eigenen Muttersprache erfahren. Damit bleibt die religiöse Indoktrination für den Verfassungsstaat weiterhin außer Reichweite." Hummes plädiert für einen konfessionsübergreifenden Ethikunterricht.
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Internet

Die Digitalisierung verschlingt ungeheure Energie und trägt somit zum Klimawandel bei, auch wenn sich dieser Beitrag noch kaum beziffern lässt, schreibt Christiane Schulzki-Haddouti bei golem.de. Aber es gibt auch Potenzial zur Verbesserung, versichern ihr Experten wie Ralph Hintemann: "Beispielsweise nutzt das Hochhaus Eurotheum in Frankfurt am Main mit einem wasserbasierten Direktkühlsystem rund 70 Prozent seiner eigenen Abwärme, um Büro- und Konferenzräume sowie die Hotels und Gastronomie vor Ort zu beheizen. Hintemann verweist darauf, dass die Abwärme der Rechenzentren im Raum Frankfurt am Main ausreichen würde, um alle gewerblichen Immobilien der Stadt zu versorgen."
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Stichwörter: Digitalisierung, Klimawandel

Ideen

Es gibt hier und da auch Juden, die BDS-Positionen zustimmen. taz-Autorin Charlotte Wiedemann freut sich über diese "jüdische Diversität", die für sie beweist, dass israelkritische Positionen nicht per se antisemitisch sind. Eine "unanfechtbare moralische Autorität" in der Frage, was Antisemitismus sei, gibt es für sie nicht mehr: "Auch der Zentralrat ist das nicht mehr. Eine Institution, in der sich Religiöses, Ethnisches, Politisches verbindet und widerspruchsfrei öffentlich positioniert, war im Land der Schoah gewiss lange notwendig, zumal jüdische Existenz im Nachkriegsdeutschland von der Judenheit anderswo zunächst keineswegs begrüßt wurde. Seitdem der Zentralrat aber jüdischen Stimmen, die aus seiner Sicht missliebig und israelfeindlich sind, das Jüdischsein abspricht, hat er sich selbst in die Niederungen des Meinungskampfs begeben."

Im Interview mit dem Standard denkt die Philosophin Eva von Redecker über Eigentum, ein anderes Leben und neue Protestformen nach, die den Liberalismus gleich ganz abschaffen wollen. Das ist ihr dann doch etwas unheimlich: "Individualismus bis zur Wahrung von idiosynkratischen Ansprüchen und Rückzugsräumen, die im liberalen Gefüge durch Rechte gewahrt sind, ist unverzichtbar. Gleichzeitig habe ich aber, stark geprägt durch feministische Theorien und 'Critical Race Theory', gelernt, dass man sich klarmachen muss, wie sehr der hegemoniale, politische Liberalismus soziale Herrschaft verschleiert und verlängert. Diejenigen, die in den Verdacht geraten, zu fanatische Identitätspolitik zu betreiben, sind ja diejenigen, die liberale Ansprüche hereinretten in neue Politiken des Lebens. Darin erkennt sich die Identitätspolitik, die es nie nötig hatte, sich als Standort zu bestimmen, nämlich die weißmännlichbürgerliche, die sich für universal halten konnte, schlecht wieder.
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Politik

In Koblenz findet im Namen des "Weltrechtsprinzips" seit April ein Prozess über Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien statt (Hintergrund). Die Rechtsprofessorin Stefanie Bock begründet im Gespräch mit Sabine am Orde in der taz, warum sie es für richtig hält, diesen Prozess aufzuzeichnen - bisher lässt das duetsche Recht dies nur zu, wenn ein Prozess eine große historische Bedeutung für Deutschland selbst hat. Und die hat er auch, findet Bock: "Entscheidend ist aus meiner Sicht die Bedeutung für die Justizgeschichte. Dieser Prozess ist ein Meilenstein: Erstmals weltweit müssen sich Angehörige des Assad-Regimes vor Gericht verantworten. Dieses Verfahren zeigt - quasi als eine Art Erbe von Nürnberg -, wie Deutschland seinen Platz in der internationalen Strafjustiz gefunden hat."

Die großen Naturschutzgebiete in Afrika wie die berühmte Serengeti sind unmittelbatr aus der kolonialen Tradition der Großwiljägerei und auch aus der Bekämpfung von antikolonialen Aufständen hervorgegangen, schreibt der Historiker Felix Schürmann bei geschichtedergegenwart.ch und beruft sich auf afrikanische Naturschützer und Aktivisten. Sie sähen "solche Gebiete als militärisch abgeschottete Festungen, in denen koloniale Konzepte von Natur und Naturschutz fortwirkten. Zudem würden nach wie vor westliche Interessen steuernd in die Politik der Reservate eingreifen. Die Gewalt, mit der hochgerüstete 'grüne Armeen' die Abschottung der Gebiete etwa gegenüber bäuerlichen Gemeinschaften und anderen örtlichen Bevölkerungen durchsetzen, erfährt inzwischen auch in Europa vermehrt Aufmerksamkeit und Kritik."

In der FR hofft Claus Leggewie, dass es mit Donald Trump als Präsident bald wirklich vorbei ist. Was der in seinen letzten Amtstagen noch anrichten kann, lässt ihn schaudern: "Seine letzte Trumpfkarte wäre die Inszenierung eines bewaffneten Konflikts mit dem Iran, zu dem dessen eigene, nicht minder verzweifelte Angriffslust, zuletzt die mutmaßliche Beschießung der US-Botschaft in Bagdad, erheblich beitragen könnte. Einen 'Vergeltungsschlag' kann Trump als oberster Befehlshaber jederzeit anordnen, er hockt mit dem Zündholz am Pulverfass, dessen Explosion unkalkulierbare Risiken für den Weltfrieden böte."
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Gesellschaft

Die allerneuesten Zahlen sind laut Spiegel online mal wieder alarmierend, über 21.000 Neuinfektionen und über tausend Tote. Bund und Länder haben Verschärfungen des Lockdown beschlossen, doch die MinisterpräsidentInnen haben mal wieder gebremst, kritisiert Klaus Hillenbrand in der taz: "Wenn Ende Januar absehbar die Infiziertenzahl nicht so deutlich gesunken ist wie erhofft, wird nichts anderes übrig bleiben als eine Verlängerung und Verschärfung dieses verlängerten Kampfs gegen das Coronavirus. Dann hocken wir noch den ganzen Februar und vielleicht den März über in einem nicht enden wollenden Lockdown. Dann werden noch mehr Betriebe diese Durststrecke nicht länger durchhalten und aufgeben müssen, noch mehr Menschen ihren Job verlieren und noch mehr Staatsgelder verpulvert werden müssen. Und dann werden noch mehr Menschen an Covid-19 gestorben sein."

Hanna Vatter gehört zu den Herausgeberinnen des Sammelbands "Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution". Im hpd.de-Gespräch mit Martin Bauer erklärt sie sie das "nordische Modell", das Prostitution verbietet und Freier bestraft  gegenüber dem deutschen Prostitutionsschutzgesetz bevorzugt. "Wenn das Verhalten der Frauen reguliert und kontrolliert wird, ist die transportierte Botschaft deutlich: Wenn ihr von Gewalt betroffen seid, liegt das nicht an strukturellem männlichem Missverhalten. Ihr Frauen in der Prostitution habt euch nicht richtig an unsere Maßnahmen gehalten. Sexkauf wird hier nicht als Problem einer patriarchalen Gesellschaft, sondern als individuelles, zum Teil tragisches - aber eben 'freiwillig' und damit selbstverschuldet gewähltes Schicksal definiert. Deshalb werden auch vorwiegend die Frauen reguliert."
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