9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2020. Le Monde staunt über den im Internet zirkulierenden Film, "Hold-up", der Verschwörungstheorien über Covid 19 verbreitet und auf ein begeistertes Publikum stößt. Die SZ warnt vor der  KI-Technik der "Deepfakes", die vor allem als Waffe gegen Frauen verwendet werde. In der taz hofft Tuba Isik, Professorin am Berliner Institut für Islamische Theologie, mit dem Hinweis auf die "einst ambigue Kultur des Islam" selbst heikle Themen wie Homosexualität an ihrem Institut bewältigen zu können. Die FAZ greift einen Streit zwischen der New York Times und Emmanuel Macron auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.11.2020 finden Sie hier

Europa

Der im Internet zirkulierende, per Crowd-Funding finanzierte Film "Hold-up" verbreitet im Ton seriöser Recherche Verschwörungstheorien über die Coronakrise (unser Resümee). Dabei ist es den Machern des Films gelungen, prominente Sprecher bis hin zu Nobelpreisträgern zu finden, die die These untermauern, dass Covid 19 ein von der Pharmaindustrie gestreutes Gerücht sei. Selbst prominente Figuren wie der ehemalige französische Gesundheitsminister Philippe Douste-Blazy ließen sich einspannen, berichten Lucie Soullier und Abel Mestre in Le Monde. "Dieser Diskurs ist so erfolgreich, weil der Boden längst bereitet war. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Franzosen, deren Misstrauen gegenüber den politischen und wissenschaftlichen 'Eliten' ständig wächst, gleichzeitig immer empfänglicher für Verschwörungstheorien werden, die sich immer schneller und weiter ausbreiten. Im Februar 2019 alarmierte eine vom Meinungsforschungsinsitut IFOP im Auftrag der Jean-Jaurès-Stiftung und von Conspiracy Watch durchgeführte Studie: Jeder fünfte Franzose stimmte mindestens fünf Verschwörungstheorien zu. Und die populärste passt zur aktuellen Gesundheitskrise, denn 43 Prozent der Befragten stimmten zu, dass 'die Regierung mit den Pharmaunternehmen unter einer Decke steckt, um die Wahrheit über die Schädlichkeit von Impfstoffen zu verbergen'."

Wer den Film gesehen hat, "braucht lange, um sich vom Taumel der Phrasen zu erholen", schreibt Jürg Altwegg in der FAZ zu "Hold-up".
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Medien

Der Medienkolumnist der New York Times Ben Smith hat einen der vielen Artikel in der englischsprachigen Presse geschrieben, die von oben herab die französische Position zu Meinungsfreiheit und Islamismus zurückweisen. Sein Artikel ist allerdings insofern besonders, als er suggeriert, Emmanuel Macron habe ihn spontan angerufen, um sich über die Berichterstattung der Times zu beschweren. Ganz so war es nicht, wie der Elysées-Palast über französische Medien steckte - denn Smith hatte wochenlang antichambriert. In der FAZ berichtet Michaela Wiegel über die Scharmützel zwischen amerikanischen Medien und Macron: "Macrons Ernüchterung über die Wahrnehmung Frankreichs in Teilen der englischsprachigen Presse ist nicht gespielt. Ihn verstört es zutiefst, dass die Terrorismusdebatte - in seiner Wahrnehmung - nicht im Namen der Opfer, sondern der Täter geführt wird. Wenn etliche Journalisten aus Ländern, 'die unsere Werte teilen, die Gewalt legitimieren und sagen, dass das Herz des Problems ist, dass Frankreich rassistisch und islamophob ist, dann sind grundsätzliche Prinzipien verlorengegangen', zitiert ihn Smith."
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Internet

Friedhelm Greis beobachtet bei golem.de eine Abmilderung der Diskurse von EU-Digitalkommissar Thierry Breton gegenüber den großen Plattformen, besonders Google, denen er mit Zerschlagung drohte. Diese Drohung werde im kommenden Digitale-Dienste-Gesetz wohl nur eine unwahrscheinliche Ultima Ratio sein, so Greis: "Eine Diskussion wie in den USA, wo schon die Abspaltung des Browsers Chrome von Google ins Spiel gebracht wurde, will die Kommission aber derzeit wohl nicht führen."

Man sollte keine Fotos mehr von sich im Internet posten, meint im Interview mit der SZ die KI-Expertin Nina Schick, die beobachtet hat, wie einfach es heute ist "Deepfakes" zu erstellen. Das sind Bilder, Videos oder Tonaufnahmen, die mittels KI verfälscht wurden. So kann man beispielsweise Fotos bekleideter Personen mittels KI in Nacktbilder verwandeln oder das Gesicht einer Person auf den Körper einer anderen - zum Beispiel eines Pornodarstellers - projizieren. Solche Manipulationen, sagt sie, "werden häufig als Waffe gegen die Frauen benutzt". Sie plädiert deshalb dafür, "eine Verifizierungsebene für das Internet einzurichten, die wie ein Virenscanner funktioniert und automatisch bei algorithmisch veränderten Medien Alarm schlägt. Wenn meine Tochter sieben oder acht Jahre alt ist, reden wir hoffentlich über ein anderes Informationsökosystem, eines mit Sicherheitsmaßnahmen gegen Fälschungen."
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Ideen

Peter Hintz schreibt bei 54books über eine DDR-Sehnsucht der neuen Rechten, die vor allem eine Sehnsucht nach der Käseglockigkeit des eingemauerten Staats gewesn zu scheint: "Nach dem DDR-Verständnis der sogenannten Neuen Rechten bewahrte der Eiserne Vorhang Ostdeutschland aber vor Verwestlichung im Sinne von Konsumgesellschaft und Neuer Linker. So bezeichnete ein (aus Österreich stammender) Autor der Antaios-Zeitschrift Sezession einmal die Mauer als 'anti-antideutschen Schutzwall' und für einen anderen war die DDR die 'letzte Variante deutscher Staatlichkeit.'"

Ideologiefreie Geschichtsbetrachtung gibt es nicht, warnt in der NZZ der Philosoph Alexander Grau heutige Bilderstürmer: "Wie sehr in den historischen Diskursen der westlichen Welt inzwischen die moralische Bewertung das Gespür für historische Zusammenhänge ersetzt hat, konnte man im Sommer anlässlich der 'Black Lives Matter'-Demonstrationen erleben. Denn wer Denkmäler von Kolumbus, Churchill oder Bismarck schleifen möchte, weil diese Eroberer, Rassisten oder Kriegstreiber waren, bemüht sich nicht um ein historisches Verstehen, sondern walzt Geschichte im Namen aktueller Moralvorstellungen nieder. Doch Moral ist selbst ein historisches Phänomen, eingebunden in Diskurse, Narrative und Sinnkonstituenten ihrer Zeit. Wer sich weigert, diese zu verstehen, versteht nichts."

Im Interview mit der FR analysiert der Ökonom Branko Milanovic den Zustand der Demokratie in Amerika, den er immer näher an China verortet: "In China sehen wir, dass die politische Macht oft genutzt wird, um ökonomische Macht zu erlangen. Das lässt sich bei vielen chinesischen Familien beobachten, die über eine politische Macht verfügen und diese nutzen, um von der ökonomischen Seite zu profitieren. In den USA ist es so, dass Menschen ihre ökonomische Macht nutzen, um zu politischer Macht zu gelangen. Reiche Leute streben in den USA in die politische Arena und in die Medien. Es gibt Tausende von Lobbyisten, die für die Reichen tätig sind. Eine gefährliche Konsequenz: Das politische System wird zunehmend plutokratisch. Insofern könnte es eine Annäherung der Systeme geben, da das demokratische System immer undemokratischer wird."
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Religion

Auch an Universitäten werden Dogmen gelehrt - in Gestalt von Theologie. Der Staat bezahlt den Kirchen doppelt so viele Professoren wie es Lehrstühle für Philosophie in Deutschland gibt. Die islamische Theologie zieht nach. In Berlin ist Tuba Isik Professorin am Berliner Institut für Islamische Theologie (BIT) an der Humboldt-Universität, das wegen der Beteiligung konservativer Islamverbände bei Gründung und Aufsicht umstritten ist. Im Gespräch mit Stefan Hunglinger von der taz erklärt sie, wie sie mit strittigen Themen wie Homosexualität umgehen will: "Wir können in der wissenschaftlichen Theologie die unterschiedlichsten Positionen aufzeigen, die es bezüglich Homosexualität in der islamischen Tradition gab. Ein Blick in die Tradition zeigt, dass der Umgang mit Homosexualität grundsätzlich entspannter war als gegenwärtig. Heute kann sich die Meinungsbildung in eine bestimmte Richtung entwickelt haben, aber auch diese Entwicklung war verbunden mit Diskursen. An der Universität haben wir die Chance, auf die einst ambigue Kultur des Islam hinzuweisen und unter den jetzigen Gegebenheiten neu zu diskutieren."

In der SZ macht Detlef Esslinger seinem Zorn auf die Katholische Kirche Luft, die Gläubige gern ihre "Schafe" nennt, ihnen Moral predigt, die eigenen Sünden aber schnell vom Tisch wischt: "Vorschriften und Drohungen sind ihr Ding. Tue dies und lasse das. Wenn du später in den Himmel willst, gehe lieber sonntags in die Messe. Komme zur Beichte. Onaniere nicht. Falls du schwul bist, unterdrücke es. Bloß kein Sex vor der Ehe. ... Etliche Menschen können es sich jedoch nicht leisten, dem Machtgehabe zu widersagen; andernfalls folgt das Gegenteil von Himmel schon auf Erden. Wer als Geschiedener wieder heiratet, den schließt diese Kirche grundsätzlich von ihrer Kommunion aus. Wer gar bei ihr beschäftigt ist, dem nimmt sie mit der Wiederheirat die berufliche Existenz. Geht's eigentlich noch? Wen jemand liebt und wen nicht mehr und warum - das geht niemanden etwas an, keinen Nachbarn, keine Bürgermeisterin und keinen Kardinal. Warum gehört eine solche Anmaßung zum Wesen ausgerechnet jener Institution, die so viele Unholde jahrzehntelang gedeckt hat?"
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Politik

Ilija Trojanow nimmt ihn der taz Abschied von seiner persönlichen Obsession Donald Trump, über den er vier Jahre lang alles las, was in die Finger bekam. Am Ende aber muss er einsehen, dass er mit seiner Obsession vielleicht doch recht hatte, denn er erkennt Trump als "vorläufigen Endpunkt einer Konzentration von Geld und Macht, die man gemeinhin Plutokratie nennt, salopp übersetzt: die 'Herrschaft der Börse'. Wie die Journalistin Jane Mayer in ihrem großartigen Buch 'Dark Money: The Hidden History of the Billionaires Behind the Rise of the Radical Right' (leider noch nicht ins Deutsche übersetzt, mehr hier) anhand der Gebrüder Koch beschreibt, führen Milliardäre in den USA seit Längerem einen Krieg gegen jede demokratische Kontrolle der Wirtschaft, gegen ökologische Regulierung, gegen soziale Maßnahmen. Und sie sind enorm erfolgreich, in der Politik, in der Bildung, in der Mondlandschaft der Medien."

Nicht nur Latinos und Schwarze haben bei der Präsidentschaftswahl 2020 häufiger für die Republikaner gestimmt als noch 2016 (mehr dazu hier und hier). Auch Muslime, erzählt Erum Salam im Guardian. Nach einer Umfrage von Associated Press waren es 35 Prozent. Die Motive sind, wie immer, vielfältig. Eins davon: die Ablehnung von Abtreibung und Homosexualität. "Auch nach der Ernennung von Amy Coney Barrett zur Richterin am Obersten Gerichtshof ist Abtreibung ein heißes Thema und eine Schlüsselfrage für gläubige Wähler. Annette Khan schreibt ihre sozialkonservativen Ansichten zu Abtreibung und Sexualität auch ihrem Glauben zu und sieht sie in der republikanischen Partei unter Trump widergespiegelt. 'Die Republikanische Partei ist gegen Abtreibung und gegen die Homo-Ehe, was ehrlich gesagt ein Widerspruch in sich ist. Denn die Homo-Ehe gibt es nicht für konservative und fundamentalistische Gläubige, seien sie Christen, Juden oder Muslime. Dies steht im Einklang mit dem islamischen Glauben', sagte sie."
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