9punkt - Die Debattenrundschau

Lebend oder in Teilen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2020. Boris Johnson will den Brexit-Vertrag brechen - und dieser Bruch bedeutet auch, dass er seine eigenen Wähler belogen hat, notiert Fintan O'Toole im Guardian. Bei allem guten Willen - der Denkmalstreit ist "geschichtsvergessen bis zum Gehtnichtmehr", meint Hans Christoph Buch in der NZZ. Bei hpd.de erklären einige säkular gesinnte Autorinnen muslimischer Herkunft, warum sie mit dem Begriff "antimuslimischer Rassismus" nichts anfangen können. Henryk Broder staunt in der Welt über die grandiosen Budgets der Parteistiftungen: Hunderte Millionen Euro, natürlich auch für die AfD.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.09.2020 finden Sie hier

Europa

400 der Flüchtlinge von Moria - unbegleitete Jugendliche - werden jetzt in europäischen Ländern aufgenommen. "Der gesamteuropäische Ansatz, den Merkel und Macron verfolgen, ist grundsätzlich richtig", schreibt Lukas Wallraff in der taz: "Möglichst viele Partnerländer einzubeziehen und gemeinsam mit gutem Beispiel voranzugehen ist langfristig Erfolg versprechender als nationale Alleingänge - auch wenn es in Deutschland zum Glück viele Engagierte in Politik und Bevölkerung gibt, die dafür plädieren, alle 12.000 aus Moria auf einen Schlag sofort direkt nach Deutschland zu bringen."

Der Reporter Alexander Oetker erläutert im Gespräch mit Victor Sattler von der FAZ, welchen Effekt das Lager von Moria auf die Flüchtlinge hatte: "Morgens kamen die Menschen mit den Booten an, sie haben gejubelt, vor Glück geweint und die Helfer umarmt. Drei, vier Tage später habe ich dieselben Leute im Lager besucht, und sie hatten völlig andere Augen. Wie paralysiert. Auf die große Euphorie kam der Schock, das langsame Brechen dieser Menschen, die Erkenntnis: 'Es wird sich nichts verändern. Hier will uns niemand. Das ist hier die Endstation.'"

Maria Kolesnikowa lässt sich weiterhin nicht einschüchtern. Nach der Verschleppung und dem Versuch, sie in die Ukraine abzuschieben, sitzt sie nun im Gefängnis. Vorgeworfen werden ihr "Aufrufe zur Machteroberung", berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. Nun fordert Kolesnikowa ein Strafverfahren gegen die belarussischen Behörden. Bei der Verschleppung "sei ihr erklärt worden, sollte sie Belarus nicht freiwillig verlassen, 'werde ich trotzdem herausgebracht: lebend oder in Teilen'. Ihr seien zudem bis zu 25 Jahre Freiheitsentzug angedroht worden." An die Grenze sei sie zudem mit einem Sack über dem Kopf gefahren worden. Ziel von Kolesnikowas juristischer Offensive dürfte sein, "die Unrechtmäßigkeit des Vorgehens des Regimes mit Blick auf eine mögliche spätere Aufarbeitung zu dokumentieren und Druck aufzubauen, auch in der Hoffnung auf Risse im Machtapparat", vermutet Schmidt.

Boris Johnson will einseitig das Irland-Arragement im Brexit-Vertrag rückgängig machen, den Vertrag mit der EU also brechen. Der irische Kolumnist Fintan O'Toole geißelt im Guardian Johnsons "schamlose Täuschung der englischen Wähler. Vielleicht mehr als jede Wahl  der jüngeren Geschichte wurde Johnsons Wahlkampf im Dezember auf ein einziges Thema und drei Worte reduziert: Get Brexit Done. Dies sollte durch die Wahl eines Parlaments erreicht werden, das absolut entschlossen war, das 'ofenfertige' und 'exzellente' Austrittsabkommen zu verabschieden. Es gab dabei immer eine Ebene der Heuchelei - das Austrittsabkommen  war nie das Ende von allem. Aber es ist jetzt klar, dass es eine viel tiefere und noch zynischere Ebene der Täuschung gab."

Martin Schulz soll Vorsitzender der "SPD-nahen" Friedrich-Ebert-Stiftung werden. In der Welt schaut sich Henryk M. Broder deshalb die parteinahen Stiftungen, die sich alle Bundestagsparteien leisten - seit 2018 auch die AfD - genauer an: "Weil sie für die Zukunft des Gemeinwesens, das demokratische Bewusstsein und das politische Engagement der Bürgerinnen und Bürger so ungemein wichtig sind, werden die politischen Stiftungen 'hauptsächlich durch Mittel des Bundesministeriums des Innern (BMI), des Auswärtigen Amtes (AA), des Bundesumweltministeriums (BMU), des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)' finanziert. Bei der 'CDU-nahen' Konrad-Adenauer- Stiftung zum Beispiel kommen die Einnahmen 'zu 99 Prozent aus öffentlichen Zuwendungen, zu 0,8 Prozent aus Teilnehmergebühren und anderen Einnahmen' und zu 0,2 Prozent aus Fondserträgen und Spenden. Unterm Strich geht es um gewaltige Summen. Allein im Jahre 2017 wurden die parteinahen Stiftungen von CDU, CSU, SPD, FDP, der Grünen und der Linken mit rund 581 Millionen Euro Staatsknete alimentiert, 27 Millionen mehr als ein Jahr davor. Inzwischen dürfte der Betrag noch höher sein. Von der Öffentlichkeit unbeobachtet haben die Parteistiftungen ein globales Netzwerk mit rund 300 Vertretungen und Tausenden von Mitarbeitern aufgebaut." Der AfD dürften demnächst nach einer Schätzung von 2018 (unser Resümee) 70 Millionen Euro jährlich zur Verfügung stehen.

Die Coronakrise macht die soziale Ungleichheit noch sichtbarer, schreibt der Politologe Christoph Butterwege in der FR: "Wie nie zuvor wurde erkennbar, dass ein großer Teil der Bevölkerung hierzulande nicht einmal für wenige Wochen ohne seine Regeleinkünfte auskommt. (…) Großunternehmen krisenresistenter Branchen wie Lebensmittel- und Versandhandel, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie realisierten hingegen Extraprofite. (…) Außerdem rutschten mehr Girokonten von Geringverdienern ins Minus. Deshalb mussten gerade die ärmsten Kontoinhaber hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen, wodurch die Besitzer von Banken ihr Vermögen gemehrt haben."

Nur mit dem Ende von Nordstream 2 zu drohen, reicht nicht - im Fall Nawalny ist der "worst case" ja schon eingetreten, schreibt der Osteuropa-Politologe Janis Kluge im Tagesspiegel. Er schlägt andere Formen der Sanktionierung vor: "Es bieten sich beispielsweise Finanzsanktionen oder die Listung russischer Offizieller an, weil sich diese - im Gegensatz zu Nord-Stream-2-Sanktionen - auch wieder rückgängig machen lassen. Nach einem Ende der Pipeline gäbe es für Moskau keinen Grund mehr, auf Forderungen Brüssels einzugehen."
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Geschichte

Bei allem guten Willen - der Denkmalstreit ist "geschichtsvergessen bis zum Gehtnichtmehr", meint der Schriftsteller Hans Christoph Buch in der NZZ. Bismarck stand beispielsweise "Kolonialbestrebungen skeptisch gegenüber, bevor Carl Peters und andere ihn durch getürkte Verträge mit afrikanischen Potentaten vor vollendete Tatsachen stellten. Bismarck sind, obwohl befangen in den Vorurteilen seiner Zeit, keine rassistischen Äußerungen nachweisbar (…) Was man Bismarck vorwerfen kann, ist die 1884/85 nach Berlin einberufene Kongo-Konferenz, auf der Afrika unter seiner Ägide wie ein Schokoladenkuchen aufgeteilt worden sein soll. Das stimmt so nicht, aber niemand macht sich die Mühe, die Protokolle der Konferenz nachzulesen, an der außer Europas Kolonialmächten die Vereinigten Staaten, Russland und das Osmanische Reich teilnahmen. Ich bin dieser niemand, und das Ergebnis der Nachprüfung ist widersprüchlicher, als es auf den ersten Blick erscheint."
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Ideen

Einige säkular gesinnte Autorinnen muslimischer Herkunft haben vor einiger Zeit einen offenen Brief an an die Parteivorsitzenden der Linken, der Grünen und der SPD gesandt. Als einzige hat  nach Monaten nur die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping geantwortet - und verteidigt den Begriff des "antimuslimischen Rassismus". Bei hpd.de begründen Naïla Chikhi, Monireh Kazemi und Fatma Keser noch einmal, warum sie genau diesen Begriff ablehnen: "Selbstverständlich sind Anfeindungen gegen Anhänger_innen jedweder Religion zu verurteilen - bei der Verfolgung christlicher Minderheiten in den sogenannten muslimischen Ländern etwa spricht jedoch zurecht niemand von 'antichristlichem Rassismus'! Dass ausgerechnet bezüglich der Ablehnung in Deutschland lebender Kurd_innen, Türk_innen, Syrer_innen, Iraner_innen, Nordafrikaner_innen et cetera diese Verbindung hergestellt und über Begriffe wie 'antimuslimischer Rassismus' gewissermaßen ex negativo eine panislamische Identität heraufbeschworen wird, sie also zu Muslim_innen zwangskollektiviert werden, scheint Frau Kipping nicht zu verstehen oder es stört sie nicht." Der ursprüngliche offene Brief ist bei hpd.de leider nicht verlinkt.

Arabische Denker werden nicht als "Repräsentanten einer bestimmten philosophischen Position wahrgenommen, sondern als Repräsentanten einer Kultur oder Religion", sagt der Schweizer Islamwissenschaftler Michael Frey, der gerade ein Buch über den libanesischen Gegenwartsphilosophen Nassif Nassar geschrieben hat, im SZ-Gespräch mit Sonia Zekri. Dabei gebe es einen "lebendigen akademischen Diskurs" in vielen arabischen Ländern. Nassar kritisiere beispielsweise den "Konfessionalismus" - im Libanon wird jedes hohe politische Spitzenamt von einer Konfession besetzt: "Diese Einschränkung verhindert das selbständige Denken im Sinne der Aufklärung. Ein auf die Partikulargemeinschaft bezogenes Denken ist nicht nur ein Problem des Nahen Ostens. Auch in Europa oder in den USA erleben wir eine Rückkehr solchen kulturessenzialistischen Denkens. Da können wir einiges von Nassar lernen. Wie äußert es sich? Reicht es, die Aufklärung zu mobilisieren, um diesem Denken entgegenzuwirken?"
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Medien

Sollte Julian Assange verurteilt werden, wäre "dies ein gefährlicher Präzendenzfall für die Maßregelung der freien Presse und der traurige Höhepunkt von Trumps Krieg gegen den Journalismus", schreibt die Theaterregisseurin Angela Richter, die in der Welt einen detaillierten Bericht des "kafkaesken" Prozesses veröffentlicht: "Im Gerichtsaal sind nur 5 Journalisten zugelassen, weitere 15 haben eine Akkreditierung für einen Videolink bekommen. Was unsinnig erscheint, denn digital könnte die Anzahl ja unbegrenzt sein, unabhängig von Corona. (…) Für weitere Irritationen sorgt am ersten Anhörungstag eine radikale Entscheidung der Richterin Vanessa Baraitser. Sie entzieht kurzerhand um die 40 Video-Akkreditierungen für Menschenrechtsorganisationen und NGOs, darunter Amnesty International und Reporter ohne Grenzen. Die Richterin begründet ihre Entscheidung damit, dass sie 'nicht kontrollieren könne, wie die Leute sich verhalten', die zu Hause auf dem Laptop zuschauen. Was sie da genau befürchtet, bleibt ein Rätsel."

"Es geht um die Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit", schreiben auch Sigmar Gabriel und Günter Wallraff im Tagesspiegel: "Die Arbeit von Wikileaks lässt sich nicht unterscheiden von der anderer Medien. Die Zusammenarbeit von Journalisten mit Informanten ist eine Selbstverständlichkeit. Es ist absurd anzunehmen, Journalisten würden darauf warten, bis ihnen brisantes Material zugespielt wird. Sie suchen nach Lecks, sie bohren nach. Es liegt in der Natur der Sache, auch an geheime Verschlusssachen zu gelangen, wenn gravierende Missstände und - wie im vorliegenden Fall - Kriegsverbrechen vorliegen, die durch die Filmausschnitte von Wikileaks dokumentiert und belegt wurden."
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