9punkt - Die Debattenrundschau

Wann wird es hier wie in Chabarowsk?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2020. Die Unzufriedenheit in Russland ist groß, und Alexei Nawalny war tatsächlich ein überaus lästiger Störfaktor für Putin konstatiert die FAZ. In diesen Tagen beginnt der Prozess gegen die Charlie-hebdo-Attentäter. France Inter porträtiert einige der Protagonisten und noch einmal die Opfer, etwa Mustapha Ourrad, den Korrekturleser der Zeitung. In der NZZ ist ist Daniele Muscionico überhaupt nicht wohl bei der Vorstellung, dass die Bildagentur Magnum ihr Archiv nach heutigen Vorstellungen von Korrektheit bereinigt. Und im Tagesspiegel wundert sich Christian Schröder nicht über die Späthippies bei den Anti-Corona-Demos: Deren Ideologie wurzelt im 19. Jahrhundert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.09.2020 finden Sie hier

Europa

In diesen Tagen beginnt, mehr als fünf Jahre nach den Ereignissen, der Prozess gegen die Charlie-hebdo-Attentäter. France Inter porträtiert in einer schönen Serie einige der Protagonisten des Prozesses, aber auch die Opfer, etwa Mustapha Ourrad, der für Charlie hebdo Korrektur las - und eine Biografie hat, wie sie nur in Frankreich vorkommt. Manchmal, schreibt Charlotte Piret, habe er, "ohne sich je ganz preiszugeben, von seiner harten Kindheit in dem Bergdort Aït Larbaa in der Kabylei erzählt, wo er 1954 geboren wurde. Als sehr junger Waise wurde er von einem Onkel aufgezogen und dann von den Weißen Brüdern aufgenommen, die in der Nähe des Dorfs eine Schule gegründet hatten und ihm die Bibliothek anvertrauen. Er entdeckt die französische Sprache und die Weltliteratur. Ein Donnerschlag. Rimbaud, Nietzsche, Dostojewski. Der ägyptische Schriftseller Albert Cossery wird einer seiner Lieblingsautoren. 'Mendiants et orgueilleux' (Deutsch: 'Gohar der Bettler', mehr in dieser FAZ-Rezension) wird sein Lieblingsbuch. Und Baudelaire. Vor allem Baudelaire. Früh kann er ganze Gedichte rezitieren. Und so bekommt er seinen Spitznamen: Mustapha Baudelaire."

Charlie hebdo selbst titelt diese Woche aber mit einem hochaktuellen Thema: "Schule fängt an. Werden sie das Jahr auch beenden?"


Alexej Nawalny ist wahrscheinlich in Tomsk vergiftet worden, 3.000 Kilometer östlich von Moskau, von wo er nach Hause zurückkehren wollte. In Tomsk, einer Universitätsstadt, ist er besonders populär, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. Und er hat eine Repräsentantin, Xenija Fadejewa, die dort für ihn Wahlkampf macht. Sie spricht mit Schmidt über die Stimmung in Tomsk: "Nichts, berichtet sie, mobilisiere so stark wie die Formel, sie sei 'gegen 'Einiges Russland''. Manche Leute fragten gar: 'Wann wird es hier wie in Chabarowsk?' Die Leute seien der alten Gesichter müde, die jüngste 'Fake-Abstimmung' über die Verfassungsreform, die Putin den Verbleib im Präsidentenamt bis 2036 ermöglicht, habe zusätzlichen Unmut geschürt."

Tayyip Erdogan hat nach der Hagia Sophia nun auch noch die aus dem sechsten Jahrhundert stammende Chora-Kirche in eine Moschee umgewandelt, notiert Bülent Mumay in seiner zuverlässig zornigen FAZ-Kolumne. Gegen die Wirtschaftskrise hilft das allerdings nicht: "Die Auslandsverschuldung übersteigt 430 Milliarden Dollar, während das Wohlstandsniveau in den letzten drei Jahren um 25 Prozent sank. 2017 lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei zehntausend Dollar, jetzt ist es auf wenig mehr als siebentausend Dollar gefallen. Den Statistiken für den Monat Juni zufolge nahm die Zahl der Firmenschließungen um 35 Prozent zu. Täglich werden etliche tausend Menschen arbeitslos."

Der deutsch-polnische Autor Artur Becker zitiert in einer FR-Kolumne Boguslaw Chrabota, den Chfredakteur der Rzeczpospolita, der die polnische Regierung als "Plüschautoritarismus" definiert: Der Begriff solle "das System der vollständigen Kontrolle des Staates durch die Partei zusammenfassen, aber es ist gleichzeitig ein System ohne Massenrepressionen, ohne Überlastung der Opposition, ohne Unterdrückung der Minderheiten, und das alles geschieht, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten es mit einer vollständigen Demokratie zu tun, zumal sie durch eine Mehrheit der Wähler legitimiert worden ist."
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Politik

So radikal national, wie Japans Premierminister Shinzo Abe bei seinem Amtsantritt versprochen hatte, ist Japan doch nicht geworden, diagnostiziert Sebastian Maslow, Dozent für Internationale Beziehungen in Japan, nach dem Rücktritt Abes in der NZZ: "Innenpolitisch ist die Bilanz durchwachsen. Als geschickter Wahlkämpfer vermochte Abe nach Jahren kurzlebiger Regierungen seine konservative Liberaldemokratische Partei fest an der Macht zu etablieren und die politische Opposition nachhaltig zu schwächen. Obwohl er den verteidigungspolitischen Kurswechsel als politischen Imperativ konservativer Politik deklarierte, gelang es Abe auch nach intensiven politischen Debatten und trotz erdrückenden parlamentarischen Mehrheiten jedoch nicht, die Verfassung von 1947 mit dem Kriegsverzichtsartikel 9 als Kern des Nachkriegspazifismus zu revidieren."
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Stichwörter: Japan, Abe, Shinzo

Medien

Die Bildagentur Magnum hat aus ihrem Archiv historische Fotos entfernt (oder sie gesperrt), die heute als "unangemessen" gelten könnten. Dazu gehören Fotos von Prostituierten, aber offenbar auch generell von Menschen, die den "kolonialen Blick der weißen westlichen Vorherrschaft dokumentierten", wie es der afroamerikanische Historiker John Edwin Mason beschreibt, der beauftragt war, das Archiv des National Geographic Magazine zu säubern. In der NZZ ist Daniele Muscionico gar nicht wohl bei diesem Umgang mit Bildern, der eher auf Zensur als auf Erklärung und Kontextualisierung - und eine Überprüfung der Stichworte zu den Bildern! - setzt: "Ein Beispiel von vielen, wohl aber das schillerndste ist der Brasilianer Sebastião Salgado, der letztes Jahr als erster Fotograf überhaupt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Seine Überwältigungsästhetik, mit der er menschliches Leiden darstellt, kann als Versuch gelten, die Würde der Ärmsten zum Ausdruck zu bringen. Mit demselben Recht kann man Salgados Bilder aber auch menschenverachtend nennen. Das Elend von Menschen, ausgestellt in einem Museum, befriedigt gegebenenfalls den Voyeurismus."

Der Medienjournalist Holger Kreymeier hat sich auf Youtube kritisch mit einem Beitrag von Radio Bremen befasst und hat dafür aus dem Beitrag zitiert. Dafür wird er jetzt von Radio Bremen belangt, mit der Begründung, er habe das Urheberrecht verletzt. Das Zitatrecht in Deutschland ist viel zu restriktiv, kommentiert Leonhard Dobusch bei Netzpolitik: "Wie das Beispiel des Kreymeier-Videos zeigt, ist damit aber auch automatisch eine starke stilistische Einschränkung für kritische Auseinandersetzung mit audiovisuellen Werken verbunden. Gerade bei Videokommentaren ist es fast unmöglich, die kritisierten Werke nicht zum Teil auch 'schmückend' zu verwenden."
Archiv: Medien

Ideen

Die Kuppel stand früher für die Herrschaft von König und Kirche, bis sie auf dem Reichstag zum Symbol für das Parlament wurde und damit in direkter Konkurrenz zur Schlosskuppel stand, die den "absoluten Herrschaftsanspruch" der Monarchie repräsentierte, erinnert Gerhard Matzig in der SZ. Doch daran wollten sich auch viele Feuilletonisten nicht erinnern, als Norman Foster dem Reichstag wieder eine Kuppel aufsetzte. "Die Kuppel stehe, hieß es, für den Machtanspruch jenseits des Volkes. Die Rede war von 'Neuteutonia' (Berlin) und einer heimlichen Sehnsucht nach den Emblemen tradierter Machtgefüge. Man befürchtete, dass ein kuppelbekröntes Haus sich letztlich gegen das Volk richten würde. Diese Befürchtung war Unfug. Es ist aber bemerkenswert, dass nun umgekehrt jene, die sich für das Volk halten und meinen, im Namen der Demokratie unterwegs zu sein, ihre Destruktion gegen ein Haus gelebter Demokratie richten. Corona-Leugnung und Kaiser-Ansichten im Namen einer zu verteidigenden Volksherrschaft: Hand in Hand. Die Melange wird immer bizarrer."

So manch einer wunderte sich über die bunte, politisch keineswegs eindeutige Mischung der Demonstranten vom Wochenende. Aber neu ist das eigentlich nicht, meint Christian Schröder im Tagesspiegel: "Die Verbindung von Esoterik, Verschwörungstheorien und Rechtsextremismus, wie sie sich bei der von der Initiative Querdenken 711 veranstalteten Berliner Corona-Demonstration zeigte, hat eine lange Tradition. Sie reicht mindestens ins 19. Jahrhundert zurück, im Kern handelt es sich bei dem ideologischen Amalgam um eine Gegenbewegung zur Moderne und ihren Zumutungen. Dabei flossen Heilserwartungen und Fortschrittsskepsis ineinander, immer schon ging es um alternative Wahrheiten. Auf komplizierte Fragen mussten einfache Antworten gefunden werden. Manchmal wurden sie auch von Toten gegeben, die bei spiritistischen Sitzungen zu reden begannen."
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