9punkt - Die Debattenrundschau

Die Identitätsmarker der gegnerischen Seite

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2020. Vor fünf Jahren sagte Angela Merkel: "Wir schaffen das." Der Guardian gratuliert. "Auch Schüler haben das Recht, vor demonstrativer Zurschaustellung von Religiosität geschützt zu werden", schreiben säkulare Muslime gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das das Kopftuch für Lehrerinnen nun auch in Berlin erlaubt. Die Bürgerrechtlerin Rabab Kamal erklärt in der NZZ, warum Trennung von Religion und Staat so wichtig ist. Die Demo der CoronaleugnerInnen am Samstag sorgt für Kopfzerbrechen: Seltsame Mischung. Und der Mindestabstand wird nicht mal zu Rechtsextremisten eingehalten. In der FAZ schreibt Viktor Jerofejew zärtlich und traurig über Belarus und Russland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.08.2020 finden Sie hier

Europa

Vor fünf Jahren sagte Angela Merkel "Wir schaffen das". Philip Oltermann gratuliert im Guardian: "Mehr als 10.000 Menschen, die seit 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, beherrschen die Sprache gut genug, um sich an einer deutschen Universität einzuschreiben. Mehr als die Hälfte der Ankömmlinge sind berufstätig und zahlen Steuern. Unter den Flüchtlingskindern und -jugendlichen geben mehr als 80 Prozent an, dass sie ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu ihren deutschen Schulen haben und sich von Gleichaltrigen gemocht fühlen."

Fast deprimiert, aber auch zärtlich schreibt Viktor Jerofejew in der FAZ über die belarussischen Proteste, von denen er sich wünschte, dass sie in Russland ankämen: Aber "bei uns hat die Sowjetmacht die Menschen stärker traumatisiert als in Belarus. Immerhin gehörte bis 1939 ein bedeutender Teil von West-Belarus zu Europa. Wir aber haben normale menschliche Werte 1917 eingebüßt, und unseren Großvätern und Vätern hat man die Vorstellung von Ehre und Würde ausgetrieben. Wir waren sowjetische Sklaven - und das ist keine Metapher."

Die Behauptung, die Proteste in Belarus seien grundsätzlich anders als die der Ukraine, weil sie sich nicht gegen Russland richteten, hält Richard Herzinger in seinem Blog für eine fromme Lüge: "Keine Frage, zwischen der Lage in Belarus und der Ukraine gibt es große Unterschiede. Aber diese verblassen doch hinter der großen gemeinsamen Sache, die beide Länder eint: Ihr Kampf für elementare Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie und Unabhängigkeit. Und das gemeinsame Hauptproblem beider Völker ist das neoimperiale Geheimdienst- und Mafia-Regime im Kreml, das mit praktizierter und angedrohter Gewalt verhindert, dass Belarussen und Ukrainer diese für Europäer im 21. Jahrhundert selbstverständlichen Ziele in Frieden und Freiheit verwirklichen können."

Außerdem: Im Standard fragt die ungarische Autorin Krisztina Tóth: "Sagt uns das vielbeschworene Wort 'Europa' noch etwas?"
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Gesellschaft

Während deutsche Journalisten die Zulassung des Kopftuchs bei Lehrerinnen im Unterricht feiern, kämpft in Kairo die Bürgerrechtlerin Rabab Kamal für einen säkularen Staat. Als junge Frau stand sie den Muslimschwestern nahe, erzählt sie im Interview mit der NZZ. Heute fordert sie eine Trennung von Staat und Religion: "Sie habe gar nichts gegen Religion, sei selbst ein spiritueller Mensch, betont Rabab Kamal. Es gebe 4.500 Glaubensrichtungen auf der Welt, jeder solle frei sein, einer anzugehören oder nicht. 'Doch Religion sollte etwas Persönliches zwischen einem Menschen und Gott sein. Sobald Religion in die Gesetzgebung einfließt, haben wir ein großes Problem.' Die ägyptische Verfassung basiert auf der Scharia, dem religiösen Gesetz. Daraus erwachsen vor allem den Frauen und Minderheiten Nachteile. Rabab Kamal, die sich sonst vorsichtig ausdrückt, greift zu heftigeren Worten: 'Eine männlich chauvinistische Kultur hat Religion in eine männlich chauvinistische Religion verwandelt.'"

Die "Initiative Säkularer Islam", der unter anderen Necla Kelek, Ahmad Mansour, Hamed-Abdel Samad oder Ahmad Mansour angehören, protestiert gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das Lehrerinnen nun auch in Berlin das Kopftuch gestattet (unsere Resümees). Es im Namen der Religionsfreiheit zu begrüßen, greife zu kurz, heißt es in einer per Mail verschickten Erklärung: "Zum Artikel 4 des Grundgesetzes gehört auch die negative Religionsfreiheit, das heißt, frei von Religion zu sein. Auch Schüler haben mithin das Recht, in der Schule unter anderem vor demonstrativer Zurschaustellung von Religiosität geschützt zu werden. Grundrechte können nicht gegeneinander ausgespielt, aber doch gegeneinander abgewogen werden. Der aktuelle Streit Infektionsschutz der Bevölkerung versus Versammlungsrecht illustriert dies ja ausreichend... Die Grundrechte sind ein persönliches Gut, aber sie zu schützen ist auch Auftrag staatlichen Handelns. Aus diesem Grund wurde nach Artikel 7.1. des Grundgesetzes das Schulwesen unter die Aufsicht des Staates gestellt. Dies soll gewährleisten, dass in der Schule nicht nur Wissen und Bildung vermittelt werden, sondern Kinder freiheitliche und demokratische Haltungen und Einstellungen einüben können."

Bei emma.de findet sich eine ähnliche Erklärung der "Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz" (mehr hier), in der es heißt: "In zunehmendem Maße werden muslimische Schüler*innen von Mitschüler*innen, aber auch aus Moscheen heraus, unter Druck gesetzt, das Kopftuch zu tragen oder andere religiös motivierte Verhaltensvorgaben (etwa Einhaltung der Fastenvorschriften) zu befolgen. Ein solcher Druck würde sich durch eine religiöse Bekleidung der Lehrkräfte erhöhen."

Irgendwie beunruhigt schreibt Theresa Bäuerlein über die Tatsache, dass unter den Coronaleugnern bei der Berliner Demo am Samstag eine Menge Leute rumliefen, die gar nicht aussahen wie Nazis, sondern eher wie die Späthippies, die sie aus dem Bioladen und ihren Yoga-Kursen kennt: "Auf der Suche nach Antworten bin ich immerhin auf einen Begriff gestoßen, der mir sehr geholfen hat, das Problem beim Namen zu nennen: Conspirituality. Es setzt sich aus den englischen Worten 'Conspiracy' (Verschwörung) und 'Spirituality' (Spiritualität ) zusammen und beschreibt ein Phänomen, das es nicht erst seit Corona gibt. Wie bei vielen Erscheinungen unserer Zeit war es auch hier das Internet, das alles verstärkt hat." Dann wäre der übliche Verdächtige ja wieder verhaftet!

Welt-Autor Thomas Schmid hatte dagegen einen eher diffusen Eindruck: "Daraus wird wohl keine kraftvolle Bewegung hervorgehen. Das Unbehagen, das hier in die Öffentlichkeit Berlins getragen wird, ist viel zu unspezifisch, auch ziellos. Doch so komisch das alles im Einzelnen auch wirkt, eine Tendenz ist klar erkennbar. Eine Tendenz ins Autoritäre, Rabiate. Wie schon bei der Demonstration am 1. August machen die Teilnehmer aus der 'bürgerlichen Mitte' keinerlei Versuche, rechtsradikale und verschwörungstheoretische Plakate und Parolen zu unterbinden."

Auch Klaus Hillenbrand beobachtet in der taz: "Die Bandbreite an Vorbildern reichte dabei von Mahatma Gandhi bis zu Adolf Hitler. Und so paradox es ist, es gibt Gemeinsamkeiten. Eine davon ist die Ignoranz gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, eine andere der Hang zur Vermutung einer Verschwörung gegen ein als per se als gut bezeichnetes Volk, die dritte schließlich der zur Schau getragene Hass auf Andersdenkende."

Eins aber war klar und deutlich: Bei den Demonstranten hatte kaum jemand das Bedürfnis, sich von der extremen Rechten abzusetzen, beobachtet Frank Jansen im Tagesspiegel: "Der Versuch, die Bundesregierung als Nazi-Diktatur zu delegitimieren, scheint bei vielen Demonstranten Konsens zu sein. Ein Mann zeigt ein Schild mit der Aufschrift 'Verbrecher Hitler ließ Deutschland untergehen. Merkel lässt Deutschland untergehen'. Erstaunlich gelassen reagieren die Neonazis in der Menge. Drei junge Kerle, auf den schwarzen T-Shirts steht 'Division Erzgebirge', ignorieren, dass ihr Idol ein Verbrecher genannt wird. Wichtiger ist offenkundig, von der Masse nicht als unerwünscht ausgegrenzt zu werden. Rechtsextremisten sind Mainstream auf der Friedrichstraße."

"Ich gendere nicht, ich möchte nicht gegendert werden, gerade weil ich weiß, wie Diskriminierung sich anfühlt", erklärt die Schriftstellerin Nele Pollatschek im Tagesspiegel, die dennoch die meisten Argumente gegen das Gendern für falsch hält. "Im Grunde gibt es nur ein einzig wirklich gutes Argument gegen das Gendern: Es ist leider sexistisch. Ich sage leider, denn Menschen, die Gendern, sind grundsympathisch. Wer gendert, tut das in der Regel, um auf sprachliche und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Gendern ist eine sexistische Praxis, deren Ziel es ist, Sexismus zu bekämpfen."
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Politik

Für den Politologen Jan-Werner Müller steht Donald Trump in den USA für das Ende einer Bewegung, die bei den Republikanern mit Ronald Reagan begann: "Anders als Reagan", schreibt er in der SZ, "ist man gar nicht mehr daran interessiert, eine breite Koalition verschiedener Interessen zu schmieden oder auch nur Bürger außerhalb des Trump-Kultes mit irgendwelchen nicht kulturkriegerischen Inhalten zu erreichen. Man hofft als radikale Minderheit auf Tricks und auf die Absonderlichkeiten des Wahlsystems. Etwa auf die Übergewichtung der Stimmen von Bürgern auf dem Land. Oder auf das Wahlmännergremium: Das Electoral College kann, wie 2016 geschehen, einen Verlierer (bei der Gesamtzahl der Stimmen) trotzdem an die Macht bringen."
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Medien

Noch mal davongekommen, seufzt Jochen Hieber in der FAZ angesichts der nun für Herbst geplanten Neuausrichtung von hr2 Kultur, dessen im vergangenen Jahr angedrohte Komplettumstrukturierung zum reinen Klassik-Dudelradio nach erheblichen Protesten nun doch nicht stattfindet: "Viele Hörer dürften den Unterschied zum jetzigen Sendeschema und Sendeablauf kaum oder gar nicht bemerken", schreibt Hieber, denn "der Hauptteil der Reform ist - wir kritisieren dies keineswegs - reine Verbalkosmetik. ... Von der im Sommer 2019 angedrohten 'Klassikwelle' ist lediglich ein trotzig bekundeter Klangrest geblieben." Unter dem Strich werden vorsichtig ein paar Inhalte gestrichen, die Musik im wesentlichen auf Klassik umgestellt und ein paar beliebte Sendeformate umbenannt.
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Stichwörter: Hr2 Kultur

Ideen

Die Öffentlichkeit zerfällt in Blasen, die zunehmend verschwörerischer erscheinen und sich gegeneinander und gegen Erkenntnis durch Hass absichern, sowohl links in der Linken, als auch in der Rechten. Mark Siemons empfiehlt in der FAS zur Wiederherstellung der Gesprächsfähigkeit eine Art intellektuelles Judo, in dem man sich der Begriffe einer irrationalen Schule bedient und sie durchdekliniert, bis ihre Absurdität erwiesen ist: "Der Clou einer solchen Verwirrung stiftenden Diskurs-Guerilla, die sich die Identitätsmarker der gegnerischen Seite zu eigen macht und damit deren Abschottungskraft neutralisiert, ist nicht, dass sie eine besonders abgefeimte Taktik der Überrumpelung eines Gegners ist. Sondern dass sie den Weg freiräumt, um überhaupt wieder auf eine rationale Ebene der Auseinandersetzung zu kommen - deren Standards sich dann auch die eigene Position stellen muss." Als Einübung in diese Disziplin empfiehlt Siemons das Buch "Cynical Theories", in dem sich Helen Pluckrose und James Lindsay geduldig durch die Theorien der heute modischen akademischen Linken arbeiten.

Der erstarkende Populismus zeigt vor allem eins: das westliche Parteiensystem wandelt sich, meint in der NZZ der Historiker Jan Gerber. Die Populisten, oft weder links noch rechts (oder eher noch: beides), könnten "Prototypen der politischen Organisationen der Zukunft" sein. "Ihre flachen Hierarchien, die programmatische Unverbindlichkeit und ihre Dynamiken entsprechen der Lebensrealität der meisten Menschen inzwischen weitaus stärker als die schwerfälligen Traditionsparteien. Eine Antwort auf die neuen sozialen Fragen ist von ihnen darum kaum zu erwarten. Denn auch wenn sie die Verwerfungen der Gegenwart gelegentlich thematisieren, sind sie vor allem eine Kopie dieser Gegenwart. Eine Rückkehr zu den Sicherheiten der Moderne mit den aufgeregten Mitteln der Postmoderne ist unwahrscheinlich."
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