9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Art sowjetischer Stabilität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2020. Kann man eine Frau sein, obwohl man ein Mann ist? (Und umgekehrt?) Marianne erklärt, warum einige französische Lesben daran denken "nicht gemischte lesbische Räume" zu schaffen. Hanno Rauterberg fordert in der Zeit ein "autonomes Museum für Kolonialismus".  Die NZZ erzählt, was das Washingtoner Nationalmuseum für afroamerikanische Kultur und Geschichte unter "Whiteness" versteht. Atlantic staunt über  das Ausmaß russischer Einflussnahme bei den amerikanischen Wahlen 2016. Die taz porträtiert Alexander Lukaschenko, und libmod.de fordert Neuwahlen in Weißrussland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.08.2020 finden Sie hier

Europa

Barbara Oertel verfasst für die taz ein ausführliches Porträt über Alexander Lukaschenko: "Der belarussische Politikwissenschaftler Waleri Karbalewitsch, der eine Biografie über Lukaschenko verfasst hat, nennt zwei Faktoren, um den Aufstieg und die Langlebigkeit des autoritären Regimes in Belarus zu erklären. Es seien Lukaschenkos unstillbarer Machthunger und die Sehnsucht der belarussischen Gesellschaft nach einer Art sowjetischer Stabilität. Letztere bedient der Präsident, in dem er die sowjetische Staatswirtschaft in einen staatlich dirigierten Kapitalismus überführt: Mehr als 80 Prozent aller Betriebe befinden sich in Staatsbesitz."

Dass die EU die belarussischen Wahlen nicht anerkennt, ist heute Aufmacher etwa in der FAZ. Ralf Fücks und Marieluise Beck fordern bei libmod.de mehr: "Es springt zu kurz, lediglich eine 'Überprüfung' der Wahl zu fordern, wie es die Bundesregierung angekündigt hat. Dafür gibt es keine belastbare Grundlage. Eine legitime politische Autorität kann nur aus einer Wiederholung der Präsidentschaftswahl und einer anschließenden Neuwahl des Parlaments hervorgehen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) muss gewährleisten, dass die Wahlen frei und fair verlaufen. Dafür sollte sich die EU stark machen."

In Zeit online (und vielen anderen Medien) außerdem die Meldung, dass der Putin-Kritiker Alexej Nawalny offenbar vergiftet worden ist: "Nawalny sei bewusstlos und befinde sich auf der Intensivstation, schrieb dessen Sprecherin Kira Jarmisch auf Twitter. 'Ich bin sicher, dass er absichtlich vergiftet wurde', sagte Jarmisch dem Radiosender Echo Moswky."

Wie konnte es  in osteuropäischen Ländern nach den Demokratiebewegungen von 1989 zur Herausbildung autokratischer Regimes kommen, fragt der Politologe Vedran Dzihic in der NZZ, und nennt die Globalisierung und die Finanzkrise als Faktoren. Nun beschreibt er die Lage so: "Das Zeitalter der Demokratisierung seit 1989 ist von einer sehr viel pluraleren und offeneren Ära der offenen Konkurrenz zwischen Demokratien und Autokratien abgelöst worden. Die nähere Zukunft Europas wird von diesem Ringen geprägt sein. Eine Wendung zum Guten wird von der Fähigkeit und Bereitschaft der EU abhängen, ihr gesamtes politisches Kapital in die Verteidigung der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft zu werfen."
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Medien

Die deutschen Zeitungen können sich künftig als subventioniert bezeichnen. 220 Millionen Euro sollen sie in ihrer Not bekommen, hat der Haushaltsausschuss des Bundestags entschieden. Die Zeitungen möchten gern, dass der Geldsegen offiziell als Vertriebsförderung gilt, weil sie den Boten zuvor nicht so gern den Mindestlohn zahlten, berichtet Steffen Grimberg in der taz: "Doch hier mag der Bund bislang nicht mitziehen. Man könne doch kein überkommenes Geschäftsmodell künstlich am Leben halten, heißt es hinter nur mäßig vorgehaltener Hand im Wirtschaftsministerium. Deswegen ist neben der Zustellförderung ausdrücklich auch von der 'digitalen Transformation des Verlagswesens' die Rede. Was die Verlagswesen als unfreundliche Einmischung begreifen."
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Ideen

Der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard analysiert in der Zeit, wie das Denken des Poststrukturalismus in das des Postkolonialismus und der Gender Studies überging. Die entscheidenden Autorinnen sind für ihn Gayatri Chakravorty Spivak und Judith Butler. Aus einem Denken der Differenz wurde dabei - und dies auch im vergröberten Sprech der heute modischen Linken - eines der Identität, das eigentümlich geschichtslos sei: "Ein Argumentationsgestus, der im Namen der gender und postcolonial studies häufig sichtbar wird, ist die Auffassung, dass die Kulturerzeugnisse aus den unterschiedlichsten Epochen mit den ethischen Maßstäben der Gegenwart bewertet werden müssen. Als sexistisch oder rassistisch ausgemachte Gehalte von Kunstgebilden scheinen die Jahrhunderte unverwandelt zu überdauern."
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Politik

Der Bericht des Geheimdienstausschusses des amerikanischen Senats über die russische Einflussnahme bei den amerikanischen Wahlen 2016 (unser Resümee) hat in den hiesigen Medien kaum Interesse ausgelöst. Dabei belegt er diese Einflussnahme viel deutlicher als der Bericht von Robert Mueller, schreibt Franklin Foer in Atlantic. Vor allem beleuchtet der Bericht die Rolle des russischen Agenten Konstantin Kilimnik: "Er stellt fest, dass Manafort und Kilimnik während der Kampagne fast täglich miteinander sprachen. Sie kommunizierten über verschlüsselte Technologien, die so eingestellt waren, dass ihre Korrespondenz automatisch gelöscht wurde; sie sprachen unter Verwendung von Codewörtern und teilten sich den Zugang zu einem E-Mail-Konto. Es lohnt sich, bei diesen Fakten eine Pause einzulegen: Der Vorsitzende der Trump-Kampagne stand täglich mit einem russischen Agenten in Kontakt und teilte ihm ständig vertrauliche Informationen mit. Das allein reicht schon für einen der schlimmsten Skandale der amerikanischen Politikgeschichte."

Die gigantische Explosion in Beirut brachte auch den heuchlerischen Pakt zum Einsturz, der seit dem Ende des Bürgerkriegs über das Land herrschte, schreibt die Autorin und Kuratorin Rasha Salti in der Zeit. Und es gab nur einen einzigen Profiteur dieses Paktes: "Seit Michel Aoun 2016 zum Präsidenten der Republik ernannt wurde, hat Hisbollah faktisch ihre Kontrolle über die legislativen und exekutiven Staatsorgane ausgedehnt und ihre Anhänger auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung untergebracht. Die Katastrophe geschah deshalb unter ihrer Aufsicht. Auch wenn keine Beweise dafür gefunden oder veröffentlicht werden, dass die Lagerhalle 12 ein Waffendepot von Hisbollah war, sieht der Teil der libanesischen Bevölkerung, den sie weder repräsentiert noch überzeugt, in Halle 12 eine Inkarnation ihres militärischen Arsenals und der Zwangslage, in die sie das Land versetzt."

"Donald Trump ist keine 'Anomalie innerhalb des politischen Systems der USA'", lernt Wolf Lepenies, der für die Welt mehrere Bücher des amerikanischen Historikers Richard Hofstadter gelesen hat. "Sein erratisches Verhalten lässt sich Milieus und Mentalitäten zuordnen, die für lange Phasen der amerikanischen Geschichte prägend waren. ... Keinem seiner Vorgänger fühlt sich Donald Trump näher als Andrew Jackson, dem siebten Präsidenten der USA (1829 bis1837), einem 'Bully', der als der erste Populist im Weißen Haus bezeichnet wird. Jacksons 'Abneigung gegen Spezialisten und Experten' nahm Richard Hofstadter zum Ausgangspunkt seiner Geschichte des 'Anti-Intellektualismus' in Amerika. Während der sogenannten Jacksonian Democracy wurde der Elitestatus der juristischen und medizinischen Professionen drastisch reduziert: Richter wurden nicht mehr von Kollegialorganen ernannt, sondern vom Volk gewählt, formale Kriterien für ihre Ausbildung wurden weitgehend abgeschafft. Ähnliches galt für Mediziner, denen Laien, die sogenannten 'herb and rootdoctors', gleichberechtigt an die Seite gestellt wurden. All dies entsprach der Überzeugung, dass zum Wesen der Demokratie nicht die Führung des Gemeinwesens durch Profis, sondern das 'government by the common man' gehört." (Wer dazu gern mehr lesen würde: Hier ein Aufsatz von Hofstadter in Harper's über die Tradition "paranoider" Politik in den USA.)
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Kulturpolitik

Hanno Rauteberg fordert in der Zeit ein "autonomes Museum für Kolonialismus": "Anders als die gewaltigen Protestmärsche der jüngsten Zeit, geeint im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung, käme es ohne spektakulären Gesten aus. Statt Denkmale zu stürzen, könnte es die historische Wahrheit in ihrer ganzen Verwickeltheit darlegen - und damit erst die ungemein tiefen kolonialen Spuren sichtbar machen, die sich bis in den Alltag der Gegenwart ziehen."
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Gesellschaft

Sehr ausführlich berichtet Hadrien Mathoux bei Marianne über die scharfen Auseinandersetzungen zwischen eher klassischen Feministinnen und "nicht-binären" oder "Transpersonen", die lieber von "Personen, die menstruieren", sprechen, um nicht Transfrauen auszuschließen, das heißt Frauen, die zwar Männerkörper haben, sich aber als Frau definieren. "Die Spannungen kristallisieren sich bei bestimmten Themen. Einige für den Artikel befragte Aktivistinnen erklären bereits, 'nicht gemischte lesbische Räume' schaffen zu wollen, weil sie sich 'nicht sicher fühlen', wenn Transfrauen, die einen Männerkörper haben, anwesend sind. Einige Gesprächspartnerinnen malen uns eine nachgerade barocke Szenerie aus: Personen mit dem Körper eines Mannes, sexuell von Frauen angezogen, begeben sich in lesbische Treffen und behaupten, keine Cis-Männer zu sein, sondern homosexuelle Transfrauen! Ihre Avancen zurückzuweisen, weil sie einen Penis haben, wäre darum... Transphobie." Transakvisten bezweifeln allerdings, dass sich solche Szenen jemals abgespielt haben.

Auch der Transmann und Buchautor Linus Giese insistiert im Gespräch mit Stefan Hochgesand von der taz: Man ist, was man angibt zu sein. "Es gibt kaum trans Männer in der Öffentlichkeit, die noch nicht operiert sind. Balian Buschbaum legt in seinem Buch Wert darauf, dass er all diese OPs brauchte, um ein richtiger Mann zu werden. Ich betone eher, dass nicht jeder das alles unbedingt braucht. Ich habe auch jetzt schon das Recht zu sagen: Ich bin ein Mann - und ich möchte so akzeptiert werden."

Das Washingtoner Nationalmuseum für afroamerikanische Kultur und Geschichte (NMAAHC) präsentierte eine Zeitlang eine inzwischen zurückgezogene Grafik, in der es darstellt, was "Whiteness" sei: Barbiepuppen-Ästhetik, Pünktlichkeit, christliche Werte und eine Vorliebe für fade Kartoffeln und Steaks. Die Grafik wurde nach Kritik zurückgezogen, für Marc Neumann in der NZZ offenbart sie selbst ein rassistisches Denken, das heute weit verbreitet sei. Er schließt sich einer Deutung Ross Douthats in der New York Times an, der diesen Diskurs gerade mit dem Machtverlust der amerikanischen weißen Mittelklasse erklärt: "Lange Zeit waren meritokratische Mantras sowohl zu Hause als auch an den Universitäten Teil eines Pakts: Protestantische Arbeitsethik, das Streben nach Perfektion und Sekundärtugenden garantierten eine gute Ausbildung und früher oder später eine komfortable Jobsituation, Eigenheim und Familie. Solche Szenarien sind mittlerweile für die von der großen Rezession geplagten Generationen von Millennials und Gen Z ziemlich unrealistisch geworden." Hier die jetzige Seite des Museums über "Whiteness".
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