9punkt - Die Debattenrundschau

Empiriekontakte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2020. Die taz erzählt, wie die weißrussische Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowska unter Druck gesetzt wurde und nach Litauen fliehen musste - sollte es Sanktionen geben? Zwei Artikel befassen sich mit der Debatte über den Zustand der Debatte: Kritik muss man aushalten können, schreibt Deniz Yücel in der Welt. Und auch, dass die Realität die eigenen schönen Theorien falsifiziert, notiert Bernhard Pörksen in der NZZ. In der FAZ schildert der Videokünstler Akram Zaatari die ausweglose Lage im Libanon.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.08.2020 finden Sie hier

Europa

Am Montag wollte die weißrussische Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowska in der Wahlbehörde  Beschwerde gegen die Wahlen einlegen, berichtet Berhard Clasen in der taz. Aber "nicht Beamte der Wahlkommission, sondern des Geheimdienstes sprachen mit ihr. Und die waren offensichtlich überzeugend. Denn nach einem dreistündigen Gespräch verließ Tichanowska das Gebäude, sagte den Wartenden nur: 'Ich habe eine Entscheidung getroffen', und verschwand in unbekannte Richtung. Am nächsten Morgen meldete Linas Linkevicius, Außenminister von Litauen, per Twitter, Swetlana Tichanowska sei in Litauen eingetroffen." Sergei Tichanowski, ihr Mann und ursprünglich Kandidat, ist im Gefängnis und somit die Geisel Alexander Lukaschenkos, so Clasen.

Barbara Oertel fordert ebenfalls in der taz Sanktionen der EU: "Gegner westlicher Sanktionen befürchten zu Recht, dass Strafmaßnahmen Lukaschenko weiter in die Arme Moskaus treiben könnten. Doch am Rockzipfel und Tropf des Kremls hängt er sowieso schon. Seine geschwächte Position, die auch der Ausgang der Wahl nicht kaschieren kann, böte Moskau jetzt die Chance, den Unionsvertrag aus dem Jahr 1999 zwischen beiden Staaten durchzusetzen und den Nachbarn einfach einzugemeinden. Und dann wäre ein unabhängiges Belarus nur noch eine Fußnote der Geschichte." David Gilbert berichtet bei Vice außerdem über Ermittlungen der Netzaktivistengruppe "NetBlocks", die zeigen, dass das weißrussische Internet nicht etwa wegen Hackerattacken zum Erliegen kam, wie das Regime behauptet, sondern durch eine langfristig geplante Aktion der Regierung.

In Deutschland ist zwar eine religiöse Neutralität des Staates festgeschrieben, aber Kirchen und Staat sind vielfältig ineinander verflochten, unter anderem durch die Kirchensteuer, die "Staatsleistungen" und das Riesengewicht der kirchlichen Sozialkonzerne Caritas und Diakonisches Werk mit ihrem eigenen Arbeitsrecht. Der Medienmacher Helmut Ortner plädiert bei den Salonkolumnisten dafür, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen, "inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsgelder. Es muss Schluss damit sein, dass Bischofsgehälter aus dem allgemeinen Steuertopf bezahlt werden, dass die Kirchen das Arbeitsrecht aushebeln können, dass schwerstkranken Menschen das Recht verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben."
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Gesellschaft

Erst wird links skandalisiert, dann rechts der Tugendterror kritisiert, dann geht es wieder andersherum. Das ist keine Art zu debattieren, meint Deniz Yücel in der Welt. Er sieht eine Menge Gratismut, aber auch Gratisangst bei den Streitenden: "Die Empörung könnte sich gar nicht als Dauerzustand festsetzen,wenn sie nicht auf das Unvermögen von Institutionen aller Art stoßen würde, Empörung und Kritik auszuhalten. Den wenigsten gelingt es, sich nicht treiben zu lassen und zu unterscheiden, wo die Empörung berechtigt ist, was einer Erwiderung bedarf, was es wert ist, eine Diskussion zu organisieren und was man einfach mal stehen lassen kann. Alle, selbst kulturindustrielle Betriebe, die mit der Ware Kritik (oder einem Abklatsch) handeln, möchten den eigenen Laden unbefleckt von Diskussionen wissen - und reagieren umso kopfloser, sobald sich mehr als ein Dutzend Leute im Internet aufregen."

Und noch ein Artikel zur Debatte über die Debatte. Losgelassene Intellektuelle à  la Giorgio Agamben, die sich von einer Epidemie wie Corona nicht einfach ihre schönen Theorien über die "Biopolitik" kaputtmachen lassen, bekommen nun ihre Quittung von der Realität, notiert der Medienkritiker Bernhard Pörksen in der NZZ: "Jetzt kommt es, gewollt oder ungewollt, zu Empiriekontakten, werden gerade aktuelle Forschungsergebnisse zu Ansteckungswegen und Mortalitätsraten allerorten diskutiert. Alle schauen jetzt, getrieben von eigenen Fragen und Ängsten, genauer hin, zentrieren sich um ein einziges Thema. Regierungseffizienz und Regierungsversagen lassen sich unmittelbar vergleichen. Und man erkennt die Selbstdemontage der Leugner und Bullshitter."

Ausgerechnet in Afrika, wo sich die Klimaerwärmung am schlimmsten bemerkbar macht, können Umweltaktivisten kaum mit Unterstützung rechnen, erzählt Jonathan Fischer in der SZ. In den westlichen Medien kommen nur weiße Klimaschützer zu Wort und in Afrika wittern die Leute oft eine westliche Verschwörung hinter den Forderungen nach mehr Klimaschutz, erzählt Fischer der malische Klimaaktivist Fousseny Traoré: "'Die Alten klauen uns unsere Zukunft', sagt Traore, 'aber wenn wir sie ansprechen, sagen sie uns: Du bist jung, du musst dich unterordnen.' Gerade weil die Altershierarchien in Afrika so erdrückend seien, sei er froh 'um die Ehrlichkeit und Respektlosigkeit unserer Schwester Greta'." Aber auch international gebe es wenig Unterstützung: "'Wir jungen afrikanischen Umweltaktivisten', sagt Traoré, 'kämpfen denselben Kampf wie unsere Brüder und Schwestern im Westen, aber wer gibt uns eine Bühne? Wer lädt uns zu den großen internationalen Gipfeln ein?'"
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Politik

Im Interview mit der FAZ schildert ein verzweifelter Akram Zaatari, Videokünstler und Kurator, die Folgen der schrecklichen Explosion in Beirut. Wer kann dieses Land noch retten? Die Hisbollah? Bloß nicht, ruft er. Die internationale Gemeinschaft? Er hofft es, glaubt aber nicht daran: "Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich der internationalen Gemeinschaft sagen soll: Helft mir, mein Staat bringt mich um? Meine Angst ist, dass genau das auch in Syrien geschehen ist - aber Assad ist noch immer da. Auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft fehlt das Vertrauen, was mit ihrem Scheitern im Irak und Syrien zu tun hat. Emmanuel Macron kam und hat uns indirekt alle ermutigt, auf die Straße zu gehen, indem er hier war. Wird er uns in einem Monat betrügen, nachdem sie Hunderte umgebracht haben? Es ist sehr einfach, alle zum Schweigen zu bringen."
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Medien

Daniel Lücking, Redakteur des Neuen Deutschland, hat in einem Tweet kritisch über einen Artikel der Welt geschrieben. Dafür hat er den Artikel fotografiert und das Foto in den Tweet eingefügt, wie es heute angesichts nicht online stehender Artikel häufiger gehandhabt wird. Darauf hat sich der Chefredakteur der Welt am Sonntag, Johannes Boie, persönlich eingeschaltet, und Lücking aufgefordert, das Foto wegen Urheberrechtsverletzung zu entfernen, berichtet Markus Reuter bei Netzpolitik: "Dem kam Lücking nach eigener Aussage acht Minuten später nach - er entfernte den Tweet mit dem Foto des Artikels. Eine Abmahnung bekam Lücking dann am 5. August trotzdem, er sollte eine strafbewehrte Unterlassungserklärung unterschreiben und 864,66 Euro bezahlen. Außerdem bezifferte die Welt am Sonntag einen Schadenersatzanspruch in Höhe von 600 Euro."
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Wissenschaft

Die FAZ hatte nachgewiesen, dass die renommierte Soziologin Cornelia Koppetsch in einigen ihrer Bücher Zitate nicht ausgewiesen und als eigene Erkenntnisse dargestelt hat (unsere Resümees). Die TU Darmstadt hat daraufhin ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, dem ein sehr strenges Urteil folgte - sehr zur Feude von Jochen Zenthöfer in der FAZ: "Noch nie konnte man in Deutschland eine solch deutliche Distanzierung einer Hochschulkommission von den Forschungsmethoden einer aktiven Geisteswissenschaftlerin lesen. Nichts bleibt übrig vom viel kritisierten Korpsgeist, der innerhalb von Hochschulen zu Schweigen verpflichtet. Dass Koppetsch gegen 'die gute wissenschaftliche Praxis verstoßen' hat, ist noch eine milde Feststellung, verglichen mit der Attestierung einer 'durchgehend verfehlten Arbeitsweise'."
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Stichwörter: Koppetsch, Cornelia, Plagiate