9punkt - Die Debattenrundschau

Vom Gossenhaften entfernt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2020. Die Mbembe-Debatte scheint mehr oder weniger gelaufen, aber nun ist eine Debatte über angebliche Sprechverbote draus geworden, die vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, verkörpert würden. Die offenen Briefe fliegen nur so hin und hier - wir teilen das Papiermeer. Der Guardian  berichtet über das Blasphemiegesetz in Pakistan, ein Monument der religiösen Heuchelei, das immer mehr Opfer fordert. Can Dündar fürchtet in Zeit online, dass Erdogan nach der Umwidmung der Hagia Sophia noch weitere populistische Taten plant. Als er Ende der Sechziger entdeckte, dass er anders war, entdeckte er nicht, dass er queer war, schreibt Jan Feddersen in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.07.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

"Angst war der gewöhnliche Zustand", schreibt Jan Feddersen in der taz über seine Jugend Ende des Sechziger, als er entdeckte, dass er schwul war - als einziger in seinem Milieu. Schwul, nicht fluid. Und auch nicht queer: "'Queer' wäre damals als Wort keinesfalls besser gewesen. 'Queer' klingt parfümiert, uneigentlich. Sprachbereinigt insofern, als in 'queer' etwas verloren geht: das für die meisten heterosexuell orientierten Menschen Faszinierende, Drohende. 'Schwul' sind Leute, die die Nazis tausendfach töteten und die das deutsche Tätervolk gern an die Gestapo verpetzte. 'Queer' hingegen klingt geschmackvoll, ja, kulturell und programmatisch vom Gossenhaften entfernt."

Vollbeschäftigung bei der Post: Nach der Mbembe-Debatte rauschen die offenen Briefe nur noch so hin und her. Aus der Debatte wurde inzwischen eine Debatte darüber, was man zu Israel angeblich sagen darf und was angeblich nicht. Erst jüngst wieder veröffentlichten sechzig Intellektuelle einen Brief (darunter Jan und Aleida Assmann, der Politologe Johano Strasser, der ehemalige Verleger Michael Krüger, der Historiker Moshe Zimmermann und die Autoren Ingo Schulze und Sten Nadolny) an Angela Merkel mit der Bitte, in einen Streit zwischen zwei Autoren einzugreifen. Nebenbei wird nochmals der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung, Felix Klein, attackiert. Über den Brief berichtete die Süddeutsche, im Tagesspiegel der Wortlaut als pdf-Dokument. Nun spricht der Zentralrat der Juden in Deutschland Klein sein Vertrauen aus (hier als pdf-Dokument): "Die jüdische Gemeinde ist  der Regierungskoalition sehr dankbar, dass sie nach der vergangenen Bundestagswahl einen Bundesbeauftragten... berufen hat. Felix Klein füllt dieses Amt mit hoher Sachkompetenz, Empathie und Engagement aus." Bei den Ruhrbaronen erscheint ein Gegenbrief zum Brief der Intellektuellen: "Seit Jahren beobachten wir, dass die 'Kritik' an dem Handeln der israelischen Regierung als Vorwand genommen wird, judenfeindliche Ressentiments zu äußern." Mehr zu der Debatte bei den Ruhrbaronen (hier) und in Mena Watch (hier).

In den Kontext diese Debatte gehört auch das Buch "Streitfall Antisemitismus" des ehemaligen Antisemitismusforschers Wolfgang Benz, das bereits die Mbembe-Debatte aufgreift und eine Inflationierung des Antisemitismusvorurfs aus politischen Interessen beklagt. Hier gehe es "um die Desavouierung einer Kritik des Antisemitismus, die auch seine linken, bürgerlichen und muslimischen Spielarten einschließt, als 'Kampagne' oder 'politisch angetriebener denunziatorischer Aktionismus'", schreibt Alex Feuerherdt in Mena Watch.
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Politik

Nicht erst im Mittelmeer, schon auf den Routen dahin kommen Tausende Flüchtlinge um, berichten Christian Jakob und Simone Schlindwein in der taz unter Bezug auf einen Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Die Flüchtlinge werden auf den alten Sklavenrouten von Schleusern, aber auch Sicherheitskräften misshandelt: "Die Migrationsexperten betonen, dass ihre neuen Erkenntnisse nur einen Bruchteil der Realität auf den afrikanischen Migrationsrouten abbilden. Die meiste Zeit, führt Meera Sethi von der IOM aus, hätten Migranten kaum Zugang zu Kommunikationsmitteln. Wenn sie irgendwo verschwinden, bleibe es oft unbemerkt; die Todesursache hinterher festzustellen, sei schwierig. 'Wir glauben, dass die Zahl der Toten viel größer ist. Viele Tote werden begraben, ohne dass sie identifiziert und registriert wurden.'"Den Bericht kann man hier herunterladen.

Religiöse Heuchelei hat in Pakistan extrem fanatische Züge angenommen und manifestiert sich vor allem im Blasphemiegesetz des Landes. Gerade ist erst wieder ein Angeklagter, Tahir Ahmed Naseem, im Gerichtssaal ermordet worden, berichten Shah Meer Baloch und Emma Graham-Harrison im Guardian: "Blasphemie ist in Pakistan eine extrem riskante Anklage, eine Straftat, bei der Todesstrafe droht und die manchmal für persönliche Rechnungen benutzt wird. Für das Justizsystem ist sie äußerst heikel zu handhaben. Bloße Anschuldigungen haben zu Gewalttätigkeiten des Pöbels und zu Lynchmorden geführt. Die Richter unterer Instanzen fühlen sich aus Angst um ihr Leben nicht in der Lage, die Angeklagten freizusprechen, selbst ein Richter des Obersten Gerichtshofs hat sich von einem Prozess 2016 zurückgezogen. Obwohl der Staat noch nie jemanden aufgrund von Blasphemiegesetzen hingerichtet hat, sitzen mindestens 17 Angeklagte in Todeszellen, und viele andere müssen wegen solcher Klagen lebenslange Gefängnisstrafen absitzen." In der Arte-Mediathek ist zur Zeit eine Dokumentation zum Thema zu sehen.

Vor einigen Wochen warf Alan Posener in der Welt deutschen Linken vor, sie ließen sich "nur allzu gern von Omri Boehm sagen, die Tatsache, dass ihre Vorfahren die Endlösung der Judenfrage in Europa betrieben haben, dürfe sie nicht daran hindern, die Endlösung der Israelfrage gegebenenfalls gegen die überwältigende Mehrheit der Israelis zu betreiben." Falsch, antwortet Boehm heute tief getroffen in der Welt: Zum einen werde seine Idee eines binationalen israelischen Staates von der jungen Generation linker Israelis befürwortet, zum anderen gebe es nicht mal eine große jüdische Mehrheit, schreibt er: "Es heißt manchmal, dass Israels Bevölkerung zu etwa 76 Prozent aus Juden und zu 24 Prozent aus Arabern bestehe. Diese Zahlen sind falsch. Sie kommen zustande, indem richtigerweise alle Juden in Israel und dem Westjordanland gezählt werden - doch dann werden 2,9 Millionen Palästinenser abgezogen. Nimmt man als Grundlage stattdessen Israels offizielle Karten - die auch das Zentralbüro für Statistik verwendet - und zählt alle Einwohner im entsprechenden Gebiet, kommt man auf etwa 53 Prozent Juden und 47 Prozent Palästinenser.
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Europa

Mit der Umwandlung der Hagia Sophia (Unsere Resümees) hat Erdogan die letzte "liberale Schminke", die er jahrelang trug, abgewischt und ist am Ende seiner islamistischen Politik angekommen, schreibt Can Dündar auf Zeit Online: Sogar die Opposition schreckte vor Protesten gegen den Beschluss zurück: "Selbst die von Atatürk gegründete sozialdemokratische Republikanische Volkspartei CHP war außerstande, für Lausanne und Laizismus einzutreten und ließ den Abgeordneten, die der Einladung zum Gebet folgen wollten, ihren Willen. In laizistischen Kreisen löste diese Erstarrung der Opposition ernsthafte Besorgnis aus, Erdogan dagegen bestärkte sie umso mehr. Manche Dissidenten meinen zwar, die Hagia Sophia sei sein letztes Pulver gewesen, viele andere aber befürchten nun eine Reihe weiterer Schritte. Einer davon könnte die Rücknahme der Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sein. Ein anderer die Abschaltung der sozialen Medien. Wetten laufen auf die Errichtung eines Einkaufszentrums im Gezi-Park, an dem sich vor sieben Jahren ein großer Protest entzündete und auf die Ausrufung des Kalifats."

Noch herrscht in Polen keine "offizielle Zensur", aber Polens Politik ist ein "einziger Horrorfilm voller Angst", schreibt der Gazeta Wyborcza Journalist Witold Mrozek in der Berliner Zeitung: "Die Regierung wiederholt immer wieder, dass die Welt die 'polnische Stimme' vernehmen muss. Doch alle Versuche, diese Stimme hörbar zu machen, scheitern auf groteske Weise. Der rechte Flügel versteht die digitale, populäre Medienwirklichkeit nicht. Seit Jahren versucht Polens Regierung einen Blockbuster, einen Hollywood-Film über Polens Geschichte zu lancieren - doch es will ihr nicht gelingen. Zugleich weiß die Regierung sehr genau, wie sie der liberalen Kultur schaden kann. In Zukunft könnte sich die polnische Kulturpolitik genau darauf konzentrieren - auf die Zerstörung liberaler Strukturen." Hoffnung setzt er in die jungen Polen: "In der Zwischenzeit passiert das wirkliche Leben woanders. Bei Netflix, in den sozialen Medien. Kritische Dokumentationen über Pädophile in der Kirche entstehen und Romane mit schwuler Geschichtsschreibung."

Beim letzten europäischen Gipfel wurden zwar Milliarden locker gemacht, aber irgendwie hat das Schauspiel dazu keine guten Kritiken gekriegt. Nun nehmen die Feuilletonchefs von FAZ und Repubblica, Jürgen Kaube und Maurizio Molinari, die Sache in der Hand und veröffentlichen in der FAZ einen gemeinsamen Aufruf: "Da der letzte EU-Rat und die Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten von Uneinigkeit zeugen, ist es an uns zu demonstrieren, worum es geht: Das Wiederankurbeln unserer Wirtschaft muss ein gemeinsames Unterfangen sein. Ein Scheitern wird nur denen in die Hände spielen, die den Zusammenbruch Europas wollen: den Populisten von innen und den strategischen Rivalen von außen." Die Lösung der Angelegenheit besteht in der "gegenseitigen Übersetzung von Artikeln der 'Goethe-Vigoni-Gespräche'". Und es gibt auch schon einen großen Artikel des ÖVP-Politikers Franz Fischler: "Es sieht ganz danach aus, als müsste uns die Angst tief in den Knochen sitzen, damit nationale Egos und persönliche Eitelkeiten politischer Führungsfiguren überwunden werden, um die Dinge zu verbessern."
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Ideen

135 Euro zahlt man derzeit in Frankreich, wenn man ohne Mundschutz zum Bäcker geht - und die Franzosen üben sich in Gehorsam, weiß Joseph Haniman in der SZ. Nun regt sich aber Widerspruch unter Frankreichs Intellektuellen - allen voran von Bernard-Henri Levy, der in seinem neuen Buch "Ce virus qui rend fou" (Dieses Virus, das uns alle verrückt macht) schreibt, die individuelle Freiheit sei im Kampf gegen das Virus geopfert worden, zudem müsse "zwischen potenziell verlorenen Leben durch die Epidemie und solchen durch den gesellschaftlichen Stillstand" abgewogen werden. Hanimann atmet auf, dass die Philosophen wieder zu gesellschaftskritischen Fragen zurückfinden, aber dass der sonst so "unerbittliche" Levy Populisten das Wort spreche, wundert ihn dann doch: "BHL war zwar nie prinzipiell gegen die sanitären Sicherheitsmaßnahmen, liefert aber Argumente für die Anhänger von individuellem Eigensinn, Obrigkeitsaversion und diversen Verschwörungstheorien. Dabei teilt Bernard-Henri Lévy in alle Richtungen aus. Seine Kritik gilt auch den Weltverbesserern von ganz links und ganz rechts, die in der Pandemie die rettende Krise für unsere zwischen Neoliberalismus und allgemeiner Grenzschließung zaudernden Gesellschaft sähen und, 'sich auf die Schultern der Corona-Toten schwingend', verkünden, sie hätten ja schon immer gewusst, wo das Problem liege."

In der FAZ verteidigt der Philosoph Michael Wolff nochmals Immanuel Kant gegen den Vorwurf des Rassismus. Auch der Reisende Georg Forster könne ihm nicht entgegengehalten (unser Resümee) werden, denn bei Forster habe es Kant "mit einem Kritiker tun, der die Urbevölkerung Afrikas für eine selbständige Gattung hielt und Kants Hauptsatz von der Einheit der Menschengattung bestritt".
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