9punkt - Die Debattenrundschau

Die eigenen Befangenheiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2020. In der NZZ gibt der Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler eine wunderbare Definition von Identitätspolitik, die wir gleich hier mitteilen: "Identitätspolitik, von rechts oder links, ist die Idiotenantwort auf die Störung einer eingebildeten Eindeutigkeit." In der FAZ spricht Bernhard Schlink über Amerika als ein Land der radikalen Krisen. Der Tagesspiegel fragt, ob Ägypten seinen Rassismus aufarbeitet. In der taz will Ilija Trojanow den 3-D-Drucker einsetzen, um neuen Denkmäler zu schaffen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.07.2020 finden Sie hier

Ideen

In der NZZ plädiert der Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler angesichts der Pandemie und ihrer Folgen Orwells "Über Nationalismus" zu lesen, um sich gegen Übertreibungen und Hysterie zu wappnen, die oft aus Angst vor dem Uneindeutigen entstünden: "Orwell entwickelt einen unkonventionellen Nationalismus-Begriff; er spricht von Nationalismus in allen Fällen, in denen sich ein Kollektiv imaginiert, das relativ deutliche Zugehörigkeitskriterien formuliert und sich vermittels dieser nach außen abgrenzt. Genau das ist heute Identitätspolitik. Identitätspolitik, von rechts oder links, ist die Idiotenantwort auf die Störung einer eingebildeten Eindeutigkeit, das ausgrenzende Abstellen und Fixieren auf vermeintlich eindeutige, fixe Besonderheiten statt auf die Universalität des Menschseins. Orwell empfiehlt in seinem Essay: Selbstreflexion, Selbsthinterfragung, Selbstaufklärung. Also nicht das Abstreifen der Denkschwächen und Kurzschlüsse, das vermöge der Mensch nicht, aber Bewusstmachung der eigenen Befangenheiten und Irrationalitäten. Das ist etwas ganz anderes als die Bewusstmachung der möglichen ethischen Aufladungen jedes zu tuenden Schritts. Es setzt bei den eigenen Grenzen an, nicht bei denen der Welt. Es ist machbarer. Es ist Selbstaufklärung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit."

Im Interview mit der FR versucht der Philosoph Markus Gabriel zu erklären, was es mit seinem neuen Buch "Fiktionen" auf sich hat. So viel wird immerhin klar: Philosophen sollen künftig mehr mitreden, wenn es um das Leben mit Corona geht. "Wir haben geglaubt, dass das gute Leben in Wirtschaftswachstum besteht. Das war das ökonomische Welt- und Menschenbild, das nun einmal mehr durch die Tatsachen zertrümmert wurde. Wir müssen jetzt eine neuartige Vision eines guten Lebens entwickeln, und im Zentrum der Vision kann philosophisch nur der Geist stehen, das heißt die Erkenntnis unserer Selbst, dass wir freie, geistige, autonome Lebewesen sind, die durch keine Prognose und keine Statistik hinreichend kontrolliert und manipuliert werden können."

Nochmal in der NZZ wendet sich die Sprachwissenschaftlerin Ewa Trutkowski gegen eine gegenderte Sprache. Das sei erstens unpraktikabel und zweitens: "Was in den Köpfen ist, muss nicht unbedingt in der Sprache sein, und andersherum - sonst könnten nur Sprecher des Deutschen verstehen, was 'Schadenfreude' bedeutet, weil anderen das Wort dafür fehlt, und Länder mit genuslosen Sprachen, wie zum Beispiel die Türkei oder Ungarn, wären bei der Geschlechtergerechtigkeit am weitesten vorgedrungen - beides ist nicht zutreffend."
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Medien

Johanna Christner hat für die FAZ einige freie Journalisten getroffen. Die Coronakrise hat sie doppelt getroffen, wegen der Krise der Medien und der eigenen Situation - Statistiken bestätigen das: "Einer Umfrage des Deutschen Journalisten-Verbands zufolge ist der monatliche Durchschnittsgewinn von 2.470 Euro auf einen Erlös von nur 780 Euro gesunken. Die Zahl freier Journalisten, die Verluste schreiben, liege bei den 287 Befragten bei rund fünfzig Prozent. Wegen der Betreuung ihrer Kinder könnten 32 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer nur in eingeschränktem Maß arbeiten. Ein Drittel der befragten Freien gab an, dass es keine neuen Einsätze oder Aufträge mehr für sie gebe."
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Politik

Krisen von Ländern haben etwas sehr Spezifisches, sagt der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink, der den Aufstieg Trumps beim Wahlkampf 2016 miterlebte, im Interview mit Sandra Kegel in der FAZ: "In Deutschland und Europa gab es den Staat vor der Demokratie, während Amerika die Demokratie vor dem Staat hatte. Daher ist in Amerika der Staat in einer Weise Beute der Mehrheit, wie das bei uns nicht oder nur unter Verletzung der Verfassung möglich ist. Wie Trump über staatliche Einrichtungen verfügt, sie verändert, korrumpiert und zerschlägt, ist besonders drastisch und zerstörerisch und bleibt hoffentlich eine Ausnahme. Aber die Bemächtigung des Staates durch den Sieger, das radikale Wegräumen, Austauschen, Verändern nach einem Wechsel der Mehrheit hat es in Amerika immer wieder gegeben."

Forderungen, der Polizei die Mittel zu streichen, Straßengewalt oder das Plündern von Geschäften - das alles spielt Donald Trump in die Hände, der gerade dabei ist, die Situation in den USA mit dem Einsatz von nicht gekennzeichnetem Miliär eskalieren zu lassen, fürchtet Thomas Friedman in der New York Times. Er empfiehlt statt dessen, sich an Ekrem Imamoglu zu halten, den neuen liberalen Bürgermeister Istanbuls, der 2019 die Wahl gewann, "obwohl der illiberale Erdogan jeden denkbaren schmutzigen Trick gebraucht hat, um die Wahl zu stehlen. Imamoglus Strategie wurde als 'radikale Liebe' bezeichnet. Radikale Liebe bedeutete, sich an die traditionellen und religiösen Erdogan-Anhänger zu wenden, ihnen zuzuhören, ihnen Respekt zu erweisen und zu zeigen, dass sie nicht 'der Feind' sind - dass Erdogan der Feind ist, weil er ein Feind von Einheit und gegenseitigem Respekt ist, und dass es ohne sie keinen Fortschritt geben könne."
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Gesellschaft

In Ägypten ist Rassismus kein Thema, bemerkt Andrea Nüsse im Tagesspiegel. Dabei gäbe es da einiges aufzuarbeiten, wie zumindest die Generation bemerkt habe, die für einen arabischen Frühling stand: "Ägypter waren in Schwarzafrika als Sklavenjäger bekannt. ... Und in Ägypten wie anderswo in der Region ist der alltägliche Rassismus gegen Schwarze bis heute ausgeprägt. Der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi sieht in dem historisch tief verwurzelten Rassismus die Ursache für die allgemeine  Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, Anderslebenden, Andersaussehenden: 'Diese Art von Rassismus hat in der arabischen Welt den Nährboden bereitet für die Herausbildung einer aggressiv-ablehnenden Grundhaltung gegenüber allem, was von der herrschenden Norm oder dem als 'natürlich' Empfundenen abweicht.'

Sind die Grünen, die nicht so schlechte Chancen haben, das Land demnächst mitzuregieren, bereit, ihr Verhältnis zu wissenschaftlicher Erkenntnis zu verändern? Noch ist esoterisches Denken recht stark, und so hat die Parteiführung etwa das Thema Homöopathie, das ihr peinlich ist, begraben. Sie hätte auch anders agieren können, findet Ludger Wess bei den Salonkolumnisten: "Sie hätte die Gelegenheit nutzen können, der Frage nachzugehen, warum die Homöopathie, die nicht über den Plazeboeffekt hinaus wirkt (auch dies ein überwältigender Konsens in der Wissenschaft), dennoch so beliebt ist. Davon ausgehend hätte sie darüber debattieren können, was sich daraus für eine Reform von Medizin und Gesundheitswesen lernen lässt: mehr zuhörende und sprechende Medizin etwa und ein Gesundheitswesen, das die psychischen Komponenten von Krankheiten, zumal chronischen, ernster nimmt." Selbst beim Thema Atomausstieg hofft Wess auf ein Umdenken der Grünen.
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Geschichte

Erklärende Tafeln neben Denkmälern, die, oft von der Öffentlichkeit kaum noch reflektiert, krassen Militarismus oder die Unterdrückung von Demokratiebewegungen feieren, reichen nicht aus, meint der Publizist und Autor Ilija Trojanow in der taz: "Was in einem Museum ein Leichtes wäre, funktioniert im öffentlichen Raum kaum. Solange unsere Denkmäler versteinerter Ausdruck von Geschichtlichkeit bleiben, können sie keine andere soziale Funktion erfüllen, als die Selbstgerechtigkeit von Macht zu dokumentieren. (...) Das Störende an den Denkmälern ist die Hybris ihrer vermeintlichen Unvergänglichkeit. Geschichte aber ist ein sich wandelndes Narrativ. Wir sollten lieber provisorische Denkmäler errichten, was technisch durch den 3-D-Druck leicht zu verwirklichen wäre, anhand von Vorschlägen, die aus Diskussionen in Vereinen, Gemeinderäten oder Klubs von lokalhistorisch Interessierten erwachsen."
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Europa

Der Prozess gegen den Attentäter von Halle hat begonnen. Konrad Litschko war für die taz dabei: "Und nun starren sie alle auf Stephan Balliet, der von vermummten Polizisten mit Hand- und Fußfesseln in den Saal geführt wird. Der ansetzt, seinen Hass noch einmal auszubreiten. 'Die Juden sind die Hauptursache am weißen Genozid', ätzt er auch vor Gericht. Teilt gegen Muslime aus, die Deutschland 'erobern' würden. Beklagt, dass man sich in Deutschland nicht mehr frei äußern könne. Für die Nebenkläger ist es kaum erträglich, sie verfolgen es konsterniert."

Man sollte die Ergebnisse des EU-Gipfels nicht nur als die eines "Geschachers" sehen, findet Welt-Autor Thomas Schmid (nicht dagegen Eric Bonse in der taz). Dass die EU erstmals gemeinsam Schulden aufnimmt, so Schmid, verändert das Verhältnis der Länder zueinander. Und "zum ersten Mal ist die Vergabe von EU-Geldern an die Bedingung der Rechtsstaatlichkeit geknüpft, wenn auch noch lose. Immerhin: Eine qualifizierte Zwei-Drittel-Mehrheit im Europäischen Rat kann zukünftig den Hahn der Transferpipeline zudrehen."

In der SZ ist Stefan Kornelius enttäuscht vom Verhalten der "Rechtsstaats-Ignoranten und der "Gruppe der national-populistischen Erziehungsbeauftragten, ... die am Ende so viel Rabatte einstreichen und Binnenmarkt-Profit erwarten dürfen, dass sie sich ihren Namen redlich erworben haben. Ihre Gemeinschaftspädagogik hängt dabei schmerzlich schief. In Brüssel wurde kein Almosenpaket für darbende Südstaaten verhandelt, sondern der Überlebensplan der EU und ihres Binnenmarktes nach der Pandemie-Zäsur und im Schatten einer sich neu formierenden Weltordnung." Bei politico.eu fassen Laura Greenhalgh und Lili Bayer die Ergebnisse des Gipfels übersichtlich zusammen.   

Die Autorin Jana Hensel, die in der Zeit gern für die Ossis spricht (und die Tradition der DDR-Apologie in dieser Zeitung fortführt) hatte vor einigen Wochen ein Gespräch mit dem DDR-Oppositionellen Klaus Wolfram geführt, der ein Anhänger eines "Dritten Weges" war und die DDR gern sozialistisch gehalten hätte. In dem Gespräch mit Hensel hat er glatt dahingesagt: "Die SED wurde doch nicht von der Berliner Umweltbibliothek aufgelöst, sondern von den eigenen Genossen." Auf das Interview antwortet in dem Blog globkult.de der DDR-Oppositionelle Werner Schulz, der Wolfram unter anderem vorwirft, dass er nach der Wende zu jenen gehörte, die das Hauptinteresse der Diskussion nach der Wende auf das Thema Stasi lenkte: "Die Stasi wurde zum Buhmann und Blitzableiter, damit sich die Partei und ihre Funktionäre als die Hauptverantwortlichen für all die Verbrechen und den Staatsbankrott klammheimlich aus dem Staub machen konnten. Heute versuchen sie ihre katastrophalen Hinterlassenschaften als 'Nachwendeschäden' und Folgen der Vereinigung und Transformation darzustellen. Die SED wurde nicht von ihren Genossen aufgelöst, wie Wolfram behauptet, sondern wegen der Rettung ihres Vermögens wurde genau das verhindert. Diese Partei, die sich heute nach mehrfacher Umbenennung als Die Linke bezeichnet, ist die Rechtsnachfolgerin der SED."

Der Geheimdienstausschuss des britischen Parlaments hat einen Bericht zur russischen Einflussnahme beim Brexit veröffentlicht - und stellt schlicht fest, dass es darüber von der Regierung keine Angaben gibt. Selbst wenn man die russische Einflussnahme nicht überbewerten will, fragt Jonathan Lis im Guardian: "Warum hat die Regierung weggeschaut? Nun ja, da war sie einfach konsequent. Das Referendum wurde in mehrfacher Hinsicht kompromittiert. Manches, wie zum der Vorwurf ungesetzlicher Finanzierung, betraf Gesetze. Anderes, wie die nackten Fake News, die von Vote Leave veröffentlicht wurden, grundlegende Fairness. Und doch entschied die britische Regierung schon früh, aus welchen Gründen auch immer, dass Brexit der Wille des Volkes sei, und das war's." Hier der ausführliche Bericht des Guardian zum Bericht.
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