9punkt - Die Debattenrundschau

Optimistisches Kribbeln

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.07.2020. "Hongkong ist wieder Kolonie", titelt die taz, diesmal allerdings nicht der Briten. Netzpolitik liest das Pekinger Sicherheitsgesetz, das der Demokratiebewegung ein Ende bereiten will. Claus Leggewie sinniert in der FR am Beispiel des Politikers Woodrow Wilson über die "schmerzhafte Dissonanz" zwischen Universalismus und Rassismus, die er beide verkörperte. In der NZZ kritisiert Wolfgang Kraushaar Otto Schily und Hans-Christian Ströbele für ihr Schweigen über den einstigen Genossen Horst Mahler.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.07.2020 finden Sie hier

Politik

"Hongkong wieder Kolonie", titelt die taz. Allerdings nicht der Briten! Korrepondent Sven Hansen schreibt: "Am lokalen Parlament vorbei wurde der Stadt ein Gesetz übergestülpt, das Chinas Regierung auch künftig nach Gutdünken die Aushebelung der Hongkong bis 2047 zugesagten Autonomie erlaubt und pekingkritische Gruppen direkt bedroht. Beunruhigend ist dabei nicht nur der obskure Inhalt des Gesetzes, sondern auch die intransparente Art seiner Verabschiedung. Es wurde nicht einmal mehr versucht, den Anschein eines demokratischen Verfahrens zu erwecken."

Markus Reuter hat das neue Sicherheitsgesetz (hier als pdf-Dokument) für Netzpolitik gelesen, und was er berichtet, klingt grauenhaft: "Unter den Straftatbestand Terrorismus können auch schon 'Vandalismus' oder 'Aufruhr', vergleichbar mit Landfriedensbruch, fallen. Eine Einmischung von außen kann schon darstellen, wenn Aktivist:innen in Zukunft einen Appell an internationale Regierungen richten. Die Definitionen sind so weit gefasst, dass eine Anwendung des Gesetzes gegen alle möglichen Formen von demokratischem Protest und Dissidenz möglich sein wird. Darüber hinaus legt das Gesetz fest, dass Peking über die Interpretation des Gesetzes entscheidet: kein Gericht in Hongkong darf es überprüfen."
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Gesellschaft

In den Diskussionen über Schlachthöfe als Corona-Hotspots  wird meist über die unwürdigen Arbeitsbedingungen gesprochen. Aber Corona ist auch eine Katastrophe für den Tierschutz, schreibt Hella Camargo bei hpd.de - schon wird diskutiert, Tiere, die wegen der Schließung der Schlachthöfe nicht geschlachtet werden können, zu töten und die Kadaver wegzuwerfen. Schon vorher hatte die Krise gravierende Auswirkungen: "Da Kalbfleisch vor allem in Restaurants nachgefragt wird, die während der Pandemie geschlossen waren oder nur ein verringertes Angebot zur Abholung anboten, blieben die Züchter und Milchbetriebe, in denen männliche Kälber überflüssig und auch weibliche Kälber teilweise überzählig sind, auf den Tieren sitzen. Im Mai kostete ein schwarzbuntes Bullenkalb gerade einmal 36 Euro, da lohnt es sich nicht, Futter und veterinärmedizinische Versorgung, Einstreu und weiteres zu zahlen."
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Ideen

Die Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin Natasha A. Kelly hält es in der taz für abwegig, den Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz zu streichen und kritisiert, dass dieser Vorschlag mal wieder von Weißen gemacht wurde: "Den Vorteil, den wir Schwarzen Sozialwissenschaftler*innen gegenüber den Jurist*innen haben, ist, dass wir das englischsprachige Wort race verwenden, was beispielsweise ermöglicht hat, Alltagsrassismus auf der sozialen Ebene (Wohnungs- und Arbeitsmarkt) zu untersuchen. Damit konnten wir die hier deutlich gewordene Problematik umgehen. Während dem englischen Begriff eine soziale Definition zugrunde liegt, bleibt der deutsche Begriff in seinem historisch-biologistischen Entstehungskontext verhaftet, was letztendlich zur Forderung der Grünen geführt hat." Dann hätten also gerade jene Länder, die die Sklaverei am intensivsten betrieben haben, wenigstens einen fortschrittlichen Begriff von "Rasse"?!

Tilgt man das Wort "Rasse" aus dem Grundgesetz, bleiben immer noch die transnationalen Diskriminierungsverbote wegen der "Rasse" - in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, in der Grundrechtscharta der EU oder der Europäischen Menschenrechtskonvention, erinnert in der SZ Andreas Zielcke, der die bislang vorgebrachten Gründe für eine Streichung des Begriffs ziemlich "unterbelichtet" findet: Es sei keineswegs eindeutig, "dass der deutsche Verfassungsgeber 1949 den inhumanen NS-Gehalt von 'Rasse' übersehen und damit dem Gleichheitssatz einen unheilbaren Makel aufgebürdet hat. Ist es nicht mindestens ebenso plausibel, dass die parlamentarischen Autoren seinerzeit den alten Wortlaut 'Rasse' bewusst übernommen haben, um ihn gegen seine historisch-barbarische Intention in Stellung zu bringen? Das semantische NS-Erbe also mit seinem eigenen Terminus zu schlagen? Schließlich lässt die Stoßrichtung des Art. 3 an antirassistischer Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig. Es gibt, soweit ersichtlich, kein höchstgerichtliches Urteil, das den Antirassismus des Art. 3 nicht begriffen hätte."

Außerdem: Auf Zeit online diagnostiziert Georg Seeßlen eine "Allgegenwärtigkeit des Rassismus" hierzulande und fragt sich etwas ratlos, wie damit umzugehen sei.

Der Begriff der "Intentionalität" ist wichtig, um Verschwörungstheorien von rationaleren Versuchen, die Welt zu verstehen, zu unterscheiden, schreiben die Soziologinnen Carolin Amlinger und Nicola Gess bei geschichtedergegewart.ch und beziehen sich dabei auf den Forscher Timothy Melley: "Treibstoff moderner Verschwörungstheorien ist nach Melley eine paradoxe 'agency panic': Diese Panik sieht - durchaus korrekt - das Selbstbild vom autonomen Individuum (das seine Intentionen kennt, sie umsetzen und auf diese Weise auch sein Leben und seine Geschichte selbstbestimmt gestalten kann) in Gefahr und glaubt paradoxerweise gerade deswegen an eine Verschwörung, die in ihrem 'intentionalen' Angriff gegen dieses Individuum genau jenes überkommene Menschen-, Gesellschafts- und Geschichtsbild aufrechterhält: Eine Gruppe von Verschwörer*innen oder ein monolithisches 'System' steuere intentional das Weltgeschehen nach einem geheimen Plan..."

In der NZZ wundert sich der Historiker Wolfgang Kraushaar über das Schweigen um Horst Mahler. Klar, der Jurist, einst Mitbegründer der RAF, heute ein Neonazi, ist für einstige Weggefährten wie Gerhard Schröder, Otto Schily oder Hans-Christian Ströbele schwer peinlich geworden. Sie tun sich aber immer noch "ausgesprochen schwer damit, ihm gegenüber auf Abstand zu gehen und ihn öffentlich zu kritisieren. Als Schily etwa in einem Dokumentarfilm über linke Anwälte nach Mahler gefragt wurde, meinte er ebenso schmallippig wie ausweichend, das sei wohl eine 'Tragödie'. Ganz so, als sei seinem Ex-Partner, dem er während seiner RAF-Zeit auch noch als Verteidiger zur Seite gestanden hatte, etwas widerfahren, was außerhalb seiner Macht gelegen habe. So als handle es sich bei einer antisemitischen Gesinnung um eine Art Schicksalsschlag. Und der sonst so bekenntnisstarke Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, der 1969 zusammen mit Mahler und Klaus Eschen das Sozialistische Anwaltskollektiv gegründet hatte und in den Jahren darauf als der umtriebigste aller RAF-Verteidiger in Erscheinung getreten war, ist hinsichtlich seines Ex-Genossen völlig verstummt. Kein Kommentar und schon gar kein Wort der Kritik oder der Distanzierung."
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Geschichte

Die School of Public and International Affairs in Princeton, war nach dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson benannt, aber damit ist es jetzt vorbei, erzählt Claus Leggewie in der FR. Denn der Mann war zwar eine treibende Kraft bei der Gründung des Völkerbundes und für seine Friedenspolitik mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Er war aber zugleich ein ausgemachter Rassist, der die Rassentrennung in Bundesbehörden und Armee wiedereinführte und den Ku-Klux-Klan verehrte. Da stellt sich Leggewie schon die Frage: "Welches Menschen- und Gesellschaftsbild ließ eine solche Schizophrenie durchgehen, die für die Vorreiternationen der europäischen Aufklärung ebenso typisch war? Wie konnten 'wir', falls dieses Kollektivpronomen für die damals wie heute dominante weiße Mehrheit passend ist, in Wilsons 14 Punkten das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamieren und es zugleich einem erheblichen Teil des eigenen Volkes und den kolonisierten 'Subjekten' (Unterworfenen) verweigern, ohne in eine schmerzhafte Dissonanz zu verfallen?"
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Europa

Paul Ingendaay läutet in der FAZ die deutsche Ratspräsidentschaft in der EU ein, die mit dem heutigen Tag beginnt, und verspürt in der Coronakrise paradoxer Weise ein "optimistisches Kribbeln", "ein irrationales Lebenszeichen - vielleicht, weil die Möglichkeitsräume durch die Katastrophe der letzten vier Monate plötzlich und auf paradoxe Weise viel größer erscheinen. Etwas Neues ist vom Himmel auf uns herabgestürzt und hat grausamen Schaden angerichtet, doch alles Neue schafft Platz für Veränderungen."
Archiv: Europa