9punkt - Die Debattenrundschau

Personen mit Prostata

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2020. Im Merkur erinnert Claus Leggewie daran, dass sich die Debatten um Kolonialismus und Holocaust überkreuzen, seit Joschka Fischer auf der PLO-Konferenz von Algier 1969 die Befreiung Palästinas forderte. Auf ZeitOnline fragt Till Randolf Amelung, warum Transgender-Aktivisten eigentlich nur Frauen verbal abschaffen wollen, nicht aber Männer. Weiterhin diskutiert wird, wie rassistisch Kant, Churchill und Indro Montanelli waren. Die NZZ fragt sich, ob es die miesen Zukunftschancen sind, die die Generation Kulturkampf auf höhere Werte verpflichtet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.06.2020 finden Sie hier

Ideen

Jetzt erst entdeckt: Im Merkur-Blog erinnert Claus Leggewie daran, dass die Debatten um Kolonialismus und Holocaust schon immer quer liefen, nämlich: seit Joschka Fischer auf der PLO-Konferenz 1969 in Algier die restlose Befreiung Palästinas forderte oder Hans Jürgen Wischnewski die Gelder der Befreiungsfront FLN schmuggelte: "In den 1960er Jahren hat unsere Generation wie gesagt zwei 'Entdeckungen' gemacht: das sich abzeichnende Ausmaß der Judenvernichtung, die damals noch kaum einer Holocaust nannte, und die Befreiung der 'Dritten Welt', wie man Länder Afrikas, Asiens und Südamerikas nannte, die sich - friedlich im Rahmen der Bandung-Konferenz oder mit Gewalt in Guerillakämpfen - aus dem Joch kolonialer Fremdbestimmung, imperialer Abhängigkeit und kapitalistischer Ausbeutung zu lösen suchten. Fischer und andere waren in Algier (und andere dann in Peking, Hanoi oder La Paz), weil die 'Gedächtniszeit' (Diner) des Holocaust, begonnen 20 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, Dachau und Buchenwald mit der Erlebniszeit der Entkolonisierung zusammenfiel. Dramatisiert wurde dies durch die Erfahrung des Vietnamkriegs, die weltweit (nicht nur) junge Menschen auf die Straßen trieb."

Kant war kein Rassist, schreibt der Philosoph und Kant-Forscher Volker Gerhardt in einem engagierten Essay in der Welt: "Zwar ist es so richtig wie unerlässlich, ihm seine Urteile über Frauen, über die fehlende Selbstständigkeit von Hausangestellten oder seine bis in die Neunziger Jahre festgehaltene moralische Wertschätzung von Krieg und Kolonialismus vorzurechnen. Doch daraus die Abwertung seines philosophischen Lebenswerks zu machen, ist entweder ein Zeichen mangelnder Kenntnis oder fehlender Urteilskraft. Das gilt insbesondere für die in Umlauf gebrachten Versuche, den Begriff der 'Race' zur Diskreditierung der Kritischen Philosophie als ganzer zu nutzen."

"Natürlich war Churchill ein Rassist", konstatiert dagegen Churchill-Biograf Thomas Kielinger ebenfalls in der Welt mit Blick auf britische Vorstöße Churchill-Statuen zu entfernen. Aber: "Ohne Churchills Weigerung, mit Hitler zu verhandeln, stünde es prekär um die Freiheit der Insel und die Freiheit der heute Demonstrierenden."

In Mailand wurde dagegen die Statue des einst populären italienischen Journalisten und Verleger Indro Montanelli zum Ziel des Zorns und mit den Worten "Rassist" und "Vergewaltiger" verunziert, berichtet Matthias Rüb in der FAZ. Montanelli hatte sich noch 2000 im Correre della sera gebrüstet, im Abessinienkrieg ein zwölfjähriges Mädchen geheiratet zu haben: "In mehreren öffentlichen Einlassungen zur Causa Destà, von den achtziger Jahren bis zur ominösen Kolumne im Corriere anderthalb Jahre vor seinem Tod, zeigte Montanelli keine Spur von Zweifel, dass sein Verhalten falsch gewesen sein könnte. Einmal brüstete er sich damit, 'gut gewählt zu haben', Destà sei 'una bellissima ragazza' (sehr schönes Mädchen) gewesen. Ein anderes Mal beschrieb er sie als 'animalino docile' (fügsames Tierchen). Gewalt sei in seiner 'Beziehung' zu Destà nie im Spiel gewesen, versicherte Montanelli: In Afrika gehe es eben anders zu."

Den Begriff 'Rasse' aus dem Grundgesetz zu streichen, findet Arno Widmann in der FR durchaus überfällig (unser Resümee). Klar, wenn es keine Rassen gibt, kann aber niemand aufgrund seiner Rasse benachteiligt werden. Aber warum soll der Begriff dann ein Satz weiter wieder eingeführt werden? "Es wäre vernünftig, das Wort 'Rasse' einfach aus dem Artikel 3 zu streichen. Es wäre Unsinn, es an anderer Stelle als 'rassistisch' wieder auftauchen zu lassen. Aber natürlich ist das ein Streit um Worte. Der reale Rassismus findet nicht im Grundgesetz, sondern auf unseren Straßen, in unseren Institutionen statt. Auf unseren Straßen werden eine Kippa tragende Menschen zusammengeschlagen und Menschen mit dunkler Haut verprügelt. Häuser, in denen sie wohnen, werden angezündet, und immer wieder schreitet die Polizei nicht ein. Dagegen gilt es vorzugehen. Polizisten schützen das Grundgesetz. Wo der Verdacht besteht, dass sie es nicht tun, muss untersucht werden."

Überflüssig erscheint dagegen dem Juristen Gregor Thüsing in der Welt die Idee: "Bei der Suche nach einer Präzisierung des Begriffs hilft zum Beispiel das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966. Der Begriff der 'Rassendiskriminierung' wird dort verstanden als 'jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird'. Diese Auslegung steht mit dem Begriff des Grundgesetzes in Einklang."
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Politik

Gestern begann der Prozess gegen Stefan Ernst, den mumaßlichen Mörder des Hanauer Regierungspräsidenten Walter Lübcke. In der SZ sieht Detlef Esslinger aber auch andere in der Mitverantwortung: "Walter Lübcke ist tot, weil in der Gesellschaft ein Feld aus Hass und Aggression gedieh. Diese schuldet es ihren Repräsentanten und sich selbst, diesem Feld nicht länger beim Wachsen zuzusehen. Zwei Gruppen haben hier zu lernen: die Täter, dass sie Kriminelle sind, mit einem reellen Risiko, erwischt zu werden - und Staatsanwälte, dass ihre Mühe nicht der Ahndung einer vermeintlichen Lappalie gilt, sondern der Bewahrung eines Klimas, ohne das die Demokratie in Angst und Brutalität versänke. Zugleich ist dieser Klimaschutz eine Arbeit, die sich nicht einfach an juristische und politische Profis delegieren lässt. Sie ist jedermanns Aufgabe."
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Gesellschaft

In der Debatte um J.K. Rowling und Transgender-Fragen (Unsere Resümees) plädiert der Sozialwissenschaftler und Transmann Till Randolf Amelung auf ZeitOnline vorsichtig für eine Mäßigung der Debatte auf beiden Seiten, führt aber etliche Beispiele an, in denen die Trans-Community völlig aus dem Ruder gelaufen ist: Die Parole "Erstick an meinem Frauen-Schwanz" sei etwa durchaus frauenfeindlich. Und warum wird selbst in Schwangerschaftsratgebern die verbale Abschaffung der "Frau" gefordert, aber nirgends die des Mannes? "Auseinandersetzungen gibt es auch um den 'Internationalen Frauentag' oder 'Internationalen Frauenkampftag' am 8. März. Inzwischen firmieren viele Veranstaltungen unter der Bezeichnung 'Feministischer Kampftag', so soll niemand durch die Verwendung von 'Frau' ausgeschlossen werden. Kritikerinnen empfinden dies als 'Auslöschung' des Begriffs und beklagen, dass es so unmöglich gemacht werde, spezifische Anliegen von Frauen klar zu benennen, womit man dem Patriarchat in die Hände spiele. In der Tat wird hier ein gewisses Missverhältnis sichtbar, denn vergleichbar vehemente Forderungen fehlen, wenn es um Männer geht. Nirgends wird zum Beispiel prominent gefordert, dass in Materialien zum Thema Prostatakrebs nur von 'Personen mit Prostata' die Rede sein soll, um diejenigen nicht auszuschließen, die eine Prostata haben, aber keine Männer sind."

Die harsch geführte Debatte um J.K. Rowling  ist "beispielhaft für den Kulturkampf einer zum Bildersturm und Denkmalsturz bereiten Jugend, die sich in Großbritannien mit schlechten Zukunftschancen konfrontiert sieht", schreibt Marion Löhndorf in der NZZ Rowling verteidigend: "Viele treten nach dem Studium das Berufsleben mit einer hohen Schuldenlast an, so dass die Hoffnung, ein Haus zu erwerben - das Statussymbol des Erfolgs in diesem Land -, in weite Ferne rückt. Dennoch: Wer die Protestierenden von 'Black Lives Matter' als Tugendprahler abtue, schrieb die Times, übersehe eine historische Wahrheit: 'Dies ist eine Generation des Wandels, wie es sie seit den sechziger Jahren nicht mehr gegeben hat.' Der Widerspruch dieser Generation ist ihr Verlangen nach einem Wandel hin zu übergreifender Toleranz, Inklusion und Offenheit - Werte, die sie selbst gegenüber anderen nicht hochhält."

Jahrzehntelang wurden in Berlin Pflegekinder an pädophile Väter vermittelt, auf Betreiben des Sozialpädagogen Helmut Kentler und seines Pädagogischen Zentrums. In der FAZ versteht Hannah Bethke allerdings nicht, warum sich der Berliner Senat dagegen sträubt, die Betroffenen zu entschädigen: "Immer wieder wurde behauptet, niemand habe von den Vorfällen wissen können. Wer die Schriften von Kentler liest, die sehr eindeutig auf eine Legitimierung pädosexueller Handlungen abzielen, mag allerdings kaum glauben, es sei nicht klar gewesen, wes Geistes Kind der Mann ist. Allein war er mit diesen Positionen nicht: Berlin avancierte in den siebziger Jahren zum Zentrum der Bildungsreform und antiautoritären Erziehung, unter deren Deckmantel die Emanzipation und vermeintliche Freiheit der Kinder in Missbrauch übersetzt werden konnte."

Die taz bringt ein ganzes Dossier zum Thema Reisen. "Sommer ist keine Jahreszeit, sondern ein geträumter Zustand", sagt der Historiker Valentin Groebner, der im Interview mit Jan Feddersen seine eigenen Reise-Unlust bekennt. Anderen gönnt er den Urlaub durchaus, möchte nur auf den Wandel hindeuten, zum Beispiel was den Strand betrifft: "Vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts ging da niemand zum Vergnügen hin. Historisch gesehen ist der Strand die Zone für den Müll - und der gefährliche Transitraum zwischen Land und Meer, ein eher riskanter und gefährlicher Ort. Das änderte sich erst durch die Industrialisierung. Seitdem es Fabriken gab, im 19. Jahrhundert, fand man den Strand plötzlich schön."
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Medien

FAZ.net meldet, dass die Polizeigewerkschaft Strafanzeige gegen Hengameh Yaghoobifarah gestellt hat, die in ihrer taz-Kolumne "Habibitus" die Entsorgung der Polizei auf dem Müll fantasiert hatte: "All Cops are berufsunfähig."
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Stichwörter: Yaghoobifarah, Hengameh

Wissenschaft

Im Interview mit Zeit online erklären die Forscher Andreas Thiel und Claudia Giesecke-Thiel, warum vergangene Erkältungen vielleicht vor einem schweren Corona-Verlauf schützen könnten: "Unsere Ergebnisse sind ein Startpunkt, um das herauszufinden (MedRxiv: Braun et al., 2020)", sagt Claudia Giesecke-Thiel. "Ein Teil der Lösung könnte in der sogenannten Kreuzimmunität liegen. Bei einem Drittel der von uns untersuchten gesunden Menschen haben wir bestimmte T-Gedächtniszellen im Blut gefunden, die das neue Coronavirus erkennen können. Und das, obwohl diese Menschen bisher noch gar keinen Kontakt zu Sars-CoV-2 hatten. Wir vermuten, dass diese Zellen vorhanden sind, weil sich der Körper dieser Personen früher schon einmal mit anderen Coronaviren auseinandergesetzt hat, die nur Erkältungen auslösen. Nach so einer Infektion könnten die T-Zellen im Körper verbleiben und bei erneutem Viruskontakt sofort eine effiziente Immunantwort in Gang setzen." Jetzt führen die beiden, die nur wenige Menschen untersucht haben, aber dabei die kreuzreaktiven T-Zellen in Blutproben messen konnten, "große Nachfolgestudien" durch, um ihre Ergebnisse zu überprüfen.
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