9punkt - Die Debattenrundschau

Das Spiel der Identitätspolitik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2020. Rassismus ist universal, ruft die Menschenrechtsaktivistin Naïla Chikhi bei hpd.de, es gebe ihn auch, wo kein "weißes Privileg" im Spiel sei. Der Begriff des "weißen Privilegs" lässt sich ohnehin nicht auf Länder wie Frankreich übertragen, warnt die Politikerin Corinne Narassiguin in Le MondeSusan Neiman schöpft beim RND Hoffnung aus den breiten Bündnissen in den Demos gegen Rassismus. In der Welt warnt der Nordamerikahistoriker Michael Hochgeschwender vor einer "Säuberung" der Vergangenheit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.06.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Rassismus ist universal, ruft die Menschenrechtsaktivistin Naïla Chikhi bei hpd.de. Auch in arabischen Ländern gibt es Rassismus gegen Schwarze: "Einerseits protestieren heute viele Deutsche aufgrund des Falls von George Floyd gegen Rassismus. Andererseits - so ist zu befürchten - sind darunter wohl nicht Wenige, die dann mildernde Umstände aufzählen würden, wenn es um Rassismus und Frauenverachtung innerhalb bestimmter Communities hierzulande geht. Es ist mir unerklärlich, wenn selbsternannte 'Weiß-Privilegierte' einzig denjenigen Rassismus und Sexismus anprangern, der von anderen 'Weiß-Privilegierten' ausgeht, um im gleichen Atemzug diejenigen Menschenrechtsverletzungen zu relativieren, die innerhalb sogenannter 'Minderheiten' tagtäglich verübt werden."

"Ich bin eine schwarze Frau, und ich bin gegen den Begriff vom 'weißen Privileg', schreibt die französische Politikerin Corinne Narassiguin (Sozialistische Partei) in Le Monde. Der Begriff "weißes Privileg" verweise auf die Zeit der "Rassentrennung" in den USA: "Den Begriff 'weißes Privileg' nach Frankreich importieren, heißt der französischen Geschichte die amerikanische Geschichte überzustülpen und weder der einen noch der anderen gerecht zu werden. So fabriziert man historischen Widersinn. Wer im französischen Kontext davon spricht, das 'weiße Privileg' abschaffen zu wollen, unterstellt, dass der antirassistische Kampf ein Kampf gegen den Status von Weißen sei. Wenn das nur ungeschickt wäre, würde sich ein Debattenbeitrag hier nicht lohnen, aber es ist schlimm und gefährlich... Wer den Begriff des 'weißen Privilegs' im Namen des Antirassismus benutzt, spielt das Spiel der Identitätspolitik, die kommunitaristische Clans dem nationalistischen und rassistischen Block entgegenstellt."

Im Interview mit der Welt spricht der Nordamerikahistoriker Michael Hochgeschwender über das Männlichkeitsbild in den USA und rassistische Traditionen. Für eine "Säuberung" der Vergangenheit ist er aber nicht: "Wenn ich eine moralisch saubere, einwandfreie Geschichte herstelle, wenn ich die Erinnerung an all das unterdrücke, was mir nicht mehr passt, dann beraube ich die Geschichte ihrer Prozessualität und lasse sie in einer Form von moralischem Vakuum erstarren. ... Man weist auf die blinden und dunklen Flecke der Vergangenheit hin und sagt nicht, ich schaffe sie aus meinem Angesicht und dann fertig."

Im Interview mit Kristian Teetz vom Redaktionsnetzwerk Deutschland äußert sich die in Berlin arbeitende Philosophin Susan Neiman optimistisch über die Proteste nach dem Tod George Floyds, die größer seien als nach der Ermordung Martin Luther Kings: "Es waren damals nicht so viele Leute auf der Straße, und es gab auch keine so breiten Bündnisse wie heute. Heute sind ja mehr Weiße auf der Straße als Schwarze. Aber auch die internationale Unterstützung ist sehr wichtig für die Demonstranten."

Fast wikipedia-artikelhaft erklärt Thomas E. Schmidt in der Zeit, was es mit der Israel-Boykottkampagne BDS auf sich hat. Ersonnen habe sie der arabische Israeli Omar Barghouti, und die Forderung nach Rückkehr aller Kinder von Flüchtlingen erzwinge "ein binationales Israel mit palästinensischer Mehrheit, also faktisch das Ende des Judenstaats, und mit den 'besetzten Gebieten' ist nicht etwa das 1967 im Sechstagekrieg eroberte Westjordanland gemeint, sondern das israelische Staatsgebiet insgesamt... So bedeutet BDS: Im Grunde kann und soll es keine politische Lösung mehr geben." Im Blick auf die breite Unterstützung in den hiesigen Geisteswissenschaften mahnt Schmidt: "Rede- und Wissenschaftsfreiheit sollten Hexenjagden ausschließen. Der Einfluss von BDS ist ein gesellschaftlicher, und mit staatlicher Politik wird er kaum zurückzudrängen sein."

Auch in Indien wurde der Lockdown beendet, erzählt V. Ramaswamy in einem Brief an die SZ. Sonderlich optimistisch stimmt ihn das nicht: "Da die Wanderarbeiter in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt sind und die strenge Einhaltung der anschließenden Quarantänemaßnahmen dort fraglich ist, könnte das Virus letztlich auch das ländliche Indien treffen. Da es dort nur eine schlechte oder gar keine Gesundheitsinfrastruktur gibt, sind die Aussichten düster."
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Internet

In der SZ sind Andrian Kreye und Georg Mascolo froh über Donald Trumps "Durchführungsverordnung zur Verhinderung von Online-Zensur", mit der in den USA ein erster Schritt dahin gemacht wurde, Internetplattformen für geposteten Inhalt verantwortlich zu machen. Zwar sei es "unfair zu sagen, dass die Konzerne heute nichts tun würden. Facebook-Chef Mark Zuckerberg erklärte bei seinem Besuch der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, inzwischen würden 35 000 Personen im 'Sicherheitsbereich' seines Konzerns arbeiten. Allein das Budget für den Kampf gegen Propaganda-Kampagnen und andere Manipulationsversuche sei in diesem Jahr höher als der Umsatz von Facebook beim Börsengang 2012. Auch Facebooks größte Konkurrenten Twitter und Google bemühen sich", aber das ist den beiden SZ-Redakteuren noch nicht genug. Wie genau eine noch größere Kontrolle aussehen soll und ob das wirklich eine Aufgabe der Konzerne sein sollte, sagen die beiden nicht.
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Ideen

Nein, die Coronakrise ist kein Einschnitt. In Wirklichkeit werden an ihr nur schlagartig bestimmte Prozesse der Spätmoderne deutlich, die nur verstehen kann, wer den Soziologen Andreas Reckwitz liest, der dies zum Glück in der heutigen Zeit noch mal hinreichend deutlich macht: "Man muss es betonen: Ohne die Krise der Spätmoderne, die seit den 2010er-Jahren ins Bewusstsein rückt, wäre das Coronavirus wohl nur eine banale Pandemie - eine menschliche Tragödie, aber ohne intellektuellen oder politischen Nährwert. Im Rahmen der ohnehin schon verbreiteten Desillusionierung kann das Virus jedoch als Menetekel einer Moderne in der Sackgasse und als Chance für einen gesellschaftlichen Neubeginn gedeutet und dramatisiert werden."

Die Plünderer in den USA sind keine Anarchisten, auch wenn Donald Trump sie so bezeichnet, insistiert Ilija Trojanow in seiner taz-Kolumne: "Hätte er auch nur einige Seiten von, sagen wir, Michail Bakunin oder Emma Goldman, Erich Mühsam oder Murray Bookchin gelesen, wäre er erstaunt, dass Anarchismus nicht die Plünderung eines Foot-Locker-Ladens (schicke Sneakers!) bedeutet, sondern das Streben nach größtmöglichem Gemeinwohl bei größtmöglicher individueller Freiheit. Also das Gegenteil von neoliberaler Ausbeutung und polizeilicher Willkür. Gewiss, es gibt auch im Anarchismus viele Strömungen, aber eines haben sie doch gemein: Solidarität als gesellschaftliches Grundprinzip, nicht Konkurrenz und Rivalität."
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