9punkt - Die Debattenrundschau

Überall ist nun Garnison

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.05.2020. ZeitOnline bringt den internationalen Aufruf zur Demokratisierung der Arbeitswelt. In der taz erkennt Ranga Yogeshwar in der Angst das Motiv allen Handelns. Die NZZ laboriert an den Folgen der großen Schweizer Mobilmachung. Nach dem Rücktritt der Wiener Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek fragt der Standard, welche kulturpolitische Visionen die Grünen eigentlich haben. Und im LRB-Blog erklärt Arianne Shahvisi die Iraner zu Meistertänzern der sozialen Distanzierung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.05.2020 finden Sie hier

Ideen

ZeitOnline bringt den Aufruf, in dem eine Tausendschaft von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern von Thomas Piketty bis Elizabeth Anderson einen Umbau der Arbeitswelt fordert. Denn Corona habe nicht nur gezeigt, dass PflegerInnen oder VekäuferInnen systemrelevant sind, sondern auch, dass all die Angestellten im HomeOffice ganz ohne Kontrolle und Überwachung ihre Arbeit tun: "Wenn man sich ernsthaft fragt, wie die Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes diese Beiträge ihrer Mitarbeitenden in Krisenzeiten anerkennen könnten, ist die Antwort: durch Demokratisierung. Gewiss, wir müssen die Kluft der Einkommensungleichheit schließen und die Mindestlöhne erhöhen - aber das allein reicht nicht aus. Nach den beiden Weltkriegen war der unbestreitbare Beitrag der Frauen zur Gesellschaft ein wichtiger Faktor dafür, ihnen das Wahlrecht zuzugestehen. Jetzt ist es aus den gleichen Gründen an der Zeit, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Stimmrechte in den Firmen zu verleihen."

Der italienische Philosoph Roberto Esposito zeigt in der NZZ auf, wie sich in Coronazeiten Biopolitik artikuliert, wie sich zum Beispiel Politik medikalisiert und Medizin politisiert: "Einerseits ist da die Politik, die vor einem nunmehr blassen ideologischen Hintergrund die eigene schützende Rolle angesichts realer oder imaginierter Gefahren hervorhebt und dabei Ängste verfolgt, die sie selbst erzeugt. Andererseits ist da die medizinische Praxis, die der Wissenschaftsfreiheit zum Trotz die Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit nicht ausblenden kann. Gemeint sind beispielsweise die wirtschaftlichen oder politischen Folgen der von Wissenschaftern empfohlenen Maßnahmen. Dies erklärt in gewisser Weise auch die verblüffende Uneinigkeit der bedeutendsten Virologen bezüglich der Natur und des möglichen Verlaufs der Coronavirus-Epidemie."
Archiv: Ideen

Europa

Zum Glück hat es die Mobilmachung der Schweizer Armee nicht gebraucht, erzählt Manuel Müller in der NZZ. Aber gänzlich froh gestimmt kommt er doch nicht aus der Kaserne zurück: "Früher war es schön, ins Militär einzurücken. Alles war ganz selbstverständlich. Uniform anziehen, beherzt über den Widerwillen hinweg, am Kiosk noch Zigaretten und ein Dosenbier holen. Und dann ging es für drei Wochen ins große Drinnen. In die Kaserne, wo die Welt draußen fremd scheint und fern ist. Aber diesen Spaß hat man uns Soldaten letzthin gründlich verdorben. Das liegt nicht etwa an der Armee, sie bleibt spurtreu. Nein, die Welt selbst ist vom Weg abgekommen. Sie hat sich jüngst in eine Kaserne verwandelt. Es gibt kein Drinnen und Draußen mehr: Überall ist nun Garnison. Was einst nur für den Waffenplatz galt, macht nun das neue Leben aus."
Archiv: Europa
Stichwörter: Schweizer Armee

Wissenschaft

In der taz unterhält sich Jan Feddersen mit Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar über mentale Krisenbewältigung, das Auseinanderklaffen von Verstand und Emotion und die Frage, was unser Verhalten steuert: "Mit den Bildern aus Italien ging diese Mobilitätskurve dramatisch nach unten. Das war diese Phase, in der es noch keine Kontaktsperre gab, wo aber einfach die Bilder übers Fernsehen dazu führten, dass wir alle Angst bekamen. Die Städte waren bereits Mitte März wirklich leer, obwohl es noch keine Kontaktsperre gab. Nachdem diese Kontaktsperre ganz offiziell verkündet wurde, das ist das Interessante, ging dies fast mit einem Schwinden der Angst einher. Und was man dann sieht, ist, dass mit der Kontaktsperre das Mobilitätsverhalten wieder hochgeht und wir inzwischen in einem Zustand sind, der sich immer mehr einer Normalität - auch wenn wir das vielleicht gar nicht so sehr glauben - nähert. Das heißt: Das Motiv allen Handelns ist Angst. Und diese Angst hat immer eine Halbwertszeit."
Archiv: Wissenschaft

Kulturpolitik

Im Standard berichten Stefan Weiss, Jan Michael Marchart und Theo Anders vom Rücktritt der Wiener Kulturstaatssekretärin und Grünen-Politikerin Ulrike Lunacek, der es in der Coronakrise nicht gelungen war, ausreichende Hilfen für die Kultur zu organisieren: "In ihrer Rede bedauerte Lunacek, dass sie die kulturpolitischen Vorhaben aus dem Regierungsprogramm, vor allem das Bestreben der Grünen nach mehr sozialer Gerechtigkeit im Kulturbetrieb, nicht mehr umsetzen konnte ... Dabei habe gerade die Krise aufgezeigt, wie sehr die Kulturbranche unter prekärer Beschäftigung leide. 'Es wurde ein lange negiertes Problem offengelegt, über Jahrzehnte wurden prekäre Bedingungen von der Politik ignoriert.' Ironischerweise scheiterte die 62-Jährige nun gerade selbst an der Aufgabe, diese Nöte zu lindern."

In einem flankierenden Essay im Standard fragt Uwe Mattheiss, wie es eigentlich grundsätzlich um die kulturpolitischen Vorstellungen der Grünen bestellt ist. Warum tun ausgerechnet sie sich so schwer mit einem Betrieb, der ihnen eigentlich nahesteht: "Gibt es tatsächlich so etwas wie kulturpolitische Visionen, oder hat sich am Ende die Perspektive multikultureller Stadtteilfeste um 1990 nicht wesentlich weiterentwickelt? Sozialdemokraten hatten mal eine Vision, bevor ihnen der Arztbesuch empfohlen wurde. In den 1970er- und 1980er-Jahren hieß es 'Kultur für alle'. In der Ära Schröder/Blair war das Zauberwort 'creative industries', sie sollten das postindustrielle Arbeitsplatzwunder bewirken, das bekanntlich ausblieb. Schwarz/Türkis hat sehr wohl eine Vision. Man liest sie in der Regierungsübereinkunft: Kultur als Standortfaktor in der Globalisierung, der helfen soll, Edeltouristen und Fachkräfte ins Land zu bringen. Die grüne Handschrift liefert im Wesentlichen flankierende sozialpolitische Reparaturkonzepte."

In der taz-Kultur spricht Andreas Fanizadeh mit der Grünen-Politikerin Katrin Göring Eckhardt, die mehr Hilfen einfordert: "Wir haben eine Kulturstaatsministerin, die zunächst nichts für die Künstlerinnen und Künstler tat. Der Druck kam aus der Opposition und aus der Kultur selber."
Archiv: Kulturpolitik

Gesellschaft

In der vorigen Woche hat die iranische Zentralbank die Währung Rial in Toman umbenannt und vier Nullen gestrichen. Wie Arianne Shahvisi im LRB-Blog erzählt, ist dies eine typische Form der sozialen Distanzierung im Iran: "Soziale Interaktionen im Iran werden von einer Etikette bestimmt, die als Taarof bekannt ist: eine ausgeklügelte, indirekte Art des Sprechens und Verhaltens. Schichten von Symbolismen, Worthüllen und Unehrlichkeiten sollen einen Konflikt besänftigen, Gemeinsamkeiten erleichtern und bestimmte Wahrheiten begraben. Es ist eine Form der sozialen Distanzierung, wenn man so will, des Abstandshalten zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Wie die Sozialwissenschaftlerin Kian Tajbakhsh sagte: 'Im Westen sind achtzig Prozent der Sprache denonativ. Im Iran sind achtzig Prozent konnotativ.' Taroof garantiert, dass einem Essen angeboten wird, wenn man jemanden besucht, aber es erfordert auch, dass man ablehnt."

Im Aufmacher des FAZ-Feuilleton treibt Elena Witzeck der Neid um, der ihrer Beobachtung zufolge die Menschen in der Krise erfasst: Warum kann der Nachbar auf einem sonnigen Balkon arbeiten? Warum wird sie kontrolliert, nicht jemand anderes? "Und dann ist da der Neid auf jene, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, denen es gelingt, die Umstände anzunehmen. Die bei allen Entbehrungen gelassen wirken. Diesen vermeintlichen Vorsprung, sagt die Psychoanalytikerin und Mitherausgeberin des Buchs 'Neid', Sylvia Schulze, begehren wir am meisten."
Archiv: Gesellschaft