9punkt - Die Debattenrundschau

Erinnerungen an immerwährende Unsicherheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2020. In der Debatte um Achillle Mbembe werden jetzt alle Schutzmasken fallengelassen. Mbembe selbst sieht sich in einem Beitrag für das kamerunische Magazin cameplus.com als Opfer von Rassismus und fordert einer Entschuldigung vom Antisemitismusbeauftragten Felix Klein. In der FAS wirft Jürgen Kaube Mbembe vor, gelogen zu haben.  Die SZ mischt sich unter die Aluhüte auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. In der NZZ protestiert die Politologin Regula Stämpfli gegen angeblich viel zu weit gehende Corona-Maßnahmen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2020 finden Sie hier

Ideen

Achille Mbembe hat schon am Freitag in einem zweiten Text auf die Debatte reagiert, die in Deutschland um seine Äußerungen zu Israel und seine Unterstützung der Israel-Boykottbewebung BDS entstanden ist. In dem kamerunischen Magazin cameplus.com attackiert er den FDP-Politiker Lorenz Deutsch, der seine Einladung als Keynote-Sprecher der Ruhrtriennale zuerst in einem offenen Brief kritisiert hatte. Ein typisches Manöver eines Rassisten, so Mbembe: "Unser Politiker wollte nicht sagen, dass er keinen Neger auf dem Festival haben will. Er konnte nicht sagen, dass er sich mir entgegenstellte, weil ich antikoloniale Thesen vertrete. Oder weil ich für die Rückgabe afrikanischer Kunstobjekte eingetreten bin. Oder weil ich die europäische Behandlung der Migranten und Asylsuchenden kritisiere. Da ist ihm eine diabolische Idee gekommen. Ein antisemitischer Neger, so schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe." Zur Kritik des Antisemitismusbeauftragen Felix Klein schreibt er: "Da sich Klein im Namen seines Amtes in der Bundesregierung geäuißert hat, schuldet er mir eine öffentliche Bitte um Entschuldigung, und ich werde sie bis zum letzten Atemzug von ihm verlangen."

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube greift diesen Text in der FAS auf, attackiert die universitären Unterstützer Mbembes, die in zwei Petitionen Mbembe verteidigten und die Entlassung von Klein forderten (und hier besonders Aleida Assmann). Und er will Mbembes Distanzierungen von BDS nicht glauben: "Merkwürdig genug ist, dass Mbembe vor diesem Hintergrund bestreitet, in Verbindung zur BDS-Kampagne zu stehen. 'Die Wahrheit ist', sagte Mbembe dem Deutschlandfunk, 'dass ich keinerlei Beziehung zum BDS habe.' Das ist gelogen. Einnahmen aus jenem Sammelband, dem er das Vorwort zugunsten der globalen Isolation Israels schrieb, gingen an eine der Gründungorganisationen des BDS. 2015 unterschrieb er eine Petition südafrikanischer Forscher, die dazu aufrief, von Israel finanzierte wissenschaftliche Konferenzen zu boykottieren." Alle unseren Resümees der Debatte um Mbembe finden Sie hier.

In der taz antwortet der Wiener Politologe Stephan Grigat, Vordenker der "Antideutschen", auf eine Verteidigung Mbembes von Amos Goldberg und Alon Confino (unser Resümee): "'Die Palästinenser' existieren bei Goldberg und Confino, ganz wie bei Mbembe, nur als passive Opfer. Kein Wort von den mannigfachen Zurückweisungen der diversen Teilungspläne in den letzten hundert Jahren, kein Wort über die arabischen Angriffskriege, kein Wort über die antijüdische Dauerpropaganda. Der Antisemitismus auf Seiten der Palästinenser wird als berechtigte Wut rationalisiert."

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Es heißt immer, wer die Geschichte nicht kennt, sei verdammt, sie zu wiederholen. Aber auch Geschichte und Erinnerungen können eine Zukunft unmöglich machen, schreibt in der NZZ der mazedonische Schriftsteller Nikola Madzirov: "Lange Zeit wurde in die Geschichte investiert, in die dominante Form der kollektiven Erinnerung, so lange, bis diese sich in eine gemeinsame Wahrheit verwandelte, die nach keinen neuen Erinnerungen und Zweifeln sucht, weil jedes Absolute ausschließlich wegen seiner Verehrung erschaffen wird und nicht wegen einer Erinnerung. Es wird das Bild entworfen, dass wir im Balkan ohne Erinnerungen keine Zukunft haben, doch solch eine Zukunft wird schon zu einem historischen Problem, noch bevor sie zur Gegenwart geworden ist. Hier haben die Heiligen und Diktatoren kein Gedächtnis, sondern bewohnen für lange Zeit unseren Verstand und unsere Herzen als Erinnerungen an immerwährende Unsicherheit."
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Internet

Google hat sich aus dem Projekt, in einem Teil von Toronto eine "Smart City" zu errichten, zurückgezogen. Für Niklas Maak in der FAZ eine neue Gelegenheit darüber nachzudenken, wem bei der Verwirklichung technischer Fortschritte eigentlich die Daten gehören: "Es gehört zu den Paradoxien der digitalen Welt, dass in ihr 'Verfolgung' - eigentlich ein Begriff aus dem Reich der Strafmaßnahmen - zur Voraussetzung für gutes Leben erklärt wird. Natürlich ist es Unsinn, digitale Vernetzung, wie es einige Libertäre tun, zum Werk des Teufels zu erklären. Aber ob die Smart City wirklich smart für ihre Bewohner ist, hängt im Kern davon ab, ob sie den gemeinsamen Datenschatz privaten Konzernen vor die Tür kippen und ihnen die faktische Regierungsverantwortung übereignen - oder ihn selbst nutzen."
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Gesellschaft

Willi Winkler mischt sich für eine schöne Reportage auf der Seite 3 der SZ unter die Weltverschwörer auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin: "Zur Freude vor allem der filmenden Begleitung trat vor dem Parlament Attila Hildmann auf, der zu einer Art Heiligem Krieg aufrief: 'Ihr werdet zum Großteil sterben", verkündete der mit seiner ausschließlich veganen Küche reich gewordene Koch, "wenn sich nicht 83 Millionen Menschen gegen dieses Unrecht', er zeigte auf den Sitz des Bundestags, 'erheben.' Reichsbürger waren da, weitere seltsame Gestalten, doch der Aufrührer Hildmann wurde sanft vom Platz geführt, er hatte es am vorgeschriebenen Abstand fehlen lassen. Der Volkszorn war damit nicht beruhigt, der von Hildmann schon gar nicht."

Es wird nicht ganz klar, vor wem die Politologin Regula Stämpfli sich mehr fürchtet: den Chinesen oder der eigenen Regierung. Letztere ist ihr jedenfalls mit den Coronamaßnahmen viel zu weit gegangen, schreibt sie in der NZZ: "Die Corona-Ausnahmeregime haben mithilfe wissenschaftlich bewiesener Tatsachen, sekundiert von einer Heerschar dienender Intellektuellen- und Medienliteraten alle Kritiker der getroffenen Maßnahmen als Menschenfeinde dargestellt und tun es noch. Dies mit dem Effekt, dass wir uns meinungsmäßig widerstandslos, quasi über Nacht, von allen Werten verabschiedet haben, die uns bis vor kurzem noch unantastbar erschienen." Was die Alternative zu den Maßnahmen gewesen wäre, sagt sie allerdings nicht.

Der Schutz des Lebens kann nur im einzelnen konkreten Fall über allem stehen, meint im Interview mit der FR der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel mit Blick auf die Coronamaßnahmen. Für die Gesellschaft insgesamt müsse die Politik aber eine Risikoabwägung treffen: "Kurz: wir werden mit kommenden Viruspandemien und vielleicht hohen Zahlen ihrer Opfer leben müssen, ohne sie mit Lockdowns blockieren zu können. Sie werden zu unserem Leben gehören wie die Grippeepidemien seit eh und je. Auf dieser kollektiven Ebene muss sich das Wechselspiel von erlaubten und unerlaubten Risiken zwischen Pandemie und Ökonomie einpendeln. Es geht bei den ökonomischen Kollateralschäden ja nicht um Profitinteressen von Geschäftemachern, sondern um den Lebensnerv dieser Gesellschaft."

Dass selbst Bischöfe an Verschwörungstheorien glauben - soll einen das wundern? In einem Schreiben mit dem Titel "Ein Aufruf für die Kirche und für die Welt - an Katholiken und alle Menschen guten Willens" haben mehrere Bischöfe die Corona-Maßnahmen scharf kritisiert, berichtet die Welt. Besonders die Einschränkungen der Gottesdienste stieß ihnen auf. "Weiterhin wird gewarnt, der Kampf gegen Covid-19 dürfe nicht 'als Vorwand zur Unterstützung unklarer Absichten supranationaler Einheiten dienen, die sehr starke politische und wirtschaftliche Interessen verfolgen'." Die Bischofskonferenz und der Generalvikar des Bistums Essen, Klaus Pfeffer sind "'fassungslos, was da im Namen von Kirche und Christentum verbreitet wird: Krude Verschwörungstheorien ohne Fakten und Belege, verbunden mit einer rechtspopulistischen Kampf-Rhetorik, die beängstigend klingt.' Jeder, der den Aufruf unterzeichnet habe, habe sich 'entblößt'."

Weiteres: In der NZZ denkt der Theologe Wolfgang Huber über den Zusammenhang zwischen der Würde des Menschen und dem Schutz seines Lebens nach. In der SZ
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Politik

Der Nahostexperte René Wildangel, ehemals Heinrich-Böll-Stiftung, heute European Council on Foreign Relations, möchte in der taz, dass Deutschland eine Initiative unterstützt, um die angeblich bevorstehende Annexion der besetzten Gebiete durch Israel vom Internationalen Strafgerichtshof untersuchen zu lassen. "Gerade jetzt wäre es nötig, dass Deutschland und andere EU-Staaten die Unparteilichkeit des Gerichts verteidigen. Eine Untersuchung wäre außerdem eine seltene Gelegenheit, Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der seit über 50 Jahren andauernden israelischen Besatzung nicht nur zu verurteilen, sondern durch ein Ende der Straflosigkeit auch einen wichtigen Schritt zu ihrer Vermeidung zu machen."
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Europa

Die Coronakrise verschärft den Konflikt zwischen Flamen und Wallonen in Belgien, berichtet Barbara Moens in politico.eu. Streit entsteht wegen der Kompetenzwirrwarrs in der komplizierten Verwaltungsstruktur, aber auch überhaupt über die zu verfolgende Politik: "Bereits zu Beginn der Pandemie waren Flandern und Wallonien in der Frage, wie mit dem Lockdown umzugehen sei, zerstritten. Während der Süden dem Beispiel Frankreichs folgen und die Schulen so schnell wie möglich schließen wollte, war Flandern (dessen Wirtschaft mehr als doppelt so groß ist wie die Walloniens) eher zurückhaltend. Die gleiche Diskussion entbrannte erneut über die Wiedereröffnung der Schule."

Die Europa-Visionäre Lorenzo Marsili und Ulrike Guérot fordern im Guardian eine europäische Bürgerbewegung - auch im Blick auf die Coronakrise: "Der Kollaps der EU wird seit Jahren vorausgesagt. Aber Europa muss nicht kollabieren um zu sterben. Europa stirbt, wenn es angesichts einer Nation-first-Politik nur mit den Schultern zuckt. Desintegration ist nicht ein einzelnes Ereignis, sondern eher ein Prozess, der von nachlassenden Bindungen, einem allmählichen Verlust der Überzeugung und der Renationalisierung von Politik geprägt ist."

Auch ein Jubiläum. Vor fünfzig Jahren, am 14. Mai 1970, wurde die RAF gegründet. Das Nachdenken über sie ist noch längst nicht ausgestanden, schreibt der Politologe Harald Bergsdorf in der FAZ. Vor allem aus einem Grund: "Nach wie vor sind viele Morde nicht aufgeklärt, darunter die Attentate auf den MTU-Vorstandsvorsitzenden Ernst Zimmermann 1985, Siemens-Vorstand Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer Eckhard Groppler 1986, den Diplomaten Gerold von Braunmühl 1986, den Bankier Alfred Herrhausen 1989 und den Präsidenten der Treuhandanstalt Detlev Karsten Rohwedder 1991."
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