9punkt - Die Debattenrundschau

Genau diese alten Strukturen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2020. In der Zeit erklärt die israelische Soziologin Eva Illouz, warum sie die Absetzung des Antisemitismusbeauftragen Felix Klein will. In der SZ schließt sich Stefanie Carp von der Ruhrtriennale, deren Einladung von Achille Mbembe den Streit auslöste, der Kritik an Klein an. Die taz und der Freitag beleuchten die seltsame "Hygienedemo"-Szene, die vor der Volksbühne gegen Lockdown und Maskenpflicht demonstriert. Die Zeit erinnert an das Los der sowjetischen Kriegsgefangenen, die von Hitler zu Millionen ermordet und von Stalin in den Gulag geschickt wurden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.05.2020 finden Sie hier

Ideen

Aus dem Streit um Achille Mbembe wird ein Streit um Felix Klein.

Die israelische Soziologin Eva Illouz gehört zu den Akademikern, die eine Absetzung Kleins, des Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung, fordern (unser Resümee). Hintergrund ist der Streit um Mbembe, dessen dezidiert für Israelboykott eintretende Position (unser Resümee) sie um der Meinungsfreiheit willen im Gespräch mit Martin Eimermacher in der Zeit verteidigt. "Wir nehmen die Frage, wer ein Antisemit ist und wer nicht, viel ernster, als es bisher der Fall war. Durch die Ausweitung des Antisemitismus-Begriffs verharmlost man gefährliche Menschen, die Juden für Ungeziefer halten, indem man sie mit Menschen gleichsetzt, die Menschenrechte verteidigen und glauben, Israel betreibe eine unmenschliche Politik. In Israel herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung, die jetzt exportiert wird. Die politischen Spaltungen Israels sind auf die jüdischen Gemeinden übertragen worden, die früher viel geeinter und solidarischer waren."

Wer Achille Mbembe als Antisemiten bezeichnet, hat seine Bücher nicht gelesen - Mbembe beschäftige sich nicht mal mit Israel und habe auch nie einen Aufruf des BDS unterschrieben, behauptet Stefanie Carp, Intendantin der abgesagten Ruhrtriennale im SZ-Gespräch mit Egbert Tholl. Die ganze Aufregung kann sie beim besten Willen nicht verstehen, der Kritik an Felix Klein schließt sie sich an: "Wenn man aus den wenigen Passagen, in denen er im Rahmen einer Argumentation über Segregationen in sich demokratisch wähnenden Gesellschaften die palästinensischen Wohngebiete in Israel beschreibt, einen Antisemitismus-Vorwurf konstruieren möchte, kann man das bei jedem Intellektuellen oder Künstler aus dem globalen Süden machen, weil afrikanische und südamerikanische Intellektuelle den Westen und Israel anders wahrnehmen als wir Deutsche. (…) Es scheint in dieser beispiellosen und beschämenden Diffamierungskampagne für einige Personen nur darum zu gehen, Recht zu haben."

Weiteres zur Debatte: Im Freitag schlägt Daniel Bax vor, nicht nur über Felix Klein, sondern gleich auch über sein Amt nachzudenken. Inzwischen kursiert aber auch ein offener Brief vieler jüdischer Organisationen, darunter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, pro Klein, berichtet Frederik Schindler in der Welt. "Bereits am Montag hatte sich die Bundesregierung zur Kritik an Klein geäußert. Klein habe Mbembe nicht als Antisemiten bezeichnet, sondern darauf hingewiesen, 'dass das immer wieder benutzte Bild, Parallelen zwischen Israel und dem Apartheidsystem Südafrikas zu ziehen, sehr problematisch ist und antisemitische Klischees bedient', sagte Seehofers Sprecher Steve Alter."

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Reichlich abstrakt streiten sich in der Zeit Jürgen Habermas und der Rechtstheoretiker Klaus Günther über die Frage, ob Lockerung vor "Lebensschutz" gehen kann. Habermas ist sehr skeptisch und fragt: "Was kann in dieser Lage die geforderte 'Abwägung' des Lebensschutzes gegen schwerwiegende Eingriffe in andere Grundrechte heißen?" Günther gibt zu bedenken: Der Lebensschutz, von dem erst in unserer modernen Medizin realistisch die Rede sein könne, sei kein absoluter Wert, er stehe "unter dem Vorbehalt des Möglichen; keine Gesellschaft kann alle ihre Ressourcen in das Gesundheitssystem stecken".

Initiiert von Juliette Binoche und dem Astrophysiker Aurelien Barrau haben etwa 200 Künstler und Wissenschaftler, darunter Robert de Niro, Cate Blanchett und Wim Wenders in Le Monde einen recht unspezifischen Aufruf publiziert, in dem sie dazu auffordern, nach Corona nicht zum Status quo zurückzukehren, sondern das Konsumverhalten zu überdenken. Der Deutsche will zurück zur Normalität, der Franzose proklamiert die Zeitenwende, konstatiert die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey, die in der FR weitere Stimmen von französischen Intellektuellen zusammengetragen hat.

In der Berliner Zeitung wendet Petra Kohse ein: "Diejenigen, die sprechen, gehören trotzdem alle zu einer ähnlich gut ausgebildeten, bestimmt gut verdienenden Schicht, die in vergleichsweise sicherer Umgebung lebt." Auch im Tagesspiegel glaubt die Ökonomin Renate Schubert weder an eine Deglobalisierung noch an ein verändertes Konsumverhalten nach Corona: "Zum einen sind lang andauernde Verhaltensänderungen nach Krisen eher selten. Menschen beispielsweise, deren Haus von einer Flut bedroht worden ist, ziehen mehrheitlich weder weg noch schließen sie eine Versicherung gegen Hochwasser ab. Darüber hinaus dürfte der Druck, Konsumgüter zu möglichst niedrigen Preisen kaufen zu können, nach der Krise sogar noch größer sein als zuvor."

Außerdem: Wir geraten keineswegs in die "Barbarei", erwidert Michael Coors, Professor für Theologische Ethik, Giorgio Agamben (Unser Resümee) in der NZZ. Er verteidigt die Corona-Schutzmaßnahmen: "Dass wir uns in einem politischen Ausnahmezustand befinden, zeigt nur, dass die Regierung ihren Job macht: Sie schützt die Schwächsten in der Gesellschaft vor einer tödlichen Gefahr, die derzeit anders nicht abzuwehren ist."
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Politik

Zum ersten Mal sprach am 21. April mit Mansour Abbas, einem Abgeordneteten der Vereinigten Liste, ein arabisch-israelisches Mitglied der Knesset an Israels Holocaust-Gedenktag. Ein "Meilenstein" in der sich wandelnden Zukunft Israels, meint der israelische Philosoph Omri Boehm auf Zeit Online: "Um den tiefgreifenden Wandel zu verstehen, dessen Zeuge wir werden, muss man sich vor Augen führen, dass die Erinnerung an den Holocaust in Israel nie eine staatsbürgerliche Verantwortung war. Sie wurde als Sache der Juden aufgefasst - also nicht als öffentliche, sondern als nationale Veranstaltung, die nicht alle Staatsbürger als solche, sondern alle Juden einbezieht. Im Land der Überlebenden schien es immer offensichtlich zu sein, dass die Erinnerung überwiegend eine der Juden, für die Juden und deshalb durch die Juden ist."

Ulrich M. Schmid schwant in der NZZ nichts Gutes beim Blick in die von Wladimir Putin geplante neue russische Verfassung: "Der heutige Staat präsentiert sich nun als Synthese aller bereits bekannten politischen Ordnungen. Zusammengehalten wird der Vielvölkerstaat der Russländischen Föderation durch die russische Kultur. Explizit nennt der neue Verfassungstext erstens die Sprache des 'staatsbildenden Volkes', also der Russen; zweitens die 'tausendjährige Geschichte', die auch die Kiewer Rus auf dem Gebiet der heutigen Ukraine einschließt; sowie drittens den Glauben an Gott (ein Mitglied der Verfassungskommission hatte sogar vorgeschlagen, die russische Orthodoxie als wichtigste Religion zu erwähnen)."
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Medien

Auf staatliche Anordnung musste nun der größte Sender der Philippinen, ABS-CBS, seinen Betrieb einstellen, meldet Arne Perras in der SZ. Präsident Rodrigo Duterte hatte sich schon lange auf den Sender eingeschossen, schreibt er: "ABS-CBN wagte es, schonungslos über die Menschenjagden und Exzesse des sogenannten 'Anti-Drogen-Krieges' zu berichten, den Duterte nach seinem Wahlsieg 2016 befohlen hatte. Zehntausende fielen den blutigen Razzien zum Opfer, fast ausschließlich in den Elendsvierteln. Dutertes Zorn aber richtet sich nicht alleine gegen ABS-CBN. Das Lager des Präsidenten setzt stark auf Trollarmeen in den sozialen Medien, um Kritiker einzuschüchtern. Wer die autokratischen Tendenzen des Staatschefs anprangert, muss damit rechnen, mit juristischen Verfahren überzogen zu werden."

Weiteres: Ebenfalls in der SZ berichten Nadia Pantel und Nicolas Richter von der Anzeige der WDR-Journalistin Ann-Kathrin Stracke, die dem ehemaligen französischen Präsidenten Valery Giscard d'Estaing sexuelle Belästigung vorwirft.
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Gesellschaft

Wer geht zu den "Hygienedemos"? In der taz nimmt Erik Peter die links- und rechtsextreme Szene aufs Korn, die mit der Einigkeit eines Hufeisens vor der Berliner Volksbühne gegen Maskenpflicht und Lockdown demonstriert: "Hinter den vermeintlichen Bürgerrechtsprotesten kommen seltsame Überzeugungen zum Vorschein: Dabei sind die Leugnung der Gefährlichkeit von Covid-19 und die Ablehnung der Maskenpflicht verbindende Elemente. Beliebt ist es inzwischen auch, Bill Gates für das Virus verantwortlich zu machen und Furcht vor Zwangsimpfungen zu schüren. Von den Berichten über die Hygienedemos auf Youtube-Kanälen ist es nur ein Klick bis zur nächsten großen Verschwörung."

Freitag-Autor Timo Feldhaus arbeitete in der Volksbühne, als Chris Dercon versuchte, einen Neuanfang für das Haus zu definieren. Und die wilden Proteste damals erinnern ihn doch sehr an die Aluhüte vor dem Theater heute: "Sie agierten im Modus einer Kulturschutztruppe, die am Tage wetterte und nachts Fäkalien an unsere Bürotüren schmierte. In den Zeitungen konnten man lesen, dass es in Deutschland nicht möglich wäre, dass alte Linke und neue Rechte gemeinsam auf die Straße gingen und was kaputtschlugen, wie in Frankreich. Aber auf den Schnellstraßen von Facebook und Twitter trafen sie sich nun genau an dem dunklen Waldstück, wo man scharf rechts zur Volksbühne abbog. Sie waren das Volk. Und das würde man ja wohl noch sagen dürfen."

Die Länder haben ihre ganz eigenen Vorstellungen über eine Zusammenarbeit mit der Ditib: Rheinland-Pfalz hat eine "Zielvereinbarung" zur Zusammenarbeit abgeschlossen, Hessen genau diese wieder beendet. Die Türken sprechen von den "naiven Deutschen", schreibt Necla Kelek in der NZZ und fordert die deutsche Politik auf, sich der "interventionistischen Islampolitik" der Türkei zur Wehr zu setzen.
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Geschichte

Katja Gloger widmet sich auf einer Seite in der Zeit dem besonders dunklen Los der sowjetischen Kriegsgefangenen, das - nach einem Wort Joachim Gaucks - bis heute im "Erinnerungsschatten" liegt: "Zwischen 5,3 und 5,7 Millionen Rotarmisten, unter ihnen auch einige wenige Frauen, gerieten nach 1941 in deutsche Kriegsgefangenschaft, um eine genauere Zahl ringen Historiker noch immer. Rund drei Millionen, mehr als jeder Zweite, kamen in deutscher Gefangenschaft ums Leben. Damit sind die sowjetischen Kriegsgefangenen die zweitgrößte Opfergruppe nach den europäischen Juden." Weder im Westen, noch im Osten wurden diese Verbrechen nach dem Krieg thematisiert: Im Westen, weil Unternehmer profitiert hatten, im Osten, weil ein Gedenken der Heroisierung der Roten Armee widersprochen hätte. Und Stalin schickte die Überlebenden schließlich in ein zweites schwarzes Loch: "Viele der rund zwei Millionen repatrianty wurden anschließend in Fabriken, im Uranbergbau, in Kohleminen oder Holzfällkommandos erneut als Zwangsarbeiter eingesetzt. Als 'Sondersiedler ohne das Recht, den Wohnort zu verlassen', schickte man sie in entlegene Gebiete Sibiriens oder Kasachstans. Vermeintliche oder tatsächliche 'Kollaborateure' deportierte man in die Lager des Gulag."

Ganz anders als in Russland wird in der Ukraine des Kriegsendes gedacht, erzählt der Übersetzer und Journalist Bernhard Clasen in der taz: "Nicht hinnehmbar ist für die Ukraine der in Russland gebräuchliche Begriff 'Großer Vaterländischer Krieg', begann dieser doch erst 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. In der Westukraine herrschte schon 1939 Krieg. Und der war ein Ergebnis des Hitler-Stalin-Paktes, bei dem Deutschland und die Sowjetunion Polen unter sich aufgeteilt hatten. Das damals polnische Lemberg war der Sowjetunion zugeschlagen worden."

Ebenfalls in der taz kommt Jochen Schimmang nochmal auf Richard von Weizsäckers berühmte Rede von 1985 zurück. Im Tagesspiegel analysiert der Historiker Paul Nolte die Rede. In der Jüdischen Allgemeinen wirft Samuel Salzborn einen kritischen Blick auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung, auf die man hier doch so stolz ist, und schreibt über die Diskrepanz zwischen offiziellem Gedenken und dem Erinnern in Familien.
Archiv: Geschichte