9punkt - Die Debattenrundschau

Selbstbeweihräucherungen, etwa 600 davon

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2020. In der SZ erklärt die Philosophin Eva Weber-Guskar, warum pluralistische Ansätze die besten sind, um eine Krise zu bekämpfen. In La Règle du jeu weigert sich Bernard-Henri Lévy kategorisch, dem Virus Sinn zu geben. Politico.eu  beobachtet, wie China Druck auf Europa ausübt, um seine Version der Corona-Geschichte durchzusetzen. Die NZZ fragt, warum Stalin das Gerücht von Hitlers Weiterleben verbreitete, obwohl er wusste, dass er tot ist. Die Welt fragt, ob das mit der dezentralen Corona-App wirklich so eine gute Idee war. Und im Perlentaucher schreibt Lazlo Kornitzer einen zornigen Brief an Ursula von der Leyen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.04.2020 finden Sie hier

Europa

Im Perlentaucher protestiert der Autor, Übersetzer und Filmemacher Laszlo Kornitzer gegen die anhaltende Subventionierung Ungarns durch die EU. In einem Brief an Ursula von der Leyen schreibt er: "Ungarn ist ein narzisstisch, radikal rechtsnationalistisch, feudalfaschistisch regiertes Land. Faschismus ist nicht erst, wenn Leute an Laternen hängen. Einstweilen teilt Orbán persönlich dem Volk mit, wer gesund ist und wer nicht. Übrigens lachen Orbán & Co. Sie höhnisch aus, lachen Ihre Kollegen höhnisch aus, lachen uns Bürger höhnisch aus und treten unsere Vorstellungen von lebbarem Leben mit Füßen. Denn sie haben uns ausgetrickst, lautet ihr Mantra, da wir sie für unsere Zersetzung bezahlen, fördern, umschmeicheln."
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Ideen

Soll man den Lockdown verlängern, um vor allem ältere Menschen zu retten oder ihn aufheben, um die Wirtschaft zu retten und Kinder wieder in die Schule und auf den Spielplatz lassen zu können - diese Alternativen sind für die Philosophin Eva Weber-Guskar keine, jedenfalls noch nicht. Sie hält es eher mit dem schottischen Philosophen William David Ross, erklärt sie im Interview mit der SZ, der pluralistische Ansätze bevorzugte, "also solche, die mehrere Prinzipien als Ausgangspunkt zulassen. Wenn diese Prinzipien zugleich nicht für absolut gehalten werden, sondern zunächst alle gleich gültig sind und jedes Mal neu gegeneinander abgewogen werden müssen, dann vermeidet man auch, dass jeder Konflikt gleich ein Dilemma ist. ... Ich bin der Ansicht, dass man damit der Komplexität moralischer Entscheidungssituationen womöglich eher gerecht wird. Sie verhilft dazu, dass man sich nicht zu schnell dilemmatisch gelähmt fühlt, also handlungsunfähig oder unter enormem Druck. Stattdessen kann man einsehen, dass man sich aus guten Gründen für eine Handlung entscheidet, obwohl man sie zum Teil auch bedauert."

Wir wissen einfach noch so wenig über das Virus, erklärt der Infektiologe Jeremy Farrar, der in einem Interview mit Zeit online ebenfalls ermutigend pluralistische Ansätze verficht: "Die beste Strategie ist deshalb, R0 [Reproduktionsrate des Virus] so niedrig wie irgendwie möglich zu drücken und währenddessen die Lektionen von Südkorea, Singapur und auch Deutschland zu lernen ... Und während wir all das machen, müssen wir nach echten Auswegen suchen." Dazu gehört eine Impfung, an die Farrar in absehbarer Zeit fest glaubt. "Aber es stimmt: Wir dürfen nicht alle Hoffnung auf eine einzige Lösung setzen, um aus dieser Situation herauszukommen. Hätten wir Mitte der Achtzigerjahre, als HIV sich über die ganze Welt zu verbreiten begann, alles auf eine Impfung gesetzt, wäre das eine Katastrophe gewesen. Denn 35 Jahre später gibt es noch immer keine. Deshalb müssen wir mit derselben Energie auch an anderen Ausstiegsstrategien arbeiten."

Schaum braucht Raum! Und den lässt die FAZ der Historikerin Ute Frevert, die ausführlich über das "social distancing shaming" schreibt, das jetzt angeblich in deutschen Städten grassiert und das sie vom Hundertsten ins Tausendste katapultiert: "Nazis trieben Liebespaare durch die Straßen, die angeblich die 'deutsche Ehre' beschmutzten. Die RAF schließlich demütigte 1977 Hanns Martin Schleyer, indem sie dem Arbeitgeberpräsidenten durch ein Schild als 'Gefangenen' auswies, dem ein revolutionärer Urteilsspruch bevorstand - ausgesprochen von der militanten Avantgarde des vom Kapitalismus geknechteten Volkes. Solche Praktiken in Volkes Namen bedienten sich bei den klassischen Schand- und Ehrenstrafen."

Corona ist unser Erdbeben von Lissabon! Es gibt keine Lektion, die uns das Virus erteilt - das Virus ist dumm, schreibt Bernard-Henri Lévy in La Règle du Jeu und wendet sich gegen "Profiteure" unter linken und rechten Intellektuellen, die die Krise für ihre Denkmuster ausbeuten. "Ich habe mein ganzes Leben gegen die Obszönität einer solchen säkularisierten Religion gekämpft. Seit meinen Anfängen, seit der Zeit der 'Barbarei mit menschlichem Antlitz' und meiner Lektüre Jacques Lacans verfechte ich die Idee, dass der Versuch, einer Sache Sinn zu geben, die keinen hat und dieses Sinnlose, das das Unsagbare am Bösen ist, sprechen zu lassen, eine der Quellen von Psychosen oder schlimmer noch des Totalitarismus ist."

Einen eher düsteren Blick in die Zukunft wirft der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanović im Interview mit Zeit online. Er hofft, dass wir aber etwas daraus lernen: "Diese Pandemie zeigt, dass wir mehr internationale Koordinierung brauchen, nicht weniger. Die Welt wäre besser davongekommen, wenn die Weltgesundheitsorganisation stärker gewesen wäre, wenn es mehr internationale Absprachen gegeben hätte. Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hat die Weltgemeinschaft genau das verstanden: Dass wir effektive internationale Organisationen brauchen. Ich weiß, ich klinge vielleicht idealistisch. Aber wir könnten da einige Dinge sehr viel besser machen."

Michael Wolffsohn reicht es nicht, über Achille Mbembes Äußerungen zu Israel nachzudenken, er will in seiner NZZ-Kolumne gleich erklären, "weshalb manche Li-Libs (sowie über diese hinaus weite Teile der pazifistisch und bis zur Corona-Epidemie universalistisch programmierten westlichen Nachkriegsgesellschaften) sich selbst subjektiv durchaus nicht als Antisemiten/Antizionisten wahrnehmen, es jedoch objektiv - genauer: de facto - sind". Mbembe sieht Wolffsohn im Grunde nur als Prototypen dieses allgemein grassierenden Linksliberalismus: "Mbembes philosophische Kost ist ziemlich dünne Suppe. Im Kern ist sie ein postkolonialistischer Um- und Aufguss Frantz Fanons. Wilde Vergleiche von Israel und Nazis oder südafrikanischer Apartheid, wobei Israel, versteht sich, schlimmer sei. Dazu die aggressive, nicht selten dem NS-Kronjuristen Carl Schmitt entlehnte Gedanken- und Sprachführung."
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Politik

China übt weiterhin erheblichen Druck auf Europa aus, um seine Propaganda-Version der Corona-Krise durchzusetzen, berichtet ein Reporterteam bei politico.eu. So erschien jetzt zum Beispiel auf der Seite der chinesischen Botschaft in Paris ein Artikel "mit dem Titel 'Warum die Covid-19-Epidemie so politisiert wird', der einem namenlosen chinesischen Diplomaten zugeschrieben wird. Die Frage nach der chinesischen Verantwortung bei der Ausbreitung des Virus wird mit dem Vorwand beantwortet, dass 'manche Westler beginnen, das Vertrauen in die freiheitliche Demokratie zu verlieren' und dass 'westliche Länder psychologisch schwach' geworden seien. Der Artikel erschien am gleichen Tag, als deutsche Behörden offenbarten, dass Diplomaten Deutschland aufgefordert hatten, positiv über China zu sprechen."

Screenshot von der New York Times

Reporter der New York Times haben die 260.000 Wörter, die Donald Trump bei den Pressebriefings zu Corona ausgesprochen hat (gestern gab es wieder eins, obwohl er zuvor versprochen hatte, damit aufzuhören), statistisch untersucht und kommt zu folgendem Ergebnis: "Die bei weitem häufigsten Äußerungen von Herrn Trump in den Briefings sind Selbstbeweihräucherungen, etwa 600 davon, die oft auf Übertreibungen und Unwahrheiten beruhen. Er spricht anderen (mehr als 360 Mal) seine Anerkennung für ihre Arbeit aus, aber er gibt auch anderen (mehr als 110 Mal) die Schuld für Unzulänglichkeiten in der Reaktion der Bundesstaaten und des Bundes. Trumps Versuche, Einfühlungsvermögen zu zeigen oder an die nationale Einheit zu appellieren (etwa 160 Fälle) machen nur ein Viertel der Anmerkungen aus, mit denen er sich selbst oder einem Spitzenmitglied seines Teams Komplimente machte."
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Geschichte

In der NZZ erinnert Marc Tribelhorn an den Tod Hitlers und Mussolinis vor 75 Jahren - und den Umgang mit ihren Leichen. Etwas bizarr mutet Stalins Reaktion auf Hitlers Selbstmord an: Er hatte zwar mit den Zähnen Beweise dafür, dass die beiden verbrannten Leichen in einem Grab im Garten des Führerbunkers die von Hitler und Eva Braun waren, dennoch wollte er Hitler nicht von der Fahndungsliste nehmen: "Wohl auf seine Anweisung behauptet Marschall Schukow im Juni 1945, es sei keine Leiche als Hitler identifiziert worden: 'Er mag im letzten Moment noch mit einem Flugzeug entkommen sein.' Auf der Potsdamer Konferenz Ende Juli äußert Stalin die Vermutung, Hitler halte sich in Spanien oder Südamerika verborgen. Und im November erzählt er in Moskau dem ehemaligen Roosevelt-Berater Harry Hopkins, der deutsche Diktator sei wahrscheinlich in einem Unterseeboot nach Japan geflüchtet. Wittert der Kreml-Chef eine Verschwörung oder setzt er zur Verwirrung des Westens auf Desinformation?"
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Internet

"Third Party Cookies" (also kleine Dateien von Drittanbietern, die der Nutzer wie ein Corona-Virus mit sich trägt und das ihm personalisierte Werbung beschert) sollen verboten werden. Die Springer-Gruppe und andere Medien bilden jetzt Log-in-Allianzen, die ein Login erforderlich machen, bevor man lesen darf, berichtet Igor Hirsch bei Meedia: "Log-In-Allianzen versprechen, Nutzern die notwendige Datensicherheit zu geben und Unternehmen trotzdem das zur Verfügung stellen will, was diese brauchen: eben - Daten... Die Idee dahinter ist einfach: Mehrere Unternehmen schließen sich zusammen, um ein gemeinsames Login-Tool am Markt zu etablieren. Nutzer sollen sich so einfacher für die digitalen Angebote entscheiden. So bleiben die Daten und Profile auch bei einem überschaubaren Kreis von Firmen."
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Überwachung

Mit der Entscheidung, die von einer geplanten Corona-App gesammelten Daten nur dezentral zu speichern, haben die Datenschützer einen Pyrrhussieg errungen, fürchtet in der Welt Johannes Boie. Er hätte eine zentrale Lösung - alle Daten landen beim Robert-Koch-Institut - bevorzugt, einfach weil er dem Institut mehr vertraut als Google und Apple: "Diese Firmen bauen nun nämlich in die Handys (Apple in iPhones, Google in Android-Geräte) die Technik ein, die die Daten sammelt und bearbeitet. Die beiden Konzerne sind nicht demokratisch legitimiert. ... Und wer garantiert dafür, dass die Daten tatsächlich dezentral auf den Handys der Nutzer bleiben? Für beide Konzerne arbeiten mit die besten Programmierer der Welt, sie können in den Code einbauen, was auch immer ihnen beliebt, auch eine kleine Hintertür oder eine Hochladefunktion. Google und Apple müssen immer auch einen Ausgleich mit amerikanischen Behörden finden, deren Datenhunger Legende ist und die schon öfter eine Hintertür verlangt haben."

Überhaupt ist unklar, was die App eigentlich bringen soll, schreibt Tanja Tricarico in der taz: "Vorsichtigen Schätzungen zufolge müssten mindestens 60 Prozent der Bevölkerung eine solche App installiert haben, damit auch nur annähernd valide Aussagen getroffen werden können. In Deutschland wären das etwa 50 Millionen Menschen, EU-weit rund 350 Millionen Bürger:innen. Erhebungen von Bitkom oder anderen IT-Verbänden belegen aber, dass nicht annähernd alle ein Smartphone haben, um die App überhaupt zu nutzen."
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Gesellschaft

Zwei Jahre nach Abschluss des Prozesses gegen Beate Zschäpe, die als gleichberechtigte Komplizin von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im NSU-Trio angeklagt war, legen die Richter ihre 3.000-seitige Urteilsbegründung vor, die Konrad Litschko in der taz zumindest in Bezug auf Zschäpe mit Befriedigung liest. An der Schwere ihrer Schuld sehe das Gericht keine Zweifel: "Zschäpes Tatbeiträge seien 'von überragender Wichtigkeit' für die Terrorserie gewesen, ja 'geradezu Bedingung'. Alle Taten des Trios hätten 'gemeinsam, arbeitsteilig in bewusstem und gewollten Zusammenwirken' stattgefunden. Zschäpe habe dabei das Trio mit Alibis getarnt, die Abwesenheiten der Uwes mit Vorwänden verschleiert - und auch mit den Männern die Tatorte und Opfer ausgesucht. Dass sie bei den Taten nicht vor Ort war, sei 'unverzichtbarer' Teil des Plans gewesen - um die Wohnung abzusichern, die als 'Zentrale' diente. Und um dort im Ernstfall Beweise zu vernichten und die Bekenner-DVDs zu verschicken." Weniger überzeugt ist Klitschko von den milden Urteilen gegen Komplizen.

In der SZ denkt Thomas Steinfeld darüber nach, das die Coronakrise über die Kleinfamilie offenbart: Wie man jetzt sehen könne, existiert sie in ihrer ursprünglichen Form und als Hort des Guten und Geschützten einfach nicht mehr, meint er. "Eine Schule, die ihre Notwendigkeit zu einem großen Teil aus der Verpflichtung bezieht, die ihr anvertrauten Kinder ebenso günstig wie unauffällig zu verwahren, kann unmöglich eine gute Schule sein. Eine Gesellschaft, in der man Kinder nachmittags nicht unkontrolliert herumlaufen lassen kann, ohne befürchten zu müssen, dass ihnen etwas angetan wird oder dass sie etwas anstellen, das nicht wiedergutzumachen ist, kann unmöglich eine freie Gesellschaft sein. Und wenn Kinder, Mütter und manchmal auch Väter zunehmend zum Opfer 'häuslicher Gewalt' zu werden drohen", spreche das auch nicht gerade für die höhere Sittlichkeit der Kleinfamilie.
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