9punkt - Die Debattenrundschau

Denkbar ungünstiger Zeitpunkt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2020. Eine gute Nachricht in der Coronakrise: Der menschlichen Fähigkeit zum fröhlichen Schwadronieren hat das Virus bisher nicht geschadet. Wir bringen einige der gedankenreichsten Auszüge: Ist es der Kult des Marktes, der Menschen dazu bringt, in der Krise Opfer von den Alten zu verlangen, fragt Thomas Assheuer in Zeit online. Heinz Bude freut sich im Tagesspiegel, dass nun auch Soziologen eine Welt mitgestalten können, in der "nicht mehr Freiheit die große Formel sein kann". Richard David Precht schlägt in der FR eine Amazon-Steuer vor. Und laut Gusel Jachina in der Berliner Zeitung hat die Welt gerade eine "Impfung gegen Aggression" erhalten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.04.2020 finden Sie hier

Politik

Für die New York Times haben Jin Wu and Allison McCann die Sterblichkeitszahlen in einigen Ländern mit Zahlen aus den Vorjahren verglichen und herausgefunden, dass ingesamt mindestens 25.000 mehr Menschen an Covid-19 gestorben sind als bisher bekannt: "Diese Zahlen untergraben die Vorstellung, dass viele Menschen, die an dem Virus gestorben sind, vielleicht sowieso bald gestorben wären. In Paris sind jeden Tag mehr als doppelt so viele Menschen gestorben wie sonst üblich, weit mehr als zum Höhepunkt einer schlimmen Grippesaison. In New York City ist die Zahl jetzt viermal so hoch wie die normale Zahl. "
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Stichwörter: Coronakrise, Covid-19

Ideen

Mit einigen erstaunlichen Auslassungen registriert Zeit-Redakteur Thomas Assheuer Diskurse, die auch in der täglichen Presseschau immer wieder zitiert wurden und die - stark vergröbert - fragen, ob man die Alten nicht für das Wohl der Gemeinschaft stärker isolieren oder gar opfern solle. Assheuer ordnet diesen Zynismus allein einem irrationalen Kult des Marktes zu: "Das Leben der Alten gegen das 'Leben' des globalen Kapitalismus? Solche Zynismen kann nur unterbreiten, wer ernsthaft glaubt, die Wirtschaft sei ein herrischer Willkürgott, der immer wieder und zu Recht tragische Entscheidungen verlangt - man muss ihm opfern, damit er den Endverbrauchern des irdischen Lebens gewogen bleibt. Im Up and Down der Konjunkturen und Börsenkurse tritt der Gott der Ökonomie aus dem Dunkel seiner Unerkennbarkeit ins Licht der Welt." Dass es bei der Linken genau die gleichen Diskurse gibt: Die Alten sind am Klimawandel schuld, nun sollen sie Opfer bringen, notiert Assheuer nicht. Aber im Perlentaucher kann er es etwa hier nachlesen.

Der Soziologe Heinz Bude freut sich im Gespräch mit Christian Schröder vom Tagesspiegel, dass auch Soziologen nun als Experten gelten, die zusammen mit Virologen die Politik über den Ausgang aus der Krise beraten dürfen. Und er freut sich, dass der Staat zurück ist: "nicht als autoritärer Staat, den man fürchten müsste, auch nicht als patrimonialer Staat, der uns vorgibt, wie wir zu leben hätten. Sondern ein Staat, der auf solidarischer Einsicht beruht. In unserem Bemühen, gemeinsam durch die Krise durchzukommen, merken wir, dass wir auf eine Instanz angewiesen sind, die sanktionsbeschwert ist, Vorgaben für alle machen kann. Die allermeisten finden das gut." Wir müssten nun allerdings auch alle gemeinsam einsehen, dass "nicht mehr Freiheit die große Formel sein kann. Die Formel lautet nun: Schutz. Freiheit und Schutz zusammenzudenken, das wird uns die kommenden 20 Jahre beschäftigen."

Das Coronavirus und das Internet schweißen uns zum ersten Mal zu einer Art Weltgesellschaft zusammen, behauptet die russisch-tatarische Schriftstellerin Gusel Jachina in der Berliner Zeitung: "Soeben wurde die Welt noch vom Fieber der Aggression geschüttelt. Sie erlebte Handelskriege, Ölkriege, Sanktionen, Propagandakriege und mancherorts ganz reale Waffengänge. Im Moment ist das - nahezu alles - als unwichtig in den Hintergrund getreten. Aggression wurde auf Pausenmodus geschaltet. Etwas Unvorstellbares ist geschehen: Die Pandemie wirkt wie eine Impfung gegen Aggression."

Ganz pragmatische Vorschläge macht dagegen der Philosoph Richard David Precht im Gespräch mit Joachim Frank von der FR: "Für die Stützung des Einzelhandels könnte man eine Online-Steuer für die großen, globalen Marktteilnehmer erheben. Amazon und die anderen Online-Handelsriesen sind die großen Gewinner der Corona-Krise. Wenn man deren Umsätze mit 25 Prozent besteuern würde, käme ein gigantischer Fonds zusammen, aus dem man den qualifizierten stationären Einzelhandel stützen und den Gastronomen unter die Arme greifen könnte."

In der NZZ warnt der Diplomat Paul Widmer, die Bekämpfung des Coronavirus als Krieg zu beschreiben: "Warum gefällt den Regierenden die Kriegsmetaphorik? Das hängt eben mit den Mitteln zusammen, die im Krieg erlaubt sind, im Frieden jedoch nicht. Das Notrecht gibt ihnen mehr Macht, als die reguläre Gewaltenteilung vorsieht. Kommt noch hinzu, dass sich mehr Macht auch politisch auszahlt. Mit gutem Krisenmanagement winkt der Lorbeerkranz."

Außerdem: The Nation bringt ein großes Gespräch mit Thomas Piketty über sein neues Buch "Kapital und Ideologie". Bei Dlf Kultur unterhalten sich Andrea Gerk und René Aguigah mit dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein über die Antisemitismusvorwürfe gegen Achille Mbembe (unsere Resümees), mehr auch hier.
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Europa

Eine überraschende Geschichte erzählt Gerd Höhler bei Zeit online: Griechenland gehört zu den Ländern in Europa, die die Coronakrise bei weitem am besten gehandhabt haben - mit einer Sterberate, die noch weiter unter der Deutschlands liegt. Zu verdanken ist es einerseits dem Experten Sotiris Tsiodras, so Höhler, und andererseits einem sehr frühzeitigen Agieren der von Tsiodras beratenen Regierung. Sie hatte allerdings auch gute Gründe: "Die Pandemie traf Griechenland zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Nach acht Krisenjahren, in denen das Land mehr als ein Viertel seiner Wirtschaftskraft verlor, ist das staatliche Gesundheitswesen in einem desolaten Zustand. Überall fehlt es an Personal. Mehr als 20.000 Ärzte sind während der Krise ausgewandert. In den Hospitälern gibt es oft nicht einmal das nötigste Material. Als die erste Infektion gemeldet wurde, verfügten die staatlichen Kliniken gerade mal über 565 Intensivbetten."
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Geschichte

Am 24. April wird des Völkermords an den Armeniern vor 105 Jahren gedacht, an den Ronya Othmann und Cemile Sahin in ihrer taz-Kolumne erinnern. Und daran, dass auf dem Friedhof der Sehitlik-Moschee in Neukölln, die zur türkischen Religionsbehörde Ditib gehört, zwei Mitorganisatoren des Genozids liegen. Auf der Website der Moschee werden sie  als "'wichtige und bekannte Persönlichkeiten' des Friedhofs gelistet. Kein Wort darüber, welche Rolle sie beim Völkermord spielten, dafür die Notiz, dass alle drei von Armenier*innen ermordet worden sind. Auch einige türkische Interessenverbände in Deutschland (Türkische Gemeinde, Ditib, UETD) erkennen den Genozid nicht an oder drücken sich um klare Benennung. Doppelte Standards: hier Rassismus beklagen, aber selbst Genozid relativieren."

Die Deutschen sollen zum 8. Mai (nach russischer Lesart zum 9. Mai) endlich den Russen dafür danken, dass die Sowjetarmee Deutschland befreite, schreibt Götz Aly in der Berliner Zeitung: "Man mag von Präsident Putin halten, was man will, aber in diesen historischen Zusammenhängen vertritt er die Völker Russlands, die Familien, die Jungen und die Alten... Am 27. Januar 2020 hatte man ihn von der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz vorsätzlich ausgeschlossen. Und das, obwohl sowjetische Soldaten diese urdeutsche Mordstätte unter unermesslichen Opfern befreit hatten."

In der NZZ erinnert Claudia Mäder an den Bau der Bastille vor 650 Jahren: "Der politische Albtraum der Ordnung bleibt indessen nicht auf diesen einen Ort beschränkt, und er ist an keine spezifische Zeit gebunden. Wer heute in Frankreich gebüßt wird, weil er das Haus laut Ausgehformular zum Joggen verlässt, dabei aber kein ausreichend sportlich wirkendes Tenue trägt, lebt weder in einer Haftanstalt noch im absolutistischen 17. Jahrhundert. Aber er bekommt eine Ahnung von der Kontrollutopie, die in der politischen Macht auch heute grassiert."

Besprochen wird die Ausstellung "Nonnen. Starke Frauen im Mittelalter" im Landesmuseum Zürich (NZZ).
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Gesellschaft

Die Absage des Münchner Oktoberfestes macht Felix Lee in der taz klar: Die Lage wird sich noch bis weit ins nächste Jahr nicht normalisieren. Ohne Impfstoff wird es immer wieder Lockdowns geben, "wahrscheinlich mehrfach. Das zumindest ist die Erfahrung, die Taiwan, Hongkong, Singapur und Südkorea gerade machen. Durch rasches Handeln war es ihnen gelungen, die Epidemie zu stoppen. Sie konnten ihre Maßnahmen wieder lockern. Singapur wird nun von einer zweiten Infektionswelle überrollt, die anderen stehen kurz davor. Nun gelten die Sperren wieder."

In der SZ fällt Agnes Striegan auf, dass die Probleme im Homeoffice - wie kann ich Arbeit und Privates trennen, wann ist Feierabend - sehr alt sind. Jedenfalls für Frauen: "Gerade Frauen erledigten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Lohnarbeit in ihren Wohnungen: Große Teile der Textilbranche lebten davon, dass Frauen zu Hause Hutbänder und anderes mehr nähten; Produkte, für die sie keine Maschine brauchten. Eigentlich stammt unsere Vorstellung von der Wohnung als arbeitsfreie Zone aus der Zeit nach 1945. Und diese Vorstellung ist - oder war - nur dann einigermaßen realistisch, wenn mit Arbeit bezahlte Arbeit gemeint ist. Denn das Zuhause beherbergt eine Menge unbezahlter Arbeit: Kochen, Waschen, Putzen, Kinder erziehen, überhaupt das Familienleben organisieren. Man spricht auch von Care-Arbeit: Reproduktionsarbeit, Pflegearbeit, Fürsorgearbeit. Die wird nur oft übersehen."

In Indien wird die Coronakrise von Hindufanatikern genutzt, weiter Hass gegen Muslime zu schüren, berichtet der Lehrer V. Ramaswamy in einem Brief aus Kalkutta an die SZ: "Eine Versammlung der Tablighi Jamaat, einer muslimischen Religionsgemeinschaft, die vor dem Lockdown in Delhi stattfand, lieferte einen geeigneten Vorwand. Die aus fundamentalistischen Hindus bestehende Regierung in Indien und ihre Schoßhündchen unter den Medien sprangen schnell auf und beschuldigten diese Organisation und Muslime im Allgemeinen, das Virus verbreitet zu haben. Manche unterstellten sogar, dies sei absichtlich als terroristischer Akt geschehen. ...  Dieses Virus des Hasses ist weit tödlicher als das Coronavirus."

Männer sterben früher als Frauen. Aber das Alter gleicht sich an, wo Frauen gleichgestellt sind, notiert Annika Ross bei emma.de mit Bezug auf eine Studie der  Bielefelder Gesundheitswissenschaftlerin Petra Kolip für das Robert Koch-Institut. Das Problem erkläre sich nicht nur durch genetische Faktoren, sondern auch aus der Tatsache, "'dass Männer tendenziell einen ungesünderen und riskanteren Lebensstil pflegen', erklärt Kolip... Dazu zählt laut Kolip vor allem, dass sie mehr trinken und rauchen als Frauen, aber auch die Tatsache, dass Männer seltener zum Arzt gehen. 'Aber auch riskantes Verhalten, wie zum Beispiel beim Autofahren, sowie die Wahl riskanter Arbeitsplätze beeinflusst die Lebenserwartung.' Außerdem haben Männer ein deutlich höheres Risiko, bei einem Unfall ums Leben zu kommen." Wo Frauen gleichgestellt sind, milderten sich diese Faktoren.
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