9punkt - Die Debattenrundschau

Fassade eines versteckten Albtraums

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2020. In Libération schlägt der Soziologe Michel Wieviorka eine Art politische Graswurzelbewegung vor, um die politische Zukunft nach Corona zu denken.  Die Corona-Krise ist ein Triumph für Viktor Orban, schreibt Gergely Márton, ehemals Redakteur von Népszabadság, in der taz. Thomas Gebauer von "Medico International" fordert in der taz eine "kosmopolitische Solidarität", denn die Krise droht sich nun in armen Ländern zuzuspitzen. Die Autorin Katherine Funke bestätigt das in der SZ für Brasilien. Auch Observer-Kolumnist Kenan Malik findet eine Solidarität, die sich nur auf die "Community" bezieht, nicht ausreichend.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2020 finden Sie hier

Ideen

Frankreich auf dem Weg zur Sechsten Republik? Eine neue politische Zukunft nach der Corona-Krise müsse gedacht werden, schreibt der Soziologe Michel Wieviorka in Libération, der weder bei Macron, noch in den klassischen Parteien der französischen Linken oder Rechten wirklich Ideen erblickt. Darum ruft er zu einer Art intellektuellen Graswurzelbewegung auf: "Es ist dringend notwendig, Kollektive und Arbeitsgruppen zu bilden, die die politische Zukunft von unten nach oben vorbereiten, ohne sich von den Parteien oder Think Tanks, denen sie nahe stehen, alles zu erwarten. Hier könnte man über die Mittel nachdenken würden, um ein neues politisches, soziales und ökologisches Bündnis für ein konstruktives Gegenprojekt zu bilden, um eine wirksame humanistische Wiederbelebung auf lange Sicht zu strukturieren.

Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte große Krise sein. Wir sollten uns auf Kommendes besser vorbereiten, meint im Interview mit Zeit online auch der Zukunftsforscher Stephan Rammler. Er fordert, erst mal Pflegekräfte besser zu bezahlen. "Das ist besonders wichtig in einer Gesellschaft, die immer älter und somit anfälliger wird. Da ist ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem kein Luxus, sondern Daseinsvorsorge." Und wenn die Wirtschaft wieder angekurbelt wird, sollte man die Kosten der Globalisierung - Umweltschäden durch Transporte - gleich mit einbeziehen, meint er: "Wir sollten dabei die Themen Klimaresilienz und digitale Resilienz gleich mitbearbeiten, zum Beispiel, indem Konjunkturprogramme in diese Richtung zielen. Die Politik muss sich trauen, zu regulieren, das ist das Einzige, was hilft. Es zeigt sich mal wieder, dass der Markt nicht alles alleine lösen kann."

Corona könnte die Art, wie wir leben, in welcher Art von Architektur, so stark ändern wie Tuberkulose, meint im Interview mit der SZ die Architekturhistorikerin Beatriz Colomina, deren jüngstes Buch "X-Ray Architecture" Niklas Maak kürzlich in der FAZ empfohlen hatte (unser Resümee). Heute seien allerdings das größte Problem die Orte, die man nicht sieht, in denen "unsichtbar gelitten" wird: "Deine Freunde sterben, aber die Krankheit, der Tod, alles wird verborgen. Die Bilder von Klinikpersonal, das nach Ausrüstung verlangt, ist die Fassade eines versteckten Albtraums. Die müssen in Räume, die wir nicht zu sehen bekommen. Das ist auch eine Art Architektur, eine beängstigende Architektur. Bei all den Barrieren, die in den sozialen Medien geschleift wurden, ist der Raum, der jetzt tatsächlich im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, komplett verhüllt."

Außerdem: Gabor Steingart sammelt für sein Morning Briefing Stimmen, die gegen die strikten Kontaktsperregebote der Regierung Merkel rebellieren.
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Wissenschaft

Mit Bewunderung blickt die New York Times auf die deutsche Bekämpfung der Corona-Krise. Dass die Zahl der Gestorbenen relativ niedrig sei, habe zwar auch mit statistischen Verzerrungen und dem relativ jungen Alter der meisten Infizierten zu tun, es gebe aber auch ganz klar medizinische Gründe, schreibt Katrin Bennhold: "Schon Mitte Januar, lange bevor die meisten Deutschen auch nur einen Gedanken an das Virus verschwendet hatten, entwickelte die Charité in Berlin einen Test und stellte die Formel online. Als Deutschland Mitte Februar seinen ersten Covid-19-Fall verzeichnete, hatten Laboratorien im Land bereits einen Vorrat an Test Kits."
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Stichwörter: Coronakrise, Corona, Covid-19

Europa

Die Corona-Krise ist ein Triumph für Viktor Orban, schreibt Gergely Márton, ehemals Redakteur von Népszabadság, in der taz. Er könne hoffen, dass auch andere Länder in Europa seinen Weg in die Autokratie beschreiten werden: "Selbstvertrauen kann Orbán aus der Kapitulation der Europäer in der Flüchtlingskrise ziehen. Auch damals ist er vorgeprescht mit teils absurder Härte. Er ließ einen Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze errichten. Das Land baute zwei geschlossene Zentren für die Abwicklung der Asylanträge gleich am Stacheldraht. (...) Letzte Woche urteilte der Europäische Gerichtshof, Ungarn, Tschechien und Polen hätten die Flüchtlingsaufnahme nicht verweigern dürfen. Aber der Richterspruch fühlte sich an wie eine Ermahnung aus einer anderen Zeit. Wer will noch zu den alten Debatten zurück?"

Der konservative ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio geht auf einer Seite in der FAZ die Fragen durch, die gerade akut sind und stellt klar: "Als allgemeine Regel gilt: Wenn die gesetzliche Grundlage besteht, darf der Staat tief in Grundrechte eingreifen, soweit dies ein legitimer Zweck erfordert. Es gibt Zwecke und Ziele des Gemeinwohls, die sind so überragend, so dominant und evident, dass eigentlich die kleinliche Rückfrage verstummen muss, ob ergriffene Maßnahmen geeignet, schonend und nicht in der Wirkung übermäßig hart sind." Am Ende seines Artikels spricht sich Di Fabio gegen Corona-Bonds aus. Ebenfalls in der FAZ fragt der Rechtsprofessor Hinnerk Wißmann nach Wegen "zurück zur tätigen Gesellschaft".
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Politik

Für die Menschen in armen Ländern werden die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise noch weitaus verheerender sein als in den reichen Ländern. Thomas Gebauer von "medico international" fordert darum im Gespräch mit Christian Jakob von der taz internationale Solidarität: "Um der Krise wirksam begegnen zu können, wird die Welt nicht umhinkommen, über globale Umverteilung nachzudenken. Es ist jetzt oft von Solidarität die Rede. Die Gefahr ist, dass es bei einer Solidarität unter Gleichen bleibt, die einen autoritären Wohlfahrtsstaat befördert, wie in Polen oder Ungarn. Stattdessen ist eine kosmopolitische Solidarität nötig, die sich auch in transnationalen Institutionen niederschlägt. Diese könnten etwa dafür sorgen, dass ein hoffentlich bald entwickelter Impfstoff allen zugänglich gemacht wird."

Oft wird aber auch die Solidarität innerhalb einer Community beschworen. Observer-Kolumnist Kenan Malik ist da sehr skeptisch: "Wenn Donald Trump Berichten zufolge einem deutschen Unternehmen Milliarden von Dollar anbietet, um einen Impfstoff herzustellen, der ausschließlich für Amerikaner verwendet werden soll, wenn Deutschland den Export von medizinischer Ausrüstung nach Italien blockiert, wenn Großbritannien anders als Portugal Asylbewerbern während der Corona-Krise Zugang zu Leistungen und medizinischer Versorgung verweigert, dann tut dies jeder für den Schutz einer bestimmten Gemeinschaft oder Nation."

In Brasilien droht eine Katastrophe, fürchtet die brasilianische Autorin Katherine Funke in der SZ. Bolsonaro und seine Regierung verweigerten sich immer noch der Realität: "Am 24. März sagte er im Fernsehen, es stimme, die Krankheit werde vielleicht alte Menschen töten, doch für die meisten wäre es nicht mehr als eine 'kleine Grippe' (grippezinha). Auch die Kinder sollten seiner Meinung nach weiter zur Schule gehen. Als der Präsident seinen Slogan weiterhin in den Medien verbreitete, blockierte die Justiz seine Kampagne. Doch die großen Unternehmen konnten ihre Strategien nicht schnell genug den neuen Zeiten anpassen und erfanden ihrerseits einen ähnlichen Slogan. Wegen dieser Offensive der großen Konzerne gegen das Recht auf Leben fürchten wir nun um unsere Freunde und Verwandten."
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Gesellschaft

Im Interview mit Zeit online erklärt der Medizinsoziologe Matthias Richter, warum arme Menschen ein deutlich höheres Risiko haben, an Covid-19 zu erkranken: "Menschen aus dem unteren Fünftel der Gesellschaft haben ein rund zwei bis dreifach höheres Risiko für chronische Krankheiten als Menschen aus dem oberen Fünftel. Das gilt für Krebs, Diabetes, koronare Herzkrankheit aber auch schweres Asthma. Das sind quasi fast alle Erkrankungen, die einen Menschen besonders anfällig für eine Covid-19-Erkrankung machen."

Lockdown, Home-Office, Home-Schooling und vor allem Social Distancing - seit wann sind wir eigentlich unfähig, neue Phänomene auf Deutsch zu beschreiben, fragt sich Urs Bühler in der NZZ. "Wie unsinnig dieses Begriffspaar ist, merkt spätestens, wer sich unbefugterweise an die Übersetzung macht: 'soziale Distanzierung'. Predigen nicht jene, die uns diese Maßnahme so dringlich ans Herz legen, wie entscheidend just in diesen Krisenzeiten der soziale Zusammenhalt sei? Die Begriffswahl ist also gewissermaßen die Umdrehung des Fehlgriffs, Kanäle mit anerkanntermaßen ziemlich asozialem Potenzial als 'soziale Medien' zu bezeichnen. Nicht ohne Grund distanziert sich die Weltgesundheitsorganisation deshalb seit einigen Tagen ganz offiziell vom Begriff 'Social Distancing' und versucht, der Ersatzlösung 'Physical Distancing' zum Durchbruch zu verhelfen."
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