9punkt - Die Debattenrundschau

Erfahrungen der Disruption

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2020. Eine Handy-App zum Corona-Tracking muss dem Datenschutz nicht widersprechen und kann dezentral organisiert werden, schreiben Experten bei Netzpolitik. In El Pais mahnt der italienische Premierminister Giuseppe Conte  europäische Solidarität an. Radio Free Asia bezweifelt die chinesischen Statistiken. Außerdem: Die angeblich so "antifaschistische" DDR gehörte zu den Miterfindern des linken Antisemitismus, notiert Marko Martin in libmod.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2020 finden Sie hier

Europa

Aufmacher in El Pais ist ein Interview, das Daniel Verdú mit dem italienischen Premierminister Giuseppe Conte geführt, der seine Forderung nach Corona-Bonds bekräftigt und Länder wie Deutschland und die Niederlande kritisiert: "Diese Länder argumentieren aus einer veralteten Perspektive. Dies ist ein symmetrischer Schock, der alle Länder zugleich betrifft... Deshalb brauchen wir eine starke und geeinte Reaktion und müssen auf außergewöhnliche Instrumente setzen... Wenn die EU ihrer Berufung und ihrer Rolle in dieser historischen Situation nicht gerecht wird, werden die Bürger mehr Vertrauen in sie haben oder werden sie es für immer verlieren?"

Anders als die Rechtsextremen hierzulande scheint Marine Le Pen in Frankreich Vorteil aus der Corona-Krise zu ziehen, auch indem sie aggressiv auf die schlechte Vorsorge der Regierung hinweist, schreibt Michaela Wiegel in der FAZ: "Le Pens Vorteil ist, dass ihre Partei noch nie Regierungsverantwortung getragen hat und deshalb nicht für Versäumnisse geradestehen muss. 56 Prozent der Franzosen glauben inzwischen, dass sie an die Macht gelangen könnte. Vor zwei Jahren waren es laut einer Befragung des Instituts Kantar nur 40 Prozent. Nur noch jeder zweite Franzose sieht in ihr eine Gefahr für die Demokratie."
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Überwachung

Ein Corona-Tracking per Handy-App, das dazu dient die Bewegungen von Corona-Infizierten zu verfolgen, muss dem Datenschutz nicht widersprechen, schreibt eine Gruppe von Experten bei Netzpolitik: "Nach unserer Überzeugung ist eine schnelle und effiziente Kontaktnachverfolgung möglich, ohne in einem zentralen Datenbestand eine riesige Menge sensibler Daten zu sammeln. Ein System zur Kontaktnachverfolgung kann so gestaltet werden, dass die meisten benötigten Datenverarbeitungen nicht zentral, sondern lokal auf den Mobiltelefonen der Teilnehmer*innen stattfinden. Lediglich die Benachrichtigung im Infektionsfall müsste zentral veranlasst werden, und auch dabei könnten Daten verwendet werden, die eine Identifikation der Kontaktpersonen der infizierten Nutzerin durch die zentrale Benachrichtigungsstelle praktisch ausschließen."
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Gesellschaft

Anders als andere einschneidende Ereignisse wie der Mauerfall oder der 11. September, die wir live am Fernseher verfolgten und einschätzen lernten, hat sich die Corona-Krise sozusagen an uns herangeschlichen, beobachtet Alain Claude Sulzer in der Basellandschaftlichen Zeitung: "Wann begann sich das Virus als konkrete Bedrohung in unseren Köpfen einzunisten? (Die Frage, wann es sich wieder entfernen wird, wage ich nicht laut zu formulieren.) Kaum jemand wird sich daran erinnern; ich jedenfalls erinnere mich nicht. Es wird im Fall dieser Katastrophe oder Krise - deren Quelle und Ausgangspunkt vermutlich nie mit letzter Sicherheit erforscht werden wird - keinen Zeit-Bild-Gedächtnis-Mythos geben wie im Fall der einstürzenden Türme von New York."

Es wäre schön, wenn KrankenpflegerInnen nach der Corona-Krise nicht nur beklatscht, sondern auch besser bezahlt würden, meint Detlef Esslinger in der SZ. Ein bisschen was müssten sie dafür aber auch selbst tun, denkt er sich: "Nicht einmal jede zehnte Pflegerin in einem Altenheim gehört einer Gewerkschaft an, in Kliniken sieht es etwas besser aus. Verdi und auch der Beamtenbund tragen zähe Kämpfe aus, andere Lobbyisten im Gesundheitssystem sind wirkmächtiger als die der Pflege. ... Die Bürger in ihrer Eigenschaft als Beitrags- und Steuerzahler müssen wissen, dass sie künftig entweder etwas mehr für Pflege aufzuwenden haben und ihnen etwas weniger für Schnickschnack übrig bleibt - oder in der Pflegebranche setzt sich die Abstimmung mit den Füßen fort."

In Israel ist man Krisen gewohnt, aber Corona ist etwas anderes, erklärt der Soziologieprofessor Natan Sznaider in der NZZ. "Was wir derzeit vielleicht beobachten, ist ein 'Restart' der Moderne unter anderen Vorzeichen."
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Kulturpolitik

Der Kulturbetrieb gehörte zu den ersten Branchen, die von der Corona-Krise massiv betroffen waren. Im Gespräch mit Andreas Kilb von der FAZ beteuert Bundeskulturministerin Monika Grütters, dass die Hilfen des Bundes und der Länder nicht am föderalen Kompetenzgerangel scheitern werden: "Ich kann nur hoffen, dass es jetzt mal unkompliziert funktioniert. Alle Bundesländer haben hoch und heilig versprochen, dass es rasch und unbürokratisch vonstatten gehen soll. Wir stellen die Adressen der Anlaufstellen in den Ländern ins Netz. Und natürlich muss der Betroffene auch das Seinige tun und sich mit dem Antrag auseinandersetzen. Aber die Bundesgelder stehen wirklich allen überall gleichermaßen zur Verfügung."
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Ideen

In der SZ erklärt die Soziologin Teresa Koloma Beck, welche Bedeutung Alltagsroutinen bei der Bewältigung von Krisen haben: Sie geben uns das Gefühl, die Situation doch irgendwie unter Kontrolle zu haben. "Die Veralltäglichung der Krisensituation ist ein extrem spannungsgeladener Prozess. Die Trägheit des Alltagsbewusstseins schützt uns vor Erfahrungen der Disruption. Doch hat diese Anpassung einen Preis. Denn den Alltag um tödliche Bedrohungen herum zu organisieren, ist anstrengend. Nicht zuletzt, weil damit affektiv-emotionale Belastungen einhergehen. Praktiken der Gefahrenvermeidung bringen Bedrohungen nicht zum Verschwinden, sondern halten sie in der Praxis selbst präsent - und damit auch die Möglichkeit des eigenen Todes und des Sterbens nahestehender Menschen."

Unsere Gesellschaft ist unbeweglich geworden, schreibt der Unternehmer und Trump-Unterstützer Peter Thiel (Facebook, Paypal) in der NZZ und empfiehlt die Lektüre eines Buchs des New-York-Times-Kolumnisten Ross Douthat: "The Decadent Society: How We Became the Victims of Our Own Success": "Douthat arbeitet vier Aspekte der Dekadenz heraus: Stagnation (Mittelmaß in den Bereichen Technologie und Wirtschaft), Sterilität (sinkende Geburtenraten), Verknöcherung (versagende Institutionen) und Wiederholung (kulturelle Erschöpfung). ... Mit dem Begriff Wiederholung benennt Douthat die Befindlichkeit einer Kulturszene, die sich in endlosen Remakes von Remakes erschöpft. Während die fünfziger, sechziger, siebziger und achtziger Jahre jeweils klar unterscheidbare Stile in Design, Mode, Musik und Kunst hervorbrachten, wirken die letzten drei Dekaden wie ein einziger großer Remix."
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Politik

Die offizielle Totenzahl in der chinesischen Stadt Wuhan, wo die Corona-Seuche ausbrach, liegt bei 2.500. Bürger der Stadt schätzen die Zahl aber um ein Vielfaches höher, berichten Qiao Long und Lau Siu-fung bei Radio Free Asia. Aus der Zahl der Urnen, die an Krematorien geliefert wurden, komme man eher auf Schätzungen von 40.000 Toten. "Eine Quelle aus dem Umfeld der Provinzregierung sagt, dass viele Menschen zu Hause gestorben seien, ohne dass eine Diagnose für Covid-19 gestellt wurde. Die Quelle sagt auch, dass es sehr heikel sei, über die wahre Zahl der Todesfälle in Wuhan zu sprechen, dass die Behörden aber wahrscheinlich die tatsächliche Zahl kennen."

Die iranische Führung hat in der Bevölkerung jede Glaubwürdigkeit verloren. In der Corona-Krise wirkt sich das fatal aus, erklärt der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta in der NZZ. Und auch jetzt noch werde vertuscht: So habe ein Parlamentsabgeordneter schon am 13. Februar einen Corona-Todesfall gemeldet. "Die Regierung ignorierte die Warnungen und ließ die Öffentlichkeit über die Gefahr im Dunkeln... Zu viel stand auf dem Spiel. Denn wichtiger als die Volksgesundheit war dem Regime, dass möglichst viele Iraner sich an zwei für das Selbst-Image des Regimes symbolisch hochbedeutsamen Veranstaltungen beteiligten: den jährlich am 11. Februar abgehaltenen Feierlichkeiten zum Sieg der islamischen Revolution und den für den 21. Februar angesetzten Parlamentswahlen."
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Geschichte

Die DDR soll "antifaschistisch" gewesen sein? Zumindest hat der linke Antisemitsmus einen seinen Ursprünge in Ost-Berlin, schreibt Marko Martin nach Lektüre von Jeffrey Herfs Buch "Unerklärte Kriege gegen Israel" bei libmod.de: "Anders als RAF, Tupamaros und Revolutionäre Zellen, die - ähnlich wie die Studentenvereinigung des SDS - erst in Folge des Sechstagekrieges von 1967 Israel als 'faschistischen Aggressor' bezeichneten, hatte die DDR als treuer Vasall Stalins bereits seit ihrer Gründung 1949 den jüdischen Staat mit einem Vokabular bedacht, das ansonsten nur für die Verbrechen der Nazis vorgesehen war. Dank unzähliger Archivfunde kann nun Jeffrey Herf nachweisen, dass es nicht bei Agitation blieb, sondern der ostdeutsche Staat, der heute noch vielen als 'zumindest klar antinazistisch' gilt, bis 1989 Waffen und militärische Ausrüstung an die PLO und jene arabischen Staaten lieferte, die sich im Kriegszustand mit Israel befanden."
Archiv: Geschichte