9punkt - Die Debattenrundschau

Wahn und Wirklichkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2020. Donald Trump bekämpft ein "ausländisches Virus".  Der Guardian ist nicht überrascht. Slavoj Zizek hofft in der Welt, dass sich der Kommunismus dank Corona  doch noch durchsetzt. Der Rowohlt Verlag veröffentlicht Woody Allens Memoiren - begeistert klingt das Statement des Nochverlegers Florian Illies dazu nicht gerade. hpd.de hat herausgefunden: Der Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks ist zu hundert Prozent christlich. Und die FAZ skizziert die Reaktion der russischen Intelligenz auf Putin Lebenslang.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.03.2020 finden Sie hier

Politik

In Donald Trumps Erklärung zum Coronavirus, wo er das drastische Einreiseverbot für Europäer verkündete, findet Jonathan Freedland vom Guardian die ganze Substanz von Trumps Populismus wieder: "Er beschrieb Covid-19 als ein 'ausländisches Virus' und legte Wert auf die Behauptung, dass 'eine Menge Häufungen des Virus von Reisenden aus Europa gesät' worden seien. Seine Doktrin des 'America First' - eine Formulierung, die er auch hier benutzte - setzt die Vereinigten Staaten für immer in Frontstellung  gegen die Welt und impliziert, dass die Reinheit Amerikas stets unter Ansteckungsgefahr von ausländischen Horden steht. Trump hat solche Bilder vier Jahre lang im Kontext von Migration benutzt, es sollte nicht überraschen, dass er sie jetzt in den Kontext der Krankheit stellt."

In China ist das Coronavirus bereits eingedämmt, behauptet Gabor Steingart in seinem Morning Briefing hoffnungsfroh. Der Börsencrash noch nicht: "Für die schwerwiegenden ökonomischen Folgen zeichnet also nicht das Virus selbst verantwortlich, sondern das, was der Mensch daraus macht. Wahn und Wirklichkeit haben sich an den Weltbörsen entkoppelt. Wir sind Zeitzeugen einer Wertvernichtung, die durch das unkoordinierte, aber gleichgerichtete Handeln von Crash-Spekulanten mit den medialen Erregungsfabriken zu einer Wirklichkeit eigener Art geführt hat."

Nicht Klopapier, sondern ein "neu erfundener" Kommunismus könnte die Lösung für die Corona-Epidemie sein, träumt Slavoj Zizek in der Welt: "Er sollte sowohl die lokale Mobilisierung von Menschen außerhalb der staatlichen Kontrolle als auch eine starke und effiziente internationale Koordination und Zusammenarbeit umfassen. Wenn Tausende wegen Atemproblemen ins Krankenhaus eingeliefert werden, wird eine erheblich größere Anzahl von Beatmungsmaschinen benötigt, und um diese zu beschaffen, sollte der Staat direkt eingreifen, so, wie er auch unter Kriegsbedingungen eingreift, wenn Tausende von Waffen benötigt werden, und er sollte sich auf die Zusammenarbeit mit anderen Staaten verlassen. Wie bei einer militärischen Kampagne sollten Informationen ausgetauscht und Pläne vollständig koordiniert werden."

Und die Washington Post berichtet, belegt mit Satellitenfotos, dass der Iran auf Friedhöfen hundert Meter lange Gruben für Covid-19-Opfer aushebt.

So häufig wie keine andere Regierung in der Welt hat die venezolanische Regierung unter Nicolas Maduro 2019 immer wieder Internetseiten blockieren lassen, meldet Benedikt Peters in der SZ unter Berufung auf eine Studie der NGO Netblocks: "Die Studie, über die die spanische Zeitung El País vorab berichtete, zeigt, dass die Dienste immer dann abgestellt wurden, wenn die venezolanische Opposition versuchte, Aufrufe zu Protesten ins Netz zu stellen. (...) In dieser Zeit ließ Maduro der Studie zufolge auch die Wikipedia-Seite über den Eintrag 'Venezolanischer Präsident' blockieren - als dort zu lesen war, dass das Land zwei Staatschefs habe, die um die Macht stritten."

Indien war Gandhi nie sehr nahe, sagt der Journalist und Enkel von Mahatma Gandhi, Arun Gandhi im großen FR-Gespräch mit Joachim Frank mit Blick auf die religiösen und ethnischen Konflikte in Indien: "Man hat ihn benutzt und ausgebeutet, um das Ziel der Unabhängigkeit zu erreichen. Der eigentliche Plan meines Großvaters sah vor, dass Indien nach der Unabhängigkeit auf dem Weg der Gewaltlosigkeit weitergehen und eine darauf gegründete Gesellschaft aufbauen sollte. Das aber lehnte die Regierung ab. So ist Gandhi zwar bis heute in aller Munde, überall in Indien hängt sein Foto, überall hat man ihm Standbilder errichtet - aber trotzdem hat man sich seiner entledigt."
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Kulturpolitik

Das Coronavirus macht auf die "krassen Ungleichheiten" des Kulturmarktes aufmerksam, schreibt Tobi Müller auf Zeit Online: "Wer mit einem Stadttheater zusammenarbeitet oder einer anderen großen öffentlichen Institution, besitzt in der Regel einen Vertrag. Und wer denkt, es sich erlauben zu können, handelt eine Klausel für Absagen aus, die die Höhe der Ausfallhonorare regelt. Doch die meisten Kreativschaffenden kommen gar nie in die Position, Verträge auszuhandeln. Und noch schlimmer: 'Die meisten Musikerinnen zum Beispiel haben keine finanziellen Rücklagen', sagt Katja Lucker, Geschäftsführerin des Musicboard Berlin, einer landeseigenen Förderanstalt."
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Stichwörter: Coronavirus, Ungleichheit

Medien

Der Vorstand des Rundfunkrates des Bayerischen Rundfunks ist nicht nur zu hundert Prozent christlich, sondern außerdem mit höchsten Kichenfunktionären besetzt, hat Dietmar Freitsmiedl vom "Bund für Geistesfreiheit" bei hpd.de herausgefunden. Und der gesamte übrige Rundfunkrat ist ebenfalls zu hundert Prozent christlich: "Kirchenrat Dieter Breit, entsandt von der evangelischen Kirche, ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen und Medienpolitik. Zudem ist er der Politikbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und damit zuständig für die Beziehungen der Kirchenleitung zum Bayerischen Landtag - wie Dr. Lorenz Wolf, sein katholisches Pendant, ein Lobbyist in Sachen kirchlicher Belange. Vorsitzender des Programmausschusses ist Matthias Fack, entsandt vom Bayerischen Jugendring, dessen Präsident er seit 2011 ist. Davor war er Landesvorsitzender des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend und geschäftsführender Leiter der Landesstelle für Katholische Jugendarbeit in Bayern. Stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für Wirtschaft und Finanzen ist der Gewerkschafter Matthias Jena. Zugleich ist er Mitglied der Synode..." Und so weiter!

Von Igor Levit über die Staatsoper "Unter den Linden" und die Leipziger Buchmesse bis zum Papst - alle streamen ihre Veranstaltungen zum Schutz vor der Corona-Pandemie, meldet Bernd Graff in der SZ und hat eine Empfehlung für die öffentlich-rechtlichen Sender: "Sie können ihrem Informationsauftrag gerade jetzt mit Streams von Kulturveranstaltungen gerecht werden, die sonst ausfallen würden."
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Gesellschaft

Der Rowohlt Verlag veröffentlicht Woody Allens Biografie am 7. April (unsere Resümees zur Debatte). Das Statement des Noch-Verlegers Florian Illies, der auf diesen Ärger am Ende seiner kurzen Amtszeit bestimmt nicht scharf war, klingt nicht gerade begeistert. Zitiert wird er etwa im Börsenblatt: "Die Ankündigung der deutschen Ausgabe von 'Apropos of Nothing' hat in den letzten Tagen eine komplexe Diskussion ausgelöst. Wir nehmen die Sorgen von Teilen der Öffentlichkeit wie von Autorinnen und Autoren, die im Zuge der geplanten Veröffentlichung geäußert wurden, ernst. Dies betrifft insbesondere den Vorwurf, dass unsere Entscheidung als unangemessen und missverständlich gegenüber Missbrauchsopfern gewertet werden kann. Damit berührt die nun geführte Debatte grundsätzliche Fragen des Verlegens von Büchern im Spannungsfeld von Ethik und Meinungsfreiheit im digitalen Zeitalter." Den Offenen Brief einiger Rowohlt-Autoren, die Allens Buch nicht veröffentlicht sehen wollen, wertet Illies als "Zeichen der Verbundenheit" mit dem Verlag.
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Europa

Der "Flügel" der AfD ist gestern offiziell für rechtsextrem erklärt worden und wird damit zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. "Dass der Verfassungsschutz, der ein Frühwarnsystems für Verfassungsfeinde sein soll, zu dieser Einschätzung kommt, ist überfällig", kommentiert Sabine am Orde in der taz: "Denn für die Demokratie ist der 'Flügel' viel gefährlicher, als die NPD es je war. Er wirkt mit der Partei als Scharnier von der bürgerlichen Mitte bis ins Neonazis-Spektrum hinein. Ein solches Bündnis wäre zu Hochzeiten der NPD noch unmöglich gewesen." Hier der Bericht der taz zur Pressekonferenz des Bundesverfassungsschutzes.

Immer weniger junge Männer lassen sich in Polen zu Priestern ausbilden, auch die Gottesdienste leeren sich, beobachtet Reinhold Vetter in der NZZ. Polens Katholiken verlegen ihren Glauben zunehmend ins Private, fährt Vetter fort: Der Missbrauchsskandal in der Kirche, in Polen vor allem durch die Filme "Kler" und "Tylko nie mów nikomu" thematisiert, trage dazu ebenso bei wie Instrumentalisierung der Kirche durch Jaroslaw Kaczynski. Und: "In jüngster Zeit ist auch die Verstrickung der katholischen Kirche in die Machenschaften der Staatssicherheit in kommunistischen Zeiten zu einem Thema geworden, das öffentlich Aufsehen erregt. Tatsächlich war die Kirche nach 1945 nicht nur Opfer staatlicher Repression, nicht nur eine Institution, die historische Errungenschaften der polnischen Nation gegen nihilistische Kritik der Kommunisten verteidigte und Raum bot für die Entfaltung der demokratischen Opposition. Vielmehr gab es auch Tausende katholische Priester, die sich als Agenten der Staatssicherheit missbrauchen ließen."

Nebenbei hat sich Wladimir Putin sein Mandat auf Lebenszeit verlängern lassen. Durch die neue Verfassung, über die das Volk am 22. April "abstimmen" soll, wird Putins Präsidentschaft "auf null gesetzt", und er kann neu anfangen. Auf null gesetzt wurden damit auch die Hoffnungen, dass sich im Land irgendetwas gewaltlos ändern könnte, kommentiert Kerstin Holm  in der FAZ: "Diese in der urbanen Intelligenzia verbreitete Stimmung illustriert ein depressiver Post des Journalisten Anton Orech, der beim oppositionellen Radiosender Echo Moskwy schreibt, nun gebe es eine Zukunftsgewissheit - und zwar die eines Gefängnisinsassen, der durch seine Gitterstäbe zuschauen muss, wie der Niedergang seines Landes und der Exodus der Klügsten und Tatkräftigsten immer weitergehen."

Bülent Mumay stellt in seiner FAZ-Kolumne die interessante Frage, warum unter den vielen Flüchtlingen, die nach Erdogans "Öffnung" der Grenze Richtung Griechenland zogen, praktisch keine Syrer waren, obwohl die Türkei 5,7 Millionen Syrer aufgenommen hat. "Statistiken in einem Artikel von Professor Murat Erdogan von der deutsch-türkischen Universität in Istanbul belegen, wie stark sich die Syrer in den neun Jahren in der Türkei integriert haben. 1,5 Millionen der offiziell in der Türkei registrierten 3,5 Millionen Syrer sind noch keine achtzehn Jahre alt. Ihre Sozialisation vollzog sich in der Türkei. Neuankömmlinge aus Syrien brachten hier 550.000 Babys zur Welt, allein 2019 waren es 170.000. "

Das Asylrecht muss dringend reformiert werden, fordert der Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans im Tagesspiegel: Es müsse begrenzt werden auf Menschen, die direkt aus dem Gebiet, in dem sie bedroht werden, in die EU fliehen. Außerdem sollte Europa "seine Asylpolitik auf die Aufnahme von jährlich festgesetzten Flüchtlingskontingenten aus den Erstaufnahmeländern umstellen."

Vergangene Woche schlug Miriam Meckel in der NZZ vor, Wahlen künftig von Algorithmen übernehmen zu lassen. Nach einer Stunde Null des Datensammelns könne der Volkswillen digital ermittelt werden (Unser Resümee). Gibt es überhaupt einen Volkswillen?, fragt Kaspar Villiger ebenfalls in der NZZ: "Die wachsende Zersplitterung der Parteienlandschaft und die Erosionserscheinungen der großen Volksparteien sind Symptome dafür, dass keine Partei mehr die Präferenzen großer Teile der Bevölkerung abzubilden vermag. Dass es sinnvoll ist, ob dieser Zersplitterung überhaupt so etwas wie einen Volkswillen herauszufiltern, ist zu bezweifeln."

Weitere Artikel: Verschwörungstheorien gibt es seit der Frühen Neuzeit, sie sind auch durch das Internet nicht rasant angestiegen, schreibt der Amerikanist Michael Butter ebenfalls im Tagesspiegel. Aber sie verbreiten sich heute schneller.
Archiv: Europa