9punkt - Die Debattenrundschau

Für Schweigen ist keine Zeit mehr

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2020. Das Bundesverfassungsgericht hat das deutsche Gesetz zur Sterbehilfe für "nichtig" erklärt. "Jetzt jubeln die Sterbehilfevereine", stöhnt die FAZ. Die Zeit bringt ein Gespräch mit dem Arzt Christian Arnold, der sehr für die Autonomie auch am Lebensende plädiert. Das Blog 54boooks begibt sich durch die Lektüre Michael Klonovsky auf die Spur des rechten Kitsches. Zwei AutorInnen fragen: Bei dem Attentat von Hanau sind mehrere Deutsche umgebracht worden und vier Kurden - warum kondoliert Angela Merkel Tayyip Erdogan?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.02.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

In einem spektakulären Urteil hat das Bundesverfassungsgericht das deutsche Gesetz zur Sterbehilfe (Paragraf 217, unsere Resümees zum Thema) verboten, das in Zusammenarbeit mit den Kirchen formuliert worden war und "geschäftsmäßige" Sterbehilfe verbot. Heinrich Wefing kommentiert in der Zeit: "Diese Norm hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Mittwoch kurzerhand für verfassungswidrig und, was nicht häufig vorkommt, auch gleich für 'nichtig' erklärt, also für ungültig von Anfang an. Dabei war die praktische Bedeutung der Vorschrift gering: Soweit ersichtlich, wurde von 2015 bis heute kein einziges Strafverfahren aufgrund des Paragrafen 217 eröffnet. Der symbolische Rang der Entscheidung hingegen ist enorm."

Das Urteil ist auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts nachzulesen. Es beginnt mit den ehernen Sätzen: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren."

Die Zeit bringt auch ein Gespräch Evelyn Fingers mit dem Arzt Christian Arnold, der selbst unheilbar krank war und das Gespräch mit Finger noch aufzeichnen ließ, bevor er sich eine tödliche Infusion legte. Er erinnert sich unter anderem an einen Kollegen, der ALS hatte und dem er sterben half: "Trotz seines Zustandes starb er ruhig, im Kreis seiner Familie. Ich werde nie vergessen, wie erschütternd sein Bittbrief an mich war, mühsam mit nur einem Finger in den Computer getippt. Und ich vergesse auch nicht die Erleichterung in seinen Augen, am Ende, als er sicher war, nicht zum stummen Gefangenen seines gepeinigten Körpers zu werden."

"Nie zuvor hat sich ein deutsches Gericht so klar zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über sein eigenes Leben und Sterben bekannt", schreibt Michael Schmidt-Salomon bei hpd.de. "Jetzt jubeln die Sterbehilfevereine", schreibt dagegen Helene Bubrowski  in der FAZ, die in diesen Fragen immer die konservativsten Standpunkte vertrat: "Die Politik reagiert irritiert auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe. Es lässt den Bundestagsabgeordneten wenig Spielraum." Christian Geyer wählt aber im Feuilleton einen pragmatischen Ansatz: "Statt nun Systemkritik zu üben, sollten sich die Kritiker des Urteils mit dessen aus der Einheit der Rechtsordnung heraus zu verstehenden Logik auseinandersetzen und im Übrigen die von Karlsruhe eröffneten Spielräume nutzen, um ihre alternativen Präferenzen umzusetzen, ohne den Übergriff ins Allgemeinverbindliche zu machen." Andererseits bringt die FAZ einen ganzseiteigen Text von Andreas Voßkuhle, der das Urteil als Verfassungsrichter maßgeblich mit formuliert hat, allerdings zu einem anderen Thema: die "Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit".

Nein, die Hufeisentheorie trifft keinen wahren Kern, in diesem Punkt sich die meisten Autoren der letzten Wochen einig. Auch Christian Staas heute in der Zeit: "Gewiss, rechts und links sind relative Begriffe. Als solche markieren sie die Ränder verschiedenster Mitten. Doch sie bergen auch einen harten ideologischen Kern, und anders als es die Hufeisen-Metapher will, verhalten sie sich dabei nicht spiegelbildlich zueinander. Zur liberalen, rechtsstaatlichen, parlamentarischen Demokratie jedenfalls stehen linke und rechte Positionen in keinem äquidistanten Verhältnis - wenngleich die Republik in den Weimarer Jahren auch von Teilen der Linken angegriffen und verachtet wurde."
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Politik

Im Guardian macht der in London lebende Schriftsteller Ma Jian den kapitalistisch-leninistischen Despotismus der chinesischen Regierung für die Ausbreitung des Corona-Virus verantwortlich: "In der schwierigen Lage verstehen die Leute endlich, dass sie kein Geld retten kann, wenn Politiker die Freiheit und das menschliche Leben so geringschätzen. Ganze Familien wurden durch das Virus ausgelöscht, über 70 Millionen wurden an ihre Häuser gefesselt. Die chinesischen Behörden melden bis heite 78.064 Infizierte und 2.715 Tote, die meisten von ihnen in Hubei. Aber niemand traut den Zahlen der Partei. Die einzige Gewissheit über die Zahlen ist, dass es die sind, denen zu glauben die Partei wünscht. Im Bemühungen, den Tod des Arztes Li Wenliang in ein anderes Licht zu stellen, hat die Partei zu einem Krieg des Volkes gegen das Virus aufgerufen und Journalisten  aufgefordert, 'negativen Inhalt' in den sozialen Medien durch 'bewegende Geschichte von der Front im Kampf gegen die Krankheit' zu ersetzen. Die Partei, die einst die Wahrheit über die Kulturrevolution und andere Verbrechen begraben wollte, zieht die Nation zurück in die maoistische Zeit."
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Ideen

Peter Hintz hat sich für das Blog 54books die Mühe gemacht, die Glossen und Essays des  AfD-Beraters Michael Klonovsky zu lesen, der heute Reden für Alexander Gauland schreibt, aber doch aus einer konservativen Feuilletonsphäre kommt und Bewunderer wie Peter Sloterdijk, Lorenz Jäger oder Eckhard Henscheid hat. Hintz  versucht dem rechten Kitsch auf die Spur zu kommen,der radikaleres Gedankengut sozusagen für ein rechtskonservatives Bürgertum kompatibel macht: "Natürlich hat sich der Autor auch das Kulturverfallsthema nicht ausgedacht, das er unablässig bedient, um sich als vermeintliche letzte Elite hochleben zu lassen. Diese Texte wollen vor allem ein Manifest sein, in dem der Mann zum Widerständler und zur Minderheit erklärt wird - eine Ideologie, die er mit jedem 4chan-Incel teilt, die aber hier als Variante für den Salon brauchbar gemacht werden soll, der sich ja vermeintlich vom Stammtisch unterscheidet."
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Europa

Viele sind damit einverstanden, dass die AfD und Rechtsextremisten stärker von Behörden überwacht werden sollen. Christian Jakob, Mitautor des Buchs "Angriff auf Europa - Die Internationale des Rechtspopulismus", warnt in der taz: "Diese Behörden sollen mehr Befugnisse bekommen. Aktuell etwa soll das Verfassungsschutzgesetz geändert werden. Der VS soll verschlüsselte Chats auslesen dürfen. Das umstrittene Anti-Hatespeech-Gesetz wird gerade überarbeitet. Es dürften nicht die einzigen solcher Reformen bleiben. Doch wie verhält sich eine Linke dazu, wenn sie in Zukunft womöglich von einem AfD-Landesinnenminister gegen alle eingesetzt werden könnten, die ihm nicht passen?"

Die Kurden in Deutschland seien einer doppelten Bedrohung ausgesetzt, von rechtsextremen Rassisten in Deutschland und von türkischen Nationalisten in der Türkei (und in Deutschland, schreibt die Linkspartei-Politikerin Elke Dangeleit bei emma.de mit Blick auf die vier Kurden, die in Hanau umgebracht worden sind: "Was müssen die Angehörigen fühlen, wenn Angela Merkel ausgerechnet dem Despoten Erdogan ihre Anteilnahme ausspricht, der die Kurden im eigenen Land und in Nordsyrien verfolgen und ermorden lässt und der zum Teil der Grund für ihre Migration nach Deutschland war?"

Auch Thomas Schmid stört sich in seinem Blog an den Kondolenzbezeugungen für Erdogan, aber auch daran, dass alle Einwander über einen Kamm geschoren werden. Dabei waren unter den neun in Hanau Ermordeten vier Kurden, ein Bulgare, eine Roma, ein Rumäne, ein Bosnier-Herzegowiner und ein Afghane. Selbst ein kritischer Intellektueller wie Can Dündar schreibe, dass die Mordtat die politisch verfeindeten Türken in Deutschland wieder eine: "Es spricht ziemlich viel dafür, dass Can Dündar mit dieser etwas dramatischen Auskunft keineswegs Recht hat, zumindest nicht nur. Dass heute aber konservative türkische Organisationen den Mord an Kurden in Deutschland ungehindert zum Anlass nehmen können, öffentlich dem türkischen Nationalismus zu huldigen; dass deutschen Politikern die Sensibilität abgeht, den Opfern individuell gerecht zu werden; und dass aufgeklärte türkische Intellektuelle nach Hanau den Eindruck haben, Deutschland mache die in Deutschland lebenden Nicht-Deutschen zu Fremden: All das zeigt, dass es nicht besonders gut steht um das Selbstverständnis der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Im Zweifel obsiegen, hier wie dort, immer noch die alten Reflexe."

ZeitOnline versammelt Statements von 142 in Deutschland lebenden Menschen, die von Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus betroffen sind. Zum Beispiel vom sympathischen Gerald Asamoah: "Spätestens nach dem tödlichen Attentat von Hanau dürfte jedem klar sein, wohin Rassismus führen kann. Ich werde oft gefragt, wie es denn mit Rassismus in Deutschland aussieht heutzutage. Meine Antwort ist immer gleich: Er existiert - und es ist kein kleines Problemchen, über das man mal so hinweggehen und das man einfach ignorieren kann! Es ist an der Zeit, zu erkennen, dass sich jeder aktiv dagegen positionieren und für eine tolerante, offene Gesellschaft eintreten muss. Für Schweigen ist keine Zeit mehr."
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Geschichte

Darf man heute noch den Conquistador Christoph Kolumbus verehren oder den Antisemiten Martin Luther? Maximilian Zech warnt in der NZZ davor, historische Epochen nach heutigen moralischen Maßstäben zu beurteilen. Er plädiert für das Aushalten von Ambivalenzen: "Wie sinnvoll ist es wirklich, eine Person, die vor Jahrhunderten lebte, heute der Frauenfeindlichkeit, Homophobie oder religiösen Intoleranz zu zeihen? Setzte sich dieses Prinzip tatsächlich durch, wäre theoretisch eine Totalrevision der Historie in jeder neuen Generation möglich. Wer weiß: Vielleicht wird die heutige Jugend in ein paar Jahrzehnten Thomas Newcomen und James Watt für die Erfindung der Dampfmaschine verurteilen. Geschichte verkäme so zu einer reinen Projektionsfläche für die ideologischen Konflikte der Gegenwart."
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