9punkt - Die Debattenrundschau

Alle diese "Wirs" sind gefährlich

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2020. Zur allgemeinen Gleichgültigkeit werden im syrischen Idlib Abertausende mit Fassbomben in die Flucht getrieben. "Und Europa, der selbsternannte Hüter der Menschenrechte, leistet einen weiteren moralischen Offenbarungseid", schreibt Rainer Hermann bei der Deutschen Welle. In der NZZ beschreibt der Dichter und Journalist Ramy al-Asheq das Leben in einer unterdrückten Kultur. In der Welt spricht die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur über Antisemitismus in "Zeiten absoluter Opferkonkurrenz".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.02.2020 finden Sie hier

Politik

Mit Schrecken blickt FAZ-Redakteur Rainer Hermann in einem Gastkommentar für die Deutsche Welle auf die brutale Vertreibung der Flüchtlinge von Idlib durch den Schlächter Baschar al-Assad und seinen Assistenten Wladimir Putin: "Vieles erinnert an den Jugoslawien-Krieg, als Europa hilf- und ratlos den serbischen Massakern zugeschaut hat. Damals hatten erst ein Ultimatum des bulligen amerikanischen Diplomaten Richard Holbrooke an den serbischen Diktator Slobodan Milosevic und dann gezielte amerikanische Bombardements dem völkischen Morden ein Ende bereitet. Was geschieht, wenn sich die Ordnungsmacht USA zurückzieht, zeigt das tägliche Vorgehen des syrischen Regimes. Und Europa, der selbsternannte Hüter der Menschenrechte, leistet einen weiteren moralischen Offenbarungseid."

Mit das Ekligste an einer unterdrückten Kultur wie der Syriens unter Baschar al-Assad ist die perfide Inszenierung von Kritik, schreibt der Dichter und Journalist Ramy al-Asheq in einem Essay für die NZZ. Er nennt es "Katharsis-Politik": "eine Art Schutzmaßnahme, die dem Ausbruch des Volkszorns zuvorkommen soll. Da kritisieren dann Kulturschaffende den Wirtschaftsminister wegen der steigenden Lebenskosten, oder für ihre Regimetreue bekannte Künstler stellen Selfies ins Internet, auf denen sie eine Gasflasche umarmen - zum Zeichen, wie teuer der Brennstoff geworden ist. Sie singen Spottlieder über die missliche Lage oder verfassen offene Briefe, in denen sie den Präsidenten bitten, endlich einzugreifen..." Und die, die nicht mitmachen "sind faktisch an Leib und Leben bedroht; ihre Strafe besteht darin, dass sie marginalisiert und von Verdienstmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Sie müssen zusehen, wie die Regimetreuen Preise und Privilegien einheimsen, müssen zusehen, wie ihr eigener Traum von Freiheit und Gerechtigkeit durch den Triumph des Diktators aufgerieben wird."

In einer Intervention für Tyzhden und den Perlentaucher konstatiert Richard Herzinger unterdessen: Während Demokraten heute offen eingestehen, dass sie die Gefahr, die von Wladimir Putin ausgeht, unterschätzt haben, sind es jetzt Trump und seine Gefolgsleute in der Republikanischen Partei, die diese Gefahr herunterspielen oder ganz ableugnen.
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Gesellschaft

Die Debatte um das segensreiche Wirken der Antirassismusexpertin Yasemin Shooman im Jüdischen Museum Berlin geht immer noch weiter, obwohl Shooman inzwischen längst Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM-Institut) ist. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, verteidigt sie in der taz nochmals gegen den Vorwurf, BDS-Positionen zu vertreten zu haben, der unter anderem von Thomas Thiel in der FAZ vorgebracht wurde (unsere Resümees). "Diese intellektuell dürftige 'Debatte', bei der die FAZ die Gegendarstellungen der Angeklagten sämtlich ignoriert, in der Wissenschaftler*innen und Intellektuelle Journalisten*innen gegenüberstehen, die im Wesentlichen wie Internettrolle agieren, mutet auch deshalb grotesk an, weil sie sich vorgeblich gegen Antisemitismus richtet, dabei aber selbst mit Methoden arbeitet, die an antisemitische Verschwörungstheorien erinnern. Mehr noch: Der Abbruch des jüdisch-muslimischen Dialogs, die dauerhafte Beschädigung jüdischer Institutionen werden dabei ebenso billigend in Kauf genommen wie der Applaus von Rassist*innen vom Schlage eines Sarrazin."

Alle Gesellschaften sind antisemitisch, sagt die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur im Gespräch mit Martina Meister von der Welt. Und der Antisemitismus verwandelt sich stets aktuellen Diskursen an: "Wir leben heutzutage in Zeiten absoluter Opferkonkurrenz. Viele Lebensentwürfe funktionieren nur noch als Opfergeschichten. Als ob die Tatsache, dass man etwas erlitten hat, einem besondere Rechte verleihen würde. In diesem psychologischen Kontext wirken die Juden seit der Schoah wie die unweigerlichen Helden des Leids. Weil niemand die Figur des Opfers besser verkörpert als sie, nimmt man ihnen übel, einem auch diese Rolle geraubt zu haben." Horvilleur bestreitet übrigens nicht das Moment von Emanzipation, wenn sich Gruppen zu Wort melden: "Das Problem beginnt, wenn die plötzliche Sichtbarkeit einzelner Gruppen einen Kommunitarismus nährt, der andere ausschließt. Wir sind umgeben von Leuten, die ständig 'wir' sagen: 'wir Muslime', 'wir Juden', 'wir Homosexuelle', 'wir Frauen'. Alle diese 'Wirs' sind gefährlich, weil sie die universellen Werte für weniger wichtig halten." Horvilleur hat jüngst bei Hanser Berlin ihre "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" vorgelegt.
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Europa

Nach Thüringen triumphierte in sozialen und Papiermedien ein vor Selbstergriffenheit bebender Antifaschismus. Peter Unfried ruft in der taz zur Vernunft: "Dass die CDU ein Problem hat, kann man nicht ignorieren. Aber gerade weil die Vorgänge in Thüringen aufwühlend und beunruhigend sind, ist es wichtig, ruhig und rational zu bleiben, jetzt nicht Angstlust zu zelebrieren und volle Erregungspulle das Bild einer gespaltenen Gesellschaft mitzukreieren, in der die wirklich Guten gegen die richtig Bösen im Endkampf stehen und wer das nicht so sieht, ein Verniedlicher ist. Ein 'antifaschistischer' Aufmarsch vor der FDP-Zentrale in Berlin? Ich glaub, es hackt."

Die hysterische Abgenzung der Thüringer CDU gegen die so harmlose Linkspartei könnten unterdessen auch mangelnder Aufarbeitung der eigenen Geschichte als handzahme Blockpartei geschuldet sein, die Anja Maier in einem zweiten taz-Artikel  beschreibt. Und auch der WEST-CDU ging's nach dem Mauerfall vor allem darum, Strukturen zu kapern: "Die Übernahme der Ost-CDU mitsamt ihren 135.000 Mitgliedern und ihrem Parteivermögen - die Rede ist von umgerechnet mehreren Millionen Euro - kam seinerzeit gerade recht. Die Strukturen vor Ort waren hilfreich, um im Wahlkampf auf alte Netzwerke zurückzugreifen und zugleich auch West-CDUler zu installieren und Ost-CDUler zurückzudrängen. Wofür die Parteimitglieder stehen, welche weltanschaulichen Prinzipien sie vertreten, war angesichts der Dominanz der Westpartei zweitrangig.
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