9punkt - Die Debattenrundschau

Narzisstische Raubtiere

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2020. In politico.eu attackiert Mateusz Morawiecki, Polens Premierminister, die geschichtsrevisionistischen Äußerungen Wladimir Putins zum Hitler-Stalin-Pakt und wirft Stalin vor, dass er Auschwitz wesentlich früher hätte befreien können. Meedia zitiert aus einem offenen Brief der Belegschaft der Hamburger Morgenpost, die um den Bestand der Zeitung fürchtet. Im Guardian erinnert Frederick Forsyth an die missliche Rolle der BBC und der britischen Diplomatie im Biafra-Krieg vor fünfzig Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.01.2020 finden Sie hier

Europa

Man kann auch Mitglied einer rechtspopulisischen Regierung sein und mit ein paar Wahrheiten aufwarten. Mateusz Morawiecki, Polens Premierminister, attackiert in politico.eu die geschichtsrevisionistischen Äußerungen Wladimir Putins zum Hitler-Stalin-Pakt und zur "befreienden" Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg (unsere Resümees). Und es hörte ja nach dem Pakt zwischen Stalin und Hitler nicht auf, so Morawiecki: "Die Sowjetunion 'befreite' Warschau nicht, wie russische Repräsentanten heute behaupten. Die Rote Armee starrte tatenlos auf Warschaus Todeskampf. Die beiden Aufstände der Stadt - der erste im jüdischen Ghetto 1943, der zweite in der ganzen Stadt 1944 - zeugten von der Skrupellosigkeit der deutschen Verbrechen. Doch während die Warschauer hoffnungsvoll auf Hilfe warteten, befahl Joseph Stalin der Roten Armee nie, einzugreifen." Noch provokanter, was Morawiecki zur Befreiung von Auschwitz schreibt: "Die Rote Armee befreite Auschwitz zwar, aber das Lager hätte auch ein halbes Jahr früher befreit werden können. Die Rote Armee stand in 200 Kilometern Entfernung vom Lager, aber der Angriff wurde angehalten, was den Deutschen erlaubte, sich zurückzuziehen und Todesmärsche zu organisieren."

Alexander Fanta erzählt auf Netzpolitik mit Verweis auf ans Licht gekommene Dokumente, wie Olaf Scholz eine von Frankreich angestoßene EU-weite faire Digital-Besteuerung der großen Internetkonzerne verhindert hat. "Die Gründe für Scholz' Widerstand gegen die Digitalsteuer sind bis heute etwas unklar. Die Beamten in seinem Ministerium seien dagegen, schreibt bereits im September 2018 die Bild-Zeitung unter Berufung auf ein Arbeitspapier des BMF. In dem Papier heißt es laut dem Blatt, dass von einer 'Dämonisierung der großen Digitalunternehmen' abzusehen sei. Eine Digitalsteuer könnte Gegenmaßnahmen der USA gegen deutsche Firmen nach sich ziehen. Wie das genau gemeint ist, ist unklar - das BMF weigert sich bis heute, dass Papier zu veröffentlichen." Die Franzosen haben amerikanische Drohungen nicht geschreckt, sie haben im letzten Sommer eine Digitalsteuer im Alleingang verabschiedet.

In ihrer SZ-Kolumne nimmt die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy die geplante Feier zum Brexit aufs Korn und natürlich Boris Johnson, bei dem sie zu Hochform aufläuft: "Er ist ein narzisstisches Raubtier. ... Er lauert hinter verstümmelten Parolen, zum Teil weil er nicht sonderlich klug ist, vor allem aber, weil es ihm solche Freude bereitet, uns zu belügen, und weil es seine Macht unterstreicht, wenn er schlecht lügt. Amoralität berauscht ihn. Sie glimmt in seinem schiefen Grinsen wie fluoreszierende Verwesung."
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Medien

Die Belegschaft der Hamburger Morgenpost, die zu den Zeitungen gehört, die DuMont verkaufen will, macht sich offenbar Sorgen, dass der Verlag die Zeitung in die Insolvenz führen könnte. Die achtzig Mitarbeiter schreiben einen offenen Brief an DuMont-Chef Christoph Bauer, aus dem Gregory Lipinski bei Meedia.de zitiert: "'Dass DuMont der Demokratie in Deutschland einen solchen Schaden zufügen könnte, können wir uns kaum vorstellen, wäre es doch mit einem erheblichen Gesichtsverlust für das Kölner Traditionshaus verbunden', so die Belegschaft. Sie fordert den DuMont-Chef auf, die Mopo 'als unabhängige und eigenständige Stimme' mitsamt ihrer Lokalkompetenz in Form ihrer Redakteure zu erhalten. Die Boulevardzeitung gehöre 'zu Hamburg wie der Dom zu Köln. Sie steht für Tradition, für Stadtgeschichte und -geschichten und ist für jeden Hanseaten ein Stück Identität.'"
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Religion

Der Katholikentag in Stuttgart 2022 bekommt 1,5 Millionen Euro in bar und Sachleistungen sowie Gebührenbefreiungen in Höhe von maximal 350.000 Euro von der Stadt, berichtet Gisa Bodenstein bei hpd.de: "Wie aus dem öffentlich einsehbaren Protokoll der Sitzung hervorgeht, hat dies der Verwaltungsausschuss des Gemeinderats der Stadt bereits am 6. November bei drei Gegenstimmen und ohne weitere Diskussion beschlossen. Die Gegenstimmen kamen von der 'FrAKTION', bestehend aus Linken, SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial), Piraten und Tierschutzpartei." Die Katholische Kirche hofft aber auch anderweitig auf die unmittelbare Zukunft: "Vom Bundesland Baden-Württemberg erhofft man sich einen Zuschuss in Höhe von zwei Millionen Euro, der Bund soll über das Innenministerium weitere 600.000 Euro beisteuern."
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Politik

Herr Chamenei sollte mal eine kleine Geschichtsstunde nehmen und an Rumänien in den letzten Tagen unter Ceausescu zurückdenken, findet Christian Oliver in politico.eu. Nicht nur weil Ceausescu kurz vor seinem gewaltsamen Ableben noch ein gefeierter Staatsgast in Teheran war: "Genau wie Rumänien in den 1980er Jahren ist der Iran zur Geisel eines ausufernden, mafiösen Sicherheitsapparates geworden, der Wege gefunden hat, sich zu bereichern, während die übrige Wirtschaft zusammenbricht. Da ist es schon unbehaglich, das Gesicht eines Regimes zu sein, besonders wenn man achtzig ist und schon über Nachfolger diskutiert wird. Der Führer könnte zum offensichtlichen Sündenbock für Sicherheitsapparatschiks und Oligarchen werden, die an ihren illegalen Geldquellen hängen."
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Stichwörter: Iran, Rumänien, Oligarchen, 1980er

Ideen

Gestern machte sich ein Ökologe noch Hoffnung auf einen kommenden Kollektivismus, mit dem sich die Klimakrise bewältigen ließe (unser Resümee). Aber für Jörg Phil Friedrich in Telepolis, der eine ganze Serie mit Szenarien vorlegt, ist die Katastrophe kaum mehr abwendbar: "Es gibt Regionen auf der Erde, auf denen der Großteil der dort lebenden Menschen tatsächlich wenig Chancen auf ein Überleben im Klimachaos haben wird. Die ansteigenden Meeresspiegel, verbunden mit Sturmfluten und extremen Überschwemmungen, werden weite Gebiete Ozeaniens und andere Inselgruppen unbewohnbar machen, die Menschen werden dort ertrinken, diejenigen, die die Überschwemmungen überleben, werden sich vom unfruchtbar gewordenen Land nicht ernähren können und werden an Hunger und Krankheiten sterben. Kein Konjunktiv und kein relativierender Einschub, dass dies 'zu befürchten' oder 'als Risiko anzunehmen' sei, darf uns davor bewahren, diesem Zukunftsszenario in die Augen zu sehen." Nächste Folge: "Wie die Hochtechnologie im Klimawandel versagt."

In einem etwas umständlich formulierten Artikel für die SZ plädiert die Medienwissenschaftlerin Petra Grimm für mehr Ethik bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz: "In der KI-Forschung und -Entwicklung bedeutet es, dass ethische Überlegungen von vornherein angestellt sowie Nachhaltigkeit und ethische Grundsätze eingehalten werden. Dieses Vorgehen ist keine einmalige oder punktuelle Angelegenheit. Vielmehr begleitet die Reflexion die Entwicklung und ist auch nach Marktreife eines Produkts, Dienstes oder Systems nicht abgeschlossen."
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Geschichte

Der Autor Frederick Forsyth erinnert im Guardian an ein fast vergessenes Desaster vor fünfzig Jahren, den Biafra-Krieg, in dem eine Million Kinder gestorben sein sollen. Forsyth geißelt die Rolle der BBC (deren Korrespondent er damals war), die die britische Außenpolitik einfach nachgebetet hätte, und die britischen Repräsentanten, die das nigerianische Regime bei seinen Verbrechen unterstützte: "Wirklich beschämend ist, dass dies nicht von Wilden getan wurde, sondern in jeder Phase von in Oxbridge ausgebildeten britischen Mandarinen unterstützt und gefördert wurde. Warum? Liebten sie das korrupte, diktatorisch geprägte Nigeria? Nein. Von Anfang bis Ende sollte damit vertuscht werden, dass die Einschätzung der nigerianischen Situation durch Großbritannien ein enormer Irrtum war. Und, schlimmer noch: Mit Neutralität und Diplomatie aus London hätte das alles vermieden werden können."
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Überwachung

Ob Clearview mit seiner Gesichtserkennungspraxis wirklich so erfolgreich ist wie behauptet (mehr dazu hier), daran hat Lisa Hegemann auf Zeit online leise - und begründete - Zweifel. Wie auch immer, es ist jedenfalls höchste Zeit, meint sie, auch in Europa über das Thema zu diskutieren: "Wollen wir wirklich riskieren, uns in der Öffentlichkeit nicht mehr anonym bewegen zu können? Wollen wir, dass jede Person als potenzielle Straftäterin oder Straftäter behandelt wird? Wollen wir Unternehmen gestatten, Daten zu speichern, für deren Verwendung sie nie eine Erlaubnis eingeholt haben? Der US-amerikanische Fall zeigt, wie wichtig diese Fragen sind. Und wie wichtig es ist, sich mit ihnen zu beschäftigen. Technikrechtler Alexander Roßnagel selbst wünscht sich klare Regeln. 'Automatisierte Gesichtserkennung sollte in Europa verboten werden', sagt er. Sollte es wirklich Ausnahmen geben, müsse die Verwendung klar begrenzt sein. Die EU-Kommission erwägt durchaus ein Verbot von Gesichtserkennung für die kommenden fünf Jahre, so berichtete erst vor wenigen Tagen Politico." Horst Seehofer würde sie allerdings selbst gerne nutzen, erfahren wir von Moritz Serif in der FR.
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