9punkt - Die Debattenrundschau

Allein in Ürümqi

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2019. Im Tagesspiegel schildert Dolkun Iza, vom Weltkongress der Uiguren, wie die Chinesen seit 2016 eine immer schärfere Unterdrückung gegen sein Volk betreiben. Die taz fragt, warum trotz der Aufstände in Algerien, Sudan, Libanon und Irak keine arabische Frühlingsstimmung mehr aufkommt. J. K. Rowling findet, dass Frausein etwas mit Biologie zu tun hat, und gilt Spiegel online und anderen Medien seitdem als Dementor*in. Der Bundestag könnte nach den nächsten Wahlen auf 850 Abgeordnete anwachsen - die FAZ fragt, warum er nicht fähig ist, sich zu verkleinern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.12.2019 finden Sie hier

Politik

Im Irak, dem Libanon, dem Sudan und in Algerien haben Demonstranten Autokraten gestürzt oder ihre Länder zumindest kräftig aufgemischt. Dennoch fehlt in der Wahrnehmung die Begeisterung wie zu Zeiten des "arabischen Frühlings". In dieser Reaktion zeigt sich die grundsätzlich geänderte Stimmung auch in der westlichen Öffentlichkeit, schreibt Jannis Hagmann in der taz: "Unberechenbare Egomanen stellen mittlerweile die Demokratie im Westen selbst in Frage; von 'Demokratisierung' der Anderen mag kaum noch einer reden. Die Lust, Regime stürzen zu sehen, scheint vergangen. Schwer vorstellbar, dass ein deutscher Politiker heute noch ernsthaft für einen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan plädieren würde mit dem Argument, der Westen müsse die afghanischen Frauen befreien und Demokratie nach Kabul bringen."

Jüngst wurde (in absentia) der Sacharow-Preis an den uigurischen Wissenschaftler und Menschenrechtler Ilham Tohti verliehen. Aus diesem Anlass unterhält sich Gregor Dotzauer vom Tagesspiegel mit Dolkun Iza, dem in Deutschland lebenden Präsidenten des Weltkongresses der Uiguren (Website). Die aktuelle Repressionspolitik begann 2016 mit der Einsetzung Chen Quanguos als Parteisekretär der Region Xinjiang, erzählt er: "Allein in Ürümqi installierte er alle 200 bis 300 Meter polizeiliche Überwachungsstationen, insgesamt 960, dazu zahlreiche Checkpoints. Nach und nach ließ er die Pässe aller Uiguren einsammeln. Der mediale Aufschrei blieb aus, was ihn zu seinem nächsten Schritt ermutigte: Er ließ die Flüge von Ürümqi nach Dubai und Istanbul streichen, dann alle Direktflüge von Kashgar ins Ausland. Wieder empörte sich niemand. Da begannen die Einweisungen in die Lager. Und in einem nächsten Schritt wurden 3000 bis 4000 Moscheen zerstört. Wieder hat die Welt, auch die islamische, nicht reagiert. Dann gab es weitere Restriktionen."
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Medien

Ungefähr 25 Jahre nach dem Entstehen des Internets in seiner heutigen Form werden auch Hierarchen wie der scheidende Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, wach und beklagen (hier im Gespräch mit Laura Hertreiter und Claudia Tieschky von der SZ) die Schwäche Europas: "Alle Menschen, Institutionen, Behörden, die mit anderen in unserer digitalen Welt in Austausch treten wollen, tun das mittels der Infrastruktur von Amazon, Google, Facebook, Apple und neuerdings auch chinesischer Anbieter. Wir haben das Ganze lange so wahrgenommen, als seien es nur einzelne Angebote für Dienstleitungen. In Wahrheit ist mittlerweile der digitale öffentliche Raum selbst in privaten Besitz übergegangen. Er unterliegt damit Geschäftsmodellen, die nicht auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind, sondern auf unternehmerische Ziele."
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Gesellschaft

Zur Empörung des Spiegel-online-Autors Enrico Ippolito hat sich J.K. Rowling als eine "Terf" entpuppt, eine "Trans Exclusive Radical Feminist". Ein Tweet von ihr hat nicht nur Twittermobs ausgelöst, sondern führt auch gleich zu Leitartikeln in den großen Medien. Rowling sagt, dass Frausein etwas Biologisches ist. Und unterstützt die Steuerexpertin Maya Forstate, der gekündigt worden war, weil sie zu Transfrauen geschrieben hatte: "Ich denke, dass männliche Menschen keine Frauen sind. Ich denke nicht, dass Frausein eine Frage der Identität oder weiblicher Gefühle ist. Es geht um Biologie." Ippolito dazu: "Dabei müsste eigentlich klar sein: Ein Feminismus, der im Jahr 2019 immer noch nicht Race, Klasse, Gender konsequent mitdenkt, sondern sich von Transfrauen bedroht fühlt, der Hass gegen Transmenschen weiter anheizt, während Transwomen of Color umgebracht werden, ist nichts weiter als ein Dementor." Ebenfalls empört ist die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah. Selbst in der Welt stimmt Wieland Freund in die Rowling-Kritik ein.

Für einen herzlichen Weihnachtsstreit ist das Thema Vegetarismus und Veganismus bestens geeignet. Ellen Daniel empfiehlt bei den Salonkolumnisten das Buch "Kritik der vegetarischen Ethik" des Soziologen Klaus Alfs, der  Vegetarismus und Veganismus als Ideologie betrachtet: "Stark ist das Buch immer dort, wo Alfs auf Fakten verweist, die Stadtmenschen nicht unbedingt geläufig sind. So ist der von Veganern favorisierte Bio-Landbau ohne Dünger aus Nutztierhaltung nicht möglich. Anders als uns die Veggie-Lobby glauben machen will, löst der Schlachtruf 'Weideland in Vegetarierhand!' das Hungerproblem dieser Welt nicht: Über die Hälfte des globalen Nutzviehbestandes weidet auf nährstoffarmem Grasland, das für Ackerbau ungeeignet ist."
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Geschichte

Die Debatte um die Hohenzollern und ihren für die Nazis so segensreichen Beitrag zur deutschen Geschichte war ja ursprünglich eine juristische, weil von der Antwort der Entschädigungsanspruch der Familie abhängt. Aber darüber geht die Kontroverse inzwischen weit hinaus, meint der Historiker Jörn Leonhard in der FAZ: "Schon jetzt führt die Geschichte vor Gericht zu aporetischen Konstellationen: So als könnte man eindeutige rechtliche Kategorien entwickeln und anwenden, um einen an Komplexität kaum zu überbietenden Zusammenhang wie die Zerstörung der Weimarer Republik auf eine Person zuzuspitzen. So suggestiv das anmutet, weil es die Komplexität der Vergangenheit auf die vermeintlich objektivierbaren Kategorien von 'schuldig' und 'unschuldig' reduziert, führt es doch vor allem zu grotesken Verzerrungen und Verrenkungen."
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Kulturmarkt

Hubert Spiegel beschreibt in der FAZ die Marktmacht des Riesen Momox auf dem Gebrauchtbuchmarkt. Selbst zu Weihnachten läuft der Laden: "Wer ein gebrauchtes Buch unter den Weihnachtsbaum legt, riskiert zumindest ein Stirnrunzeln beim Beschenkten. Doch die soziale Ökonomie des Schenkens hat sich verändert. Das gebrauchte Konsumgut ist längst nicht mehr zwangsläufig ein Indikator für den sozialen Abstieg, es hat das Stigma der Einkommensschwäche abgeschüttelt und das Gütesiegel der Nachhaltigkeit übergestreift."
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Stichwörter: Buchmarkt, Momox, Nachhaltigkeit

Europa

Der Bundestag könnte bei den nächsten Wahlen auf bis zu 850 Abgeordnete anwachsen. Bislang erweist sich die Volksvertretung als unfähig, sich auf ein angemessenes Maß zu verkleinern. Der Unwille dazu, von dem in mehrfacher Hinsicht die AfD profitiert, kommt vor allem von der CDU, erläutert Eckart Lohse im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ: "Weil die Union nach wie vor die meisten Wahlkreise gewinnt, aber bei den Zweitstimmen immer schwächer wird, bekommt sie zahlreiche Überhangmandate zugesprochen. Diese werden über die Fraktionen hinweg ausgeglichen, so dass alle Parteien profitieren. Eine Verkleinerung des Bundestages ohne die Verringerung der Zahl der Wahlkreise ist praktisch nicht vorstellbar. Entscheidend wäre, dass jemand das gegen die Widerstände, die nicht nur, aber vor allem von der Union kommen, durchsetzt. Ein solcher Ritter der Reform ist bislang nicht aufgetaucht."
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