9punkt - Die Debattenrundschau

Straffrei lesen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2019. Pünktlich zu dreißig Jahren Mauerfall fragen Shermin Langhoff und Durs Grünbein in der Berliner Zeitung: Sollten wir Identitäten zertrümmern oder doch besser nur verflüssigen? Heinrich August Winkler glaubt in der FAZ, dass "altdeutsche Vorbehalte" gegen Demokratie in der DDR wesentlich besser überleben konnten. In der SZ erklärt der dänisch-deutsche Schriftsteller und Schauspieler Knud Romer, wie deutsch  die Dänen sind. In La Règle du Jeu erklärt Noémie Madar, die Vorsitzende der jüdischen Studentengemeinde Frankreichs, warum sie nicht an der Pariser Demo gegen Islamophobie teilnahm.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.11.2019 finden Sie hier

Überwachung

In der NZZ fragt sich der Literaturwissenschaftler Adrian Daub, wozu eigentlich all unsere Daten gesammelt werden. Die großen Internetfirmen können kaum etwas damit anfangen, glaubt er. Bei Regierungen sei das ganz anders: "Daten nivellieren, aber die Nivellierung trifft keine zwei Menschen exakt gleich. Indem wir die Selbstbestimmung über die eigenen Daten an Bürgerrechte geknüpft haben, ist sie immer dort am schwächsten, wo wir keine Bürgerrechte genießen. Mobilität, Migration und Flucht legitimieren den Zugriff auf die Daten der Betroffenen und führen diese Daten in neue Kontexte ein. Mittels sozialer Netzwerke vermag Immigration and Customs Enforcement in den USA schnell ein Netzwerk von 'known associates' zu erstellen - eine Technik, die ursprünglich zur Terrorismusbekämpfung entwickelt wurde. Hier scheint es bereits ausreichend, von einem von ICE festgesetzten Migranten aus der Abschiebehaft angerufen zu werden und sich auf Spanisch zu unterhalten, um auf die Liste zu geraten. Es ist ganz klar, dass in Fällen wie diesem Daten nicht gleich Daten sind."
Archiv: Überwachung

Geschichte

Die Erfolge der AfD in den Neuen Ländern haben für den Historiker Heinrich August Winkler, der in der FAZ ("Gegenwart"-Seite) hundert Jahre deutsche Demokratie (mit ein paar Unterbrechungen) Revue passieren lässt, klar mit der DDR zu tun: "Die radikal unterschiedliche Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wirkt bis heute nach. Altdeutsche Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie und ihrer politischen Kultur hatten bessere Überlebenschancen dort, wo es nicht die Möglichkeit gab, allmählich in das neue System hineinzuwachsen und frühere, eher obrigkeitlich geprägte deutsche Vorstellungen von politischer Ordnung in kontroversen gesellschaftlichen Debatten zu überwinden."
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

Niklas Maak unternimmt in der FAS eine Tour d'horizon durch die Berliner Museenlandschaft (vor allem jene, die der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehört). Für Neubauten ist Geld da, für Personal und Ausstellungen nicht: "Als das MoMA 2004 in Berlin gastierte, kamen 1,2 Millionen Besucher - warum lässt man die Nationalgalerie-Sammlung während des Umbaus nicht auf Tour? Und wie kommt es, dass die Besucherzahlen der Berliner Museen in sieben Jahren von 4,7 Millionen auf 3,5 Millionen 2017 sanken? Und ändert man das allein durch Neubauten - oder durch Etats für aufsehenerregende Ausstellungen?"

In einem langen Interview mit Zeit online über die Architekturmoderne in Deutschland lässt der 83-jährige Architekt Volkwin Marg kein gutes Haar an der Wiederaufbau-Architektur nach der Wende: "Eine besonders peinliche Herrschaftsgeste gegenüber Minderheiten in der DDR war bei allen verständlichen Argumenten für die Restitution des Berliner Schlosses die völlige Liquidation des Palastes der Republik. Das wurde als spurlose Liquidation von 40 Jahren DDR-Geschichte empfunden. ... Nennen wir es ruhig eine Verdrängung unserer Nachkriegsgeschichte. Das Schloss ist architektonisch gesehen eine einseitige historische Replik. Kein Baudenkmal trotz der paar alten Steinskulpturen in der Fassade. Was sich hier im Zentrum unseres Landes offenbart, ist nicht zuletzt das restaurative Lebensgefühl unserer Gesellschaft, die nur vor einem die meiste Angst hat, verwirrt von den kulturrevolutionären Erschütterungen in Vergangenheit und Gegenwart - und das ist die Zukunft."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

In der Berliner Zeitung diskutieren Theaterdirektorin Shermin Langhoff und der Dichter Durs Grünbein über den Mauerfall. Für Langhoff ist mit der Wende auch der Neoliberalismus hierzulande eingezogen und der Nationalismus. Für Grünbein war die Wende dagegen ganz klar eine Befreiung, sagt er: "Vierzig Jahre DDR - das ist nicht meine Identität, wenn es überhaupt so etwas gibt. Identitäten sind etwas für Leute, die sonst nichts haben. Ich bin irgendwann aufgebrochen. Ich sah mich als Teil einer Weltgemeinschaft der Künste. Wie weit bin ich damit gekommen? Es scheint so, als sei ich auf der Stelle getreten. Wieder fragt man mich nach der Herkunft, wieder bin ich als Vertreter einer bestimmten Gruppe gefragt, wieder wird meine Lebensgeschichte zur politischen Münze. ... Man muss die Identitäten zertrümmern. Das ist die Aufgabe der Künste." Dagegen meint Langhoff: "Es geht um Verflüssigung von Identität. Die Möglichkeit des Wechsels, der Gleichzeitigkeiten und der Vermischung: Nationalitäten, Religionen, Geschlechter und so weiter. Mit ihnen muss Gemeinschaft gemacht werden. Nicht durch den Rückgriff auf die Reinheit von Ethnie, Kultur und Nation."

Das dänische Nationalmuseum in Kopenhagen eröffnet am Freitag mit "Tyskland" eine große Ausstellung über Deutschland und die Deutschen. Das wird auch mal Zeit, meint im Interview mit der SZ der dänisch-deutsche Schriftsteller und Schauspieler Knud Romer, der die Eröffnungsrede geschrieben hat: "Ich versuche, den Dänen zu erklären: Ihr seid deutscher, als ihr glauben wollt. Was ist denn Dänemark? Wenn ein Schwede und ein Deutscher ein Kind kriegen, dann ist das ein Däne. Bevor die Nationalstaaten entstanden, waren das ja alles gleitende Übergänge. Wenn man in die Familiengeschichte vieler Dänen schaut, stößt man irgendwann auf Deutsche. Die sind eingewandert, die Handwerker im Mittelalter, dann mit dem Handel aus den Hansestädten, mit der Reformation. Auch in unserem Königshaus finden Sie deutsche Wurzeln. Jedes fünfte dänische Wort ist aus dem Deutschen entlehnt."

Johannes Nichelmann hat ein Buch über das Schweigen zwischen den Generationen nach dem Zusammenbruch der DDR geschrieben. Im Interview mit  Birgit Baumann vom Standard sagt er: "Mein Vater war drei Jahre lang bei den Grenzsoldaten und hat sich dort die Beine in den Bauch gestanden. Aber ich habe mir ausgemalt, er hat Schreckliches getan. Diese Art Kopfkino trug ich jahrelang mit mir herum. Er hat niemanden erschossen. Ich glaube, es wäre gut gewesen, ein Klima zu schaffen, in dem sich Menschen mit solchen Biografien trauen können, offen zu reden und zu reflektieren."

Gestern fand in Paris eine große Demonstration gegen Islamophobie statt. Noémie Madar von der jüdischen Studentenvereinigung Frankreichs erklärt in La Règle du Jeu, warum sie sich der Demo nicht angeschlossen hat: "Wir werden stets gegen Rassismus aufstehen, der sich gegen Muslime richtet, denn Frankreich ist eins und unteilbar, unsere Republik kann den Hass auf andere nicht akzeptieren, wir sind Erben einer Geschichte, die uns Pflichten auferlegt. Aber wir werden uns nicht jedem anschließen... Wir weigern uns, mit jenen zu gehen, die selbst Hass säen, jenen, die Kritik an Religion als verdammenswert bekämpfen, jenen, die vor einigen Jahren am 11. Januar wegen der Präsenz des israelischen Premierministers nicht mitgehen wollten. Wir stellen uns nicht an die Seite derjenigen, die Charlie Hebdo verleumdeten." Ach, und "übrigens waren wir gar nicht eingeladen". Hier der Libération-Bericht über die gestrige Demo.
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Politik

Der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva wurde nach einem sehr umstrittenen Korruptionsvorwurf der Prozess gemacht. Nun kam er aus dem Gefängnis frei, weil der Oberste Gerichtshof entschieden hat, dass Beschuldigte erst nach allen Instanzen ins Gefängnis gesteckt werden dürfen. Wiederum eine umstrittene Entscheidung, berichtet Niklas Franzen in der taz: "Viele Kriminelle, so Kritiker*innen, würden nun freikommen. Diejenigen, die sich teure Anwälte leisten können, würden durch Berufungsverfahren Haftstrafen verzögern. Ein Rückfall in die alten Zeiten der Straflosigkeit? Die Rechte schäumte nach der Entscheidung." Und doch, so Franzen, könnte dem amtierenden Rechtsextremisten Bolsonaro die Entscheidung nützen, weil ein starker Gegner wie Lula seine zerstrittenen Truppen wieder vereinen könnte. Franzen erläutert in einem zweiten Artikel den Korruptionsvorwuf gegen Lula. Und Bernd Pickert beleuchtet in einem Kommentar das Phänomen linker Caudillos in Lateinamerika.

Mitgliederbefragungen sind derzeit populär bei den deutschen Parteien. Aber sie verstärken die Politikverdrosssenheit, glaubt der Schriftsteller Hans Christoph Buch in der Welt: "Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, und das tief verunsicherte, notorisch unentschlossene Wahlvolk sehnt sich nach Führungspersönlichkeiten, die die Richtung vorgeben, und nicht nach Mitgliederbefragungen, die Teil des Problems und nicht dessen Lösung sind."
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Medien

Die FAZ hat jüngst ihren 70. Geburtstag gefeiert. Ihre ganze Geschichte hat sie dabei nicht erzählt: Wie etwa beim Spiegel oder der SZ gab es in den Anfangsjahren einige sehr einschlägige Ex-Nazis in der Redaktion, berichtet Klaus Wiegrefe im Spiegel, "etwa den Wirtschaftsexperten Hans Roeper, der es bis zum SA-Gruppenführer gebracht hatte, was dem Rang eines Generalleutnants entsprach. Der Verlagsmanager Viktor Muckel, Erfinder des Slogans 'Dahinter steckt immer ein kluger Kopf', hatte schon in den Zwanzigerjahren für Hitler getrommelt. Der Londonkorrespondent Heinz Höpfl hatte einst in der NSDAP-Zeitung Völkischer Beobachter über eine jüdische Weltverschwörung schwadroniert." Immerhin hat diese Zeitung jetzt dem Historiker Peter Hoeres ihre Archive geöffnet.

Vom Perlentaucher zunächst unbemerkt hat das neue Besitzerpaar Silke und Holger Friedrich ein ausuferndes Manifest in ihre Berliner Zeitung gestemmt, das wohl nur deshalb nicht für größeres Aufsehen sorgt, weil es so anstrengend zu lesen ist: In dem Manifest "geht es weniger um das Konzept einer modernen Zeitung (es sei denn, es besteht im Verzicht aufs Redigieren solcher Texte), sondern eher um alles: um Merkel, Putin, Europa, Halle, Pankow (die Band) und den Gödelschen Unvollständigkeitssatz", resümiert die FAS.

Die Verleger, feierlich: "Lassen Sie uns dankbar dafür sein, dass wir diesen Text straffrei schreiben und Sie diesen Text straffrei lesen dürfen. Diese Freiheit gilt es, in allen Dimensionen zu verteidigen."
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